Kapitel 19
Das Catering hatte soeben die Getränke und die Häppchen geliefert. Unsere Praktikantin hatte den Sitzungssaal eingedeckt und die Präsentation war startklar. Eigentlich gab es keinen Grund zur Unruhe mehr und doch konnte ich nicht still sitzen bleiben.
Mein Chef und drei seiner Kollegen würden zu Besuch kommen. Sie wollten sich ein Bild der Lage machen. Die Chefetage wollte sehen, ob es sich gelohnt hatte, Sven und mich nach Kopenhagen zu versetzen.
Im Anschluss stand die Besichtigung einer Fabrikhalle auf dem Plan, um zu überprüfen, ob diese für uns infrage kam. Es war für Schokoladenhersteller nicht üblich in Skandinavien zu produzieren, da sich die Preise in Dimensionen bewegten, die jenseits von Gut und Böse waren. Allein die Personalkosten sprengten für gewöhnlich den Rahmen. Für einen dänischen Mitarbeiten konnte man vermutlich hundert Kinder in Bangladesh anstellen. Doch unser Chef war anders. Er wollte regional produzieren und es zumindest mal durchgerechnet haben, ob es sich lohnen könnte, auch hier ein Werk zu haben.
Die Fahrstuhltür ging auf. Ich zog ein letztes Mal meinen Rock zurecht. Mittlerweile bildete ich mir schon ein, einen Minibauch zu haben, doch laut Aussage meiner Cousine war dem noch nicht der Fall.
Lennard lief wie zu erwarten vorne weg. Er trug eine beige Cordhose und ein weißes Hemd. Auch wenn er unser oberster Chef war, hatte ich ihn, abgesehen von der Weihnachtsfeier, noch nie in einem Anzug gesehen.
Ich setzte mein freundlichstes Lächeln auf, welches jedoch sofort erstarb, als ich sah, wer hinter ihm lief.
Was tat er hier?
Alle Muskeln in meinem Körper spannten sich an, als müsste ich jetzt bei den olympischen Spielen einen Rekord im Gewichtheben brechen.
"Ilvi, schön dich zu sehen. Wie man hört, läuft das Büro in Kopenhagen hervorragend!", begrüßte mich mein Chef.
"Hallo Lennard, auch schön euch zu sehen!", kam es automatisch über meine Lippen. Meine Augen hatte ich auf etwas ganz anderes gerichtet.
Ich blickte hinter ihn, wo ich mit Finn Blicke austauschte.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Wieso war er in Kopenhagen?
"Wie angekündigt sind Ulf und Thomas mit dabei. Finn ist spontan für Clemens eingesprungen", gab Lennard mir eine Antwort, auf die Frage, die bis jetzt nur in meinem Kopf umhergeschwirrt war. "Clemens hat sich gestern beim Handball das Kreuzband gerissen."
Finn lächelte mich an, doch er schien mein Entsetzen zu spüren. Dazu musste man auch nicht Sherlock Holmes sein. Mein Mund stand offen und meine Augen so groß wie Golfbälle. Normalerweise würde ich mich freuen Finn zu sehen, doch im Moment war ich im puren Schock.
Ich sah ihm an, wie er mich mit seinem Blick fragte: Was ist los? Warum freust du dich nicht? Ich dachte, das wäre eine tolle Überraschung.
"Alles gut bei dir, Ilvi?", erkundigte sich Lennard besorgt.
Ich nickte mit einem gequälten Lächeln.
"Ja, alles super. Ich hoffe, Clemens geht es den Umständen entsprechend gut?", versuchte ich mich unter dem strengen Blick von Finn zu sammeln.
"Der wird schon schon wieder", entgegnete Lennard locker.
"Das hoffe ich auch", stimmte ich zu. "Kommt doch mit in den Konferenzraum. Da erwartet euch auch schon eine kleine Stärkung."
Ich schaffte es kaum, mich auf die Präsentation zu konzentrieren. Finns Anwesenheit machte mich wahnsinnig. Es fühlte sich fast so an, als könnte er spüren, dass das etwas in mir wuchs, das von ihm war.
Schaute er auf meinen Bauch? Ich wurde das Gefühl nicht los.
"Es tut mir leid, ich würde wirklich gerne mit euch Mittagspause machen, aber meine Tochter hat heute Geburtstag und wenn ich schon nicht da sein kann, will ich wenigstens mit ihr facetimen", entschuldigte sich Lennard nach dem Meeting. "Wir sehen uns in einer Stunde unten vorm Eingang, damit wir zusammen zur Fabrik fahren, okay?"
Wir übrig geblieben Vier nickten und sahen uns an.
"Also Ulf und ich wollten gerne zum Nyhavn und uns den ansehen. Wir waren noch nie in Kopenhagen. Wollt ihr mitkommen?", fragte Thomas, den ich bisher nur vom sehen gekannt hatte. Von ihm wusste ich nur, dass er bei der Finance arbeitete.
