Kapitel 22

Ich saß am Esstisch meiner Eltern und starrte auf meine Geburtstagstorte. Wie auch schon in den 32 Jahren davor war es eine Benjamin Blümchen Torte. Heute konnte ich mich nicht darüber freuen. Ich konnte nur noch an das Streitgespräch mit Finn denken.

"Schatz, warum schaust die ganze Zeit wie so ein begossener Pudel? Ist es weil du morgen früh schon wieder nach Hause fliegst?"

"Nein", murrte ich. Mir war nicht nach Reden zumute.

"Ist gestern Abend noch etwas passiert?"

Ich schüttelte geistesabwesend den Kopf.
Ich hatte mir so sehr vorgenommen, es Finn endlich zu erzählen. Es sollte endlich raus sein. Doch nun hatte ich es wieder nicht geschafft. Und ich fühlte mich schlechter denn je.

"Nein, alles in Ordnung", log ich.

Mein Telefon vibrierte. Es war Ruben. Er rief schon zum fünften Mal an. Wahrscheinlich hatte Finn bei ihm schon sein Herz ausgeschüttet.

"Warum gehst du denn nicht ran?", fragte meine Schwester, die auf dem Display ebenfalls den Namen des Anrufers gesehen hat.

"Später."
"Warum? Er will dir doch sicherlich nur gratulieren. Es ist dein Geburtstag!"
"Ja, aber jetzt essen wir erst einmal Kuchen und danach rufe ich ihn zurück."

Das Handy verstummte. Nur um fünf Sekunden wieder zu klingen.

Bevor ich reagieren konnte, hatte Madita mein Telefon geschnappt und den Anruf angenommen.

"Hey Ruben, Ilvi sitzt neben mir und hat gerade Kuchen auf eine höhere Priorität als dich gesetzt." Sie lächelte, während sie das sagte, doch plötzlich erstarb dieses. Meine Schwester wurde todernst, was ich in der Form noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Aufmerksam schien sie rubens Worten zu lauschen.

Ich spürte, dass etwas nicht stimmte.

"Okay", sagte sie. "Ich geb sie dir." Dann reichte sie mir das Handy. "Es geht nicht um deinen Geburtstag. Du solltest wirklich mit ihm reden."

Ihr Tonfall war so bedrückt, dass ich wusste, dass das nichts mit Finn zu tun hatte. Ich riss ihr mein Handy aus der Hand.

"Ruben, was ist passiert?"

"Frida", ertönte seine zitternde Stimme. "Sie hatte einen Unfall. Sie ist im St. Hedwigs Krankenhaus. Sie wird gerade operiert. Ich weiß, es ist dein Geburtstag, aber kannst du trotzdem herkommen?"

Ich zögerte keine Sekunde und war schon vom Stuhl aufgesprungen.
"Ich bin schon unterwegs", ließ ich Ruben wissen. "Wie geht es ihr?"

"Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie gerade operiert wird. Bitte komm so schnell wie möglich."

"Ja, ich geb mein Bestes!"

"Danke"

Er legte auf.

Dann wandte ich mich an meine Familie. "Kann mich jemand schnell ins St. Hedwigs Krankenhaus fahren? Frida hatte einen Unfall."

Sofort änderte sich die Atmosphäre im Raum. Alle Gesichter wurden ernst und besorgt.

"Natürlich", sagte mein Vater sofort. "Weißt du etwas über ihren Zustand?"
Eine Sorge von noch nie gekannten Ausmaß breitete sich in mir aus.

"Nein, ich weiß gar nichts. Deshalb muss ich auch sofort hin."

Auch Papa war mittlerweile aufgestanden und mir in den Flur gefolgt. Er griff nach den Autoschlüssel, während ich schon zur Tür raus war.

Wie schlimm stand es um sie? War Olivia beim Unfall dabei gewesen? Was war es überhaupt für ein Unfall gewesen? Hatte sie ein Auto erfasst? War sie von einer Leiter gefallen? Vom Fahrrad gefallen? Es konnte alles sein. Ruben hätte mir doch sicher erzählt, falls Olivia auch betroffen wäre, oder? Oder hatte er es bewusst verschwiegen, weil er mir die Wahrheit persönlich sagen wollte? War das der eigentliche Grund, warum ich ins Krankenhaus kommen sollte? Oh Gott, ich hielt die Ungewissheit nicht aus.

