Kapitel 28

Finns Perspektive

"Atme, so wie du es im Kurs gelernt hast."

Ilvi war blass und bei jeder Wehe konnte man sehen, wie sehr sie gegen die Schmerzen ankämpfte. Warum hatte sich die Natur etwas so Grausames ausgedacht? Warum mussten Frauen die schlimmsten Schmerzen durchstehen, um ein Kind zu gebären?

Ich nahm ihre Hand, die eiskalt war. Fest drückte sie meine.

"Denke immer daran, wofür du das machst", sprach ich ihr zu. "Bald haben wir einen kleinen Sohn."

Sie nickte tapfer.

"Es geht schon wieder."

Ich sah, wie sich ihre Atmung wieder beruhigte. Wir saßen im Auto vor dem Krankenhaus. Die letzten Wochen hatte Ilvi schon in Deutschland verbracht. Sie hatte unseren Sohn unbedingt in Deutschland zur Welt bringen wollen. Erst letzte Woche war ich nachgekommen.
"Bist du bereit?", fragte ich sie.

Sie drehte ihren Kopf in meine Richtung und lächelte. Es erleichterte mich, dass sie es noch schaffte, ihre Mundwinkel zu heben.

"Nein. Aber kann man sich überhaupt bereit fühlen, einen kleinen Menschen aus sich hinauszupressen?"

Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange.

"Du packst das schon." Sie nickte, doch ich konnte die Angst in ihrem Blick sehen. "Hey", sprach ich sanft und nahm sie in den Arm. "Es wird alles gut. Morgen um die Uhrzeit, können wir unseren Sohn schon in den Händen halten."

Ich legte meine Hand auf ihren Bauch, der in den letzten Wochen riesig geworden war. Dann verzog sie wieder das Gesicht vor Schmerzen. Ihr Körper krümmte sich und ihre Atmung wurde lauter. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn.

"Oh Gott", hauchte sie. "Ich brauche wirklich einen Arzt. Mein Herz rast. Ich glaube nicht, dass das normal ist."

"Okay", versuchte ich ruhig zu sprechen, auch wenn ich mich innerlich hilflos fühlte. Ich wünschte, ich könnte ihr in irgendeiner Form die Schmerzen abnehmen. Ich stieg aus dem Auto aus und ging um das Fahrzeug herum. Als ich auf ihrer Seite ankam, schien die Wehe wieder abgeschwächt zu sein, doch Ilvi wirkte schwach - fast schon benommen.

"Komm, gib mir deine Hand!"

Ich half ihr aus dem Auto und stellte fest, dass sie Probleme hatte, sich auf den Beinen zu halten. Ich begann mir ernsthaft Sorgen zu machen, doch ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen. Ich wollte sie nicht noch mehr verunsichern.

"Nur ein paar Schritte. Schau, die Notaufnahme ist gleich hier."

Ich trug sie mehr, als dass sie eigenständig lief.

"Es tut mir leid", sagte Ilvi kaum hörbar, während wir die Schwelle zur Notaufnahme überschritten.

Irritiert sah ich sie an.
"Was tut dir denn leid?"

Tränen liefen über ihr Gesicht, doch sie sagte nichts. Stattdessen kam ein Arzt zu uns. Wir hatten uns bereits telefonisch angekündigt.

"Frau Henderson, richtig?"

Ilvi nickte.

"Ja, es geht mir nicht gut."

Der Arzt setzte ein Lächeln auf, welches Zuversicht und Gelassenheit ausstrahlte.

"Das ist ganz normal", sprach er. "Meine Kollegin kommt gleich mit einem Rollstuhl und dann bringen wir Sie auf Station. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung."
Ilvi schüttelte den Kopf.

"Doch, ich habe eine Aortenisthmusstenose. Bei dem Kind waren aber alle Untersuchung unauffällig. Bei mir eigentlich auch, aber mein Herz fühlt sich gerade anders an als sonst. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber etwas stimmt nicht." Die Mimik des Arztes änderte sich schlagartig und sofort breitete sich Panik in mir aus. Was hatte das zu bedeuten? Hilfesuchend sah ich zu Ilvi, die jedoch meinen Blick mied. "Ich habe meine Krankenakte mit", redet Ilvi weiter und zeigte auf die Reisetasche, die ich trug. Dann sah sie mich an. Ich konnte ihren Blick nicht ganz einordnen. In jedem Fall war da viel Verunsicherung. "Kannst du die bitte rausholen? Sie liegt oben drauf?"

Perplex befolgte ich ihre Bitte und fragte mich gleichzeitig, was hier gerade geschah. Warum schaute der Arzt so, als müsste ich ernsthaft Angst haben?
Ich reichte ihm die Papiere. Dann kam eine Krankenschwester mit einem Rollstuhl. Ich half Ilvi beim Hinsetzen. Dabei entging mir nicht, wie kraftlos sie war.

"Ilvi, was hat das zu bedeuten? Du hast doch gesagt, dass alles okay ist."

"Ja", hauchte sie. "Mit dem Baby ist auch alles in Ordnung."

"Und mit dir?"

Ihre Lippen blieben verschlossen.

"Ilvi", flehte ich förmlich nach Informationen. Sie senkte ihren Kopf und murmelte dann ein "Es wird schon alles gut werden."

Ihr Gesichtsausdruck sagte etwas anderes.

"Bringen Sie sie bitte sofort in den Kreißsaal. Ich bin gleich da", sagte der Arzt nun streng.