Finn und ich tauschten Blicke aus. Uns war beiden klar, dass wir die Mittagspause nicht mit unseren Kollegen verbringen wollten.
"Wir machen lieber einen kleinen Spaziergang", antwortete Finn für mich.
Und so trennten sich unsere Wege und wir waren nur noch zu zweit. Noch immer war mein Körper fest wie ein Stein und meine Knie trotzdem weich wie Pudding.
"Wir können ein bisschen am Wasser langlaufen", schlug ich vor.
Er nickte nachdenklich und ernst zugleich.
"Warum hast du vorhin so reagiert?", war seine erste Frage, als wir uns in Gang gesetzt hatten.
"Es war nur unerwartet. Ich hatte mit Clemens gerechnet."
Entschlossen schüttelte Finn den Kopf.
"Lüg mich bitte nicht an."
Nun blieb er stehen und sah mich ernst an. Wir waren gerade mal Schritte gegangen.
Seine blauen Augen hatten fast das gleiche Blau wie der Himmel hinter ihm.
"Ich weiß, dass du schwanger bist."
Ich war kurz davor einen Herzinfarkt zu erleiden. Er wusste es. Seit wann? Von wem? Warum hatte er nichts gesagt? Sofort wanderte meine Hand auf meinen Bauch.
All mein Blut sackte ab und ich hatte das Gefühl, dass ich mich nicht mehr lange auf den Beinen halten würde.
Finns starke Hände umfassten meine Oberarme.
"Hey, setz dich!", sprach er panisch, auch wenn er versuchte ruhig zu bleiben.
Er führte mich zu einer Parkbank, die nur ein paar Meter weiter stand. Vorsichtig setzte ich mich und schloss die Augen. Das machte es nur noch schlimmer, denn ich spürte sofort, wie ich zur Seite wegkippte und an Finns Schulter landete. Doch zumindest dort fand ich Halt.
"Du kannst mich noch hören, oder?", vernahm ich seine Stimme.
"Ja, aber ich bin zu schwach, die Augen zu öffnen.", nuschelte ich.
"Trink wenigstens einen Schluck." Ich blinzelte kurz und sah, wie er aus seiner Tasche eine Wasserflasche zog. "Wenigstens einen kleinen Schluck."
Er setzte die Flasche an meine Lippen und ich trank. Dann griff ich selbst nach der Flasche, um richtig zu trinken. Es war heute morgen so stressig gewesen, sodass ich tatsächlich noch nichts außer einen widerlichen Kräutertee getrunken hatte, der angeblich gegen meine Übelkeit helfen sollte.
Dann schloss ich meine Augen wieder und lehnte mich an Finn. Er legte seinen Arm um mich herum und streichelte meinen Oberarm. Es tat so gut diese Nähe zu ihm zu spüren und vor allem beruhigte es mich.
"Du weißt es also?", flüsterte ich.
"Ja."
"Woher?"
Ich war mir sicher, dass Ruben sich verplappert hatte. Er war auch der einzige, der wusste, dass Finn der Vater war.
"Deine Mutter."
Ich richtete mich schlagartig und deutlich zu schnell auf. Sofort hatte ich alle Wünsche der Welt frei, da vor meinem inneren Augen die Sternschnuppen wie ein Hagelsturm rasten.
"Meine Mutter?"
"Ja, ich habe sie in der Stadt getroffen und gefragt, wie es dir so geht. Da du nicht oft geschrieben hast, habe ich mir Sorgen gemacht. Und dann meinte sie, dass du schwanger bist." Er suchte meinen Blickkontakt. "Du hättest es mir doch gleich sagen können. Wir kennen uns schon so lange. Ich dachte, du wüsstest, dass ich immer für dich da bin. Gerade in dieser Situation, in der du jetzt bist."
Ich sah ihn an und versuchte in seinem Gesicht zu erkennen, ob er wusste, dass er der Vater war. Von meiner Mutter konnte er diese Information nicht direkt erhalten haben, doch wenn sie ihm gesagt hatte, dass Basti nicht der Vater war, konnte er sicherlich eins und eins zusammenzählen.
Finn Ausdruck war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Doch er hatte gesagt, dass ich jetzt in dieser Situation bin und nicht wir.
"Tut mir leid", sagte ich. "Es ist momentan nicht so einfach."
"Ist schon okay", sagte er mit sanfter Stimme. "Kannst du denn mit irgendeiner Unterstützung von Basti rechnen?"
Und da hatte ich meine Bestätigung. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass er der Vater sein könnte. Sein Vertrauen in Kondome musste sehr groß sein.
Ich sollte es ihm jetzt sagen. Doch ich öffnete meinen Mund und die Worte wollten einfach nicht rauskommen. Wie so oft in den letzten Wochen kamen wieder Tränen. Es stimmte, dass Schwangerschaftshormone einen emotional werden ließen.
"Tut mir leid", sagte