"Es wird schon gut werden", sagte Papa, als er sich hinters Steuer setzte und den Motor startete.

"Und wenn nicht? Was ist, wenn sie stirbt? Sie hat eine Tochter!"
Zumindest hoffte ich, dass Olivia unbeschadet war. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass auch sie Schaden genommen hatte.

"Bleib optimistisch. Es bringt dir nichts, wenn du jetzt vom Schlimmsten ausgehst."
Ich begann an meinen Nägeln zu knabbern. Die Strecke von 5 km kam mir wie eine Ewigkeit vor. Häuser zogen schemenhaft an mir vorbei. Über mir war der blaue Himmel, doch er war so erdrückend wie noch nie zuvor.

Dann hielt Papa endlich das Auto an und ließ mich bei der Notaufnahme raus.
"Ich parke schnell und dann komme ich nach, okay?"

"Ist schon okay, Papa. Ruben ist da. Fahr ruhig nach Hause."

"Sicher?"

"Ja."
"Okay, wenn du mich brauchst oder ich dich abholen soll, dann ruf einfach an. Ja?"

"Danke, Papa."

Dann sprang ich aus dem Auto und lief in die Notaufnahme.

Ruben stand direkt hinter der Schiebetür im Eingangsbereich, sodass ich ihn sofort sah.
"Wie geht es ihr?", rief ich schon von Weitem.

Ruben sah schlecht aus. Blass und angespannt.

"Sie ist noch immer im OP. Ich weiß nichts Genaues."

"Aber was ist passiert?"

"Ein Auto hat sie angefahren. Sie haben mich angerufen, weil ich zuletzt mit ihr telefoniert habe. Und sie mich mit einem Herzen hinterm Namen eingespeichert, weshalb sie dachten, ich wäre ihr Partner."
"Was ist mit Olivia? War sie auch dabei?"
"Nein, sie ist in der Kita. Frida war wohl gerade auf dem Weg sie abzuholen und die Kita schließt in 10 Minuten. Ich habe dort schon angerufen. Sie wissen, dass ich ein bisschen später komme, aber ich muss jetzt los, um sie abzuholen. Du hältst hier die Stellung und rufst mich an, sobald es irgendwas Neues gibt. Ich werde mit Olivia nicht herkommen, sondern sie bei Matteo abgeben. Den vergöttert sie eh. Ich hoffe, dass wir schnell mehr wissen. Ich komme danach zurück, okay?"

ruben war organisiert wie immer. Er schien zu wissen, was zu tun war.

Dann umarmte Ruben mich.
"Du musst stark sein und an Frida glauben. Sie ist eine Kämpferin. Sie wird das schon packen, okay?"

"Okay", murmelte ich verängstigt.

Dann gab er mir einen Kuss auf die Wange.
"Gut, ich muss los. Ruf mich an, sobald du irgendwelchen neuen Infos hast, ja?"

Ich nickte, dann drehte er sich um. In dem Moment kam Finn hinein gestürmt. Er und Ruben tauschten nur kurz Blicke aus.

"Ruben, was ist passiert?", fragte er ähnlich verzweifelt wie ich.

"Gut, dass du auch kommen konntest. Ich muss los, Ilvi erzählt dir alles", sagte er hastig.

Er klopfte ihm brüderlich auf die Schulter und hastete dann nach draußen.

Finns und mein Blick trafen sich. Wir beide beschlossen innerlich, dass es jetzt etwas Wichtigeres gab, als unsere Streitigkeiten.

"Sie wurde vom Auto angefahren", berichtete ich. "Wir wissen, dass sie im OP ist. Mehr nicht. Keine Details zu ihren Verletzungen. Ich bin auch gerade erst angekommen. Ruben holt Olivia vom Kindergarten ab, bringt sie zu Matteo und kommt dann wieder."

Finn sog die Informationen wie ein Schwamm auf.

"Scheiße", fluchte er verbittert.

"Ja, wir können nichts tun, außer hier zu warten."

Wir standen uns gegenüber, als wären wir Fremde. Keiner wusste, was er sagen sollte.
"Willst du einen Kaffee?", durchbrach er schließlich die Stille.
Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, ich versuche kein Koffein zu trinken."
Ich sah ihm, dass ihm jetzt erst wieder einfiel, dass ich schwanger war.

"Sorry, ein Tee oder ein Saft?"

"Nein, danke."

Er nickte angespannt.

"Wollen wir uns setzen?"