Noch immer verstand ich nicht, was vor sich ging. Ilvi sackte derweil immer mehr im Stuhl ein.

Ich wollte wissen, was hier los war, doch es war der falsche Zeitpunkt, um Ilvi auszufragen. Also küsste ich sie liebevoll auf die Stirn.

"Es wird alles gut, hörst du?"

Sie deutete nur noch ein Nicken an. Ihren Augenlider hingen tief. Dann brachte man sie fort.

"Kommen Sie mit! Ich zeige Ihnen den Wartebereich auf der Entbindungsstation", sagte man zu mir. Ich nahm kaum noch etwas wahr. Stattdessen fragte ich mich, was hier vor sich ging. Was war diese Krankheit, von der sie gesprochen hatte? Ging es dabei um ihren Herzfehler? Sie hatte immer gesagt, dass das Baby gesund sei. Auch eben hatte sie das beteuert. Doch was war mit ihr? Was für Risiken gab es für sie? Sie hatte nie darüber gesprochen und deshalb war ich davon ausgegangen, dass alles in Ordnung war. Doch so sicher war ich mir mit einem Mal nicht mehr.

"Ich will mit ihr mitgehen!", forderte ich. "Ich will bei ihr sein!"

Doch der Pfleger schüttelte den Kopf.

"Das geht leider nicht. Aber glauben Sie mir: Sie ist in besten Händen", sagte er mit einem aufmunternden Lächeln.

Ich schluckte schwer. Warum hatte sie mir nichts gesagt? Sie hatte ganz offensichtlich gewusst, dass etwas nicht stimmte.

"Wissen Sie, was mit ihr ist?"

Er schüttelte mitfühlend den Kopf.

"Nein, aber wir werden Sie informieren, sobald wir mehr Informationen haben."
"Ich kann wirklich nicht mit in den Kreißsaal?"

"Nein, in dem Fall leider nicht." Ich spürte, dass er gerne etwas für mich tun wollte, um mich besser fühlen zu lassen. Doch es gab nichts. Das einzige, was mich jetzt beruhigen konnte, war die Gewissheit, dass es Ilvi und meinem Sohn gut ging. "Ich halte Sie auf dem Laufenden, sobald ich mehr Informationen habe."

Das bedeutete quälendes Warten.

"Danke", sagte ich trotzdem.

Dann verschwand er und ließ mich mit all meinen Ängsten allein. Nervös wippte ich mit meinem Bein. In meinem Kopf ging ich alle Szenarien durch, die eintreten könnten. Doch an manche Möglichkeiten konnte ich nicht einmal denken.

Warum hatte Ilvi mir nichts gesagt? Ich dachte, wir wären an einem Punkt angekommen, an dem wir uns vertrauten.

"Finn!"

Ich sah auf. Frida kam zu mir gehastet. Es tat so gut sie zu sehen. Ilvi hatte ihr noch zuhause geschrieben, dass wir jetzt ins Krankenhaus fahren würden.

"Wie geht es Ilvi? Wieso bist du überhaupt hier und nicht bei ihr?"

Sie setzte sich neben mich und reichte mir ungefragt eine Wasserflasche.

"Ich weiß es nicht", sagte ich und ich war mir sicher, dass sie die Verzweiflung in meiner Stimme hören konnte. "Es ging ihr nicht gut, als wir hier ankamen. Noch im Auto meinte sie, dass ihr Herz rast. Und dann kamen wir an und sie hat irgendeine Krankheit gesagt und das hat den Arzt alarmiert und sie haben sie sofort weggebracht und jetzt sitze ich hier und weiß gar nicht, was los ist." Auch Frida stand nun die Angst ins Gesicht geschrieben. "Du weißt mehr, oder?", fragte ich sie und hoffte, dass sie mir ein paar Antworten geben konnte.

"Nicht viel", gab sie zu und seufzte. "Ich weiß, dass sie als Baby mit dem Herzen zu tun hatte. Es wurde aber damals operiert und seitdem lebt sie ganz normal. Es gab nie wieder Probleme. Zumindest soweit ich weiß. Aber ich habe ihre Krankheit gegooglet. Sie hat eine Aortenisthmusstenose und das geht mit einem enormen Risiko bei Schwangerschaften einher."
Sie sprach das aus, was ich befürchtet hat. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken.

"Warum hast du nichts gesagt?"

Sie zuckte mit den Schultern.

"Weil ich es auch nur durch Google weiß. Ich kenne ihre Situation nicht. Sie hat mit mir auch nicht darüber gesprochen. Mit Sicherheit weiß ich es daher auch nicht."

"Frida, ich habe solche Angst um sie. Sie sah vorhin wirklich nicht gut aus und was vermutlich noch schlimmer ist: Selbst der Arzt sah ernsthaft besorgt aus."

"Es wird schon gut werden. Sie ist eine Kämpferin. Sie wird das schon packen."

Ich wollte die Frage 'Und was, wenn nicht?' nicht aussprechen, doch sie schwirrte mir durch den Kopf. Genauso, wie die Frage, warum sie es mir nicht erzählt hatte. Doch den Vorwurf musste ich mir vermutlich selber machen. Wer konnte es ihr schon verübeln, dass sie mir nicht zu 100% vertraute, wenn ich sie damals doch fast hatte sterben lassen?

Ich hatte mich so auf diesen Tag gefreut. Endlich würde ich mein Kind in den Armen halten können. Doch plötzlich befand ich mich in einem Alptraum. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top