Kapitel 31

Finns Perspektive

"Er hat ihre Augen, findest du nicht?", sagte Madita, als sie sich neben mich setzte und das erste Mal ihren Neffen sah. Sie gab sich sichtlich Mühe mir ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, doch wir beide wussten, dass heute kein Tag der Freude war.

"Ja", hauchte ich und strich meinem Sohn über die Wange.

"Hat er schon einen Namen?"

"Noch nicht ganz. Ilvi hatte unbedingt einen dänischen Namen gewollt. Er sollte entweder Mads oder Bent werden. Ich finde, er sieht aus wie ein Mads. Meinst du nicht?"

Sie sah zu ihm herab. Die Art wie sie ihn ansah erinnerte mich an Ilvi. Die Schwestern hatten die gleichen Augen und die gleichen Grübchen, die sich bildeten, wenn sie lächelten.

"Ja, Mads passt gut", stimmte sie mir zu und sah zu meinem Sohn. "Er sieht so friedlich aus."

Mein Sohn hatte die Augen geschlossen. Er wusste noch nicht, was heute Schreckliches geschehen war. Ich beneidete ihn um seine Unwissenheit. Doch sein ganzes Leben lang würde auch er vom heutigen Tag verfolgt werden. Denn er würde nie das Gefühl kennen, eine Mutter zu haben.

"Finn?"

"Hmm."
"Ilvi hat mir vor ein paar Wochen einen Brief gegeben." Mein Blick schnellte zu ihr nach oben. "Ich weiß nicht, was drin steht. Sie meinte nur, dass ich ihn dir geben soll, falls etwas passiert. Ich habe sie damals gefragt, was sie meint und sie hat nur gesagt: 'Du wirst schon wissen, falls es soweit ist'. Das war alles. Ich habe mir nicht so viel dabei gedacht, aber ich denke, dass dieser Brief genau für diesen Moment bestimmt ist."

Sie zog einen Umschlag aus ihrer Umhängetasche und gab ihn mir. Ihr Hände zitterten und erst jetzt merkte ich, wie sehr sie sich versuchte in meiner Anwesenheit zusammenzureißen.
Ich nahm den Umschlag entgegen.

Hatte ich die Kraft ihre letzte Nachricht an mich zu lesen?

"Ich lass dich mal allein", sprach sie sanft.

Ihr Blick war voller Schmerz.

"Nein, bleib bitte bei Mads. Ich kurz an die frische Luft."

"Natürlich", sagte sie sofort verständnisvoll. "Nimm dir alle Zeit, die du brauchst."

Ich gab Mads einen Kuss auf die Stirn und verließ dann das Zimmer.

Draußen schien unschuldig die Sonne, als wäre es ein schöner Tag. Ich setzte mich auf eine Parkbank. Um mich herum zwitscherten die Vögel, als wollten sie mir sagen, dass ich nicht so ein betrübtes Gesicht machen sollte.

Ich sah auf den Umschlag, der komplett unbeschriftet war. Ich hatte Angst den Brief zu lesen. Trotzdem zog ich den Zettel heraus. Ich erkannte ihre Handschrift sofort. Schon in der Schule hatte ich ihre filigrane, schwungvolle Schrift bewundert. Als wäre sie aus einem vergangenen Jahrhundert.

Es tut mir so leid, Finn.

Es gibt so vieles, was ich dir nicht gesagt habe. Ich hoffe, dass ich diesen Brief umsonst schreibe und Madita ihn dir nie geben muss. Falls doch, tut es mir so unendlich leid, denn es bedeutet, dass ich gestorben bin

Als ich im dritten Monat war, war ich bei meinem Kardiologen. Schon von Geburt an habe ich einen Herzfehler. Es wurde damals gut behandelt und ich konnte damit immer gut leben, doch eine Schwangerschaft bedeutet erheblichen Stress für meinen Körper. Der Arzt hat mir empfohlen abzutreiben... Das Risiko, dass es erhebliche Komplikationen bei der Schwangerschaft geben könnte, wäre zu groß. Mein Leben könnte in Gefahr sein. Doch er meinte auch, dass es dem Baby so weit gut geht. Und was wäre ich für eine Mutter, wenn ich mein gesundes Kind abtreibe? Ich habe das nicht übers Herz gebracht.

Ich konnte es einfach nicht. Ich konnte nicht abtreiben. Dieses Kind hat verdient zu leben.

Bis jetzt sieht es auch gut aus. Alle Kontrolluntersuchungen sagen, dass er kerngesund ist und das bestätigt mich in meiner Entscheidung. Er soll leben und mittlerweile weiß ich auch, dass er den besten Papa auf dieser Welt haben wird.

Wenn du das liest, heißt es, dass ich nicht mehr da bin. Es bricht mir das Herz, denn ich hätte sehr gerne gesehen, wie mein Sohn aufwächst. Aber ich weiß auch, dass du alles tun wirst, damit er das beste Leben haben wird, das er haben kann. Bitte sage ihm, wie sehr ich ihn liebe.

Es tut mir leid, dass ich dir nichts von alldem erzählt habe. Ich wollte nicht, dass du dir unnötig Sorgen machst. Bis zum Schluss habe ich gehofft, dass schon alles gut ausgehen wird. Denn die Chance, dass ich die Geburt gut überstehe, war definitiv da.

Finn, ich liebe dich! Und es tut mir so leid, dass du das jetzt allein durchstehen musst, aber ich weiß, dass du das kannst! Bitte sorge dafür, dass unser Sohn immer geliebt wird. Du bist stark. Es wird vielleicht nicht immer leicht werden, aber ich weiß, dass du das kannst!

Vergiss mich nicht!

Ich liebe dich, Finn ♥

Deine Ilvi

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