Er zeigte auf den Wartebereich, wo Menschen mit mit provisorisch bandagierten Gliedmaßen saßen und Angehörige, die ähnlich besorgt waren wie wir.

"Hmm."

Wir setzten uns auf die Metallbänke mit schwarzen Kunstlederbezug. Er als auch ich starrten zu Boden. Mein Kopf war so leer und gleichzeitig doch viel zu voll.

"Es tut mir leid, dass ich dich ausgerechnet an deinem Geburtstag so einem Stress ausgesetzt habe. Manchmal vergesse ich, dass du schwanger bist und sich alles auch auf das Kind auswirkt."
Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung. Er war so hübsch. Selbst jetzt, wo er so fertig war. Seine dunkelblonde Haare waren verwuschelt, die Augen müde.

"Basti hat das Foto an Maddie geschickt", sprach ich ruhig. "Das Foto lag in einem Buch, dass ich beim Auszug zurückgelassen hatte. Er muss es gefunden haben und aus Rache an Maddie geschickt haben. Du kannst mir vorwerfen, dass ich das Foto behalten habe. Aber ich habe es nicht Maddie geschickt. Glaube, was immer du magst, aber das ist die Wahrheit."

Er hielt meinem Blick stand.

"Du warst es nicht?"
"Nein, Finn. Das habe ich dir auch schon mehrfach gesagt. Ich würde so etwas niemals tun."

Er ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und sah zu den Neonlampen an der Decke. Laut seufzte er.

"Ich habe es verbockt." Er sah wieder zu mir. "Ilvi, es tut mir so leid. Ich war einfach so wütend, weil es rausgekommen ist."
"Und du hast es an mir ausgelassen!"
"Ja", stimmte er schuldig zu.

"Ich bin ein Idiot. Es tut mir so leid." Er seufzte laut und ballte seine Fäuste. "Dieser Tag ist einfach nur beschissen."

"Amen", stimmte ich zu.

Der Tag, der eigentlich der schönste im Jahr für mich sein sollte, war zum schlimmsten geworden.

"Kannst du mir verzeihen?"

"Natürlich", sprach ich sanft. Finn und ich waren zu sehr verbunden, um diese Freundschaft leichtfertig aufzugeben. "Aber ich will eine Antwort von dir haben."

Das war mein Moment.
"Okay, kein Problem. Was ist die Frage?"
Der Tag war eh schon verkorkst. Jetzt war auch alles egal.

"Ich habe in dem Buch, das ich bei Basti zurückgelassen haben, nicht nur das Kussfoto versteckt, sondern auch den Brief." Finn sah plötzlich so aus, als würde er gleich ohnmächtig zur Seite wegkippen. Er wusste ganz genau, von welchem Brief ich sprach. "Du weißt, welchen Brief ich meine", sprach ich weiter. Schweißperlen entstanden auf seiner Stirn. "Finn, was hatte es mit diesem Brief auf sich? Was ist in der Nacht damals passiert? Wo warst du? Warum hast du diesen Brief danach nie wieder angesprochen?"

da waren so viele Fragen die ich mich noch nie getraut hatte, sie offen zu stellen.

Auf einmal konnte Finn nicht mehr in meine Richtung sehen.

"Das ist aber mehr als eine Frage", versuchte er vom Thema abzulenken.
"Bitte gib mir Antworten! Ich hätte sie schon vor vielen Jahren verdient, meinst du nicht?"
Er starrte auf den blauen PVC-Boden.

"Ilvi, das ist doch schon so lange her."
"Ernsthaft?", fragte ich sauer. "Du bist mir auch schon sehr lange Antworten schuldig."

"Ich weiß", flüsterte er kaum hörbar. "Aber manchmal ist es besser, wenn man bestimmte Dinge nicht weiß."

Was sollte das bedeuten?
"Ich muss es wissen! Bitte, Finn! Was ist damals passiert und wie viel hast du mitbekommen?"

Ich sah, wie eine Träne auf den Boden tropfte. Damit hatte ich nicht gerechnet.

"Du wirklich die Wahrheit wissen?", fragte er und zeigte mir sein Gesicht, über das Tränen kullerten.

Was war damals nur passiert, dass er so reagierte? Auch wenn ich Angst bekam, war meine Neugierde deutlich größer. Ich musste wissen, was er all die Jahre vor mir verheimlicht hatte.

"Ja", antwortete ich entschlossen. "Ich will jedes Detail wissen."

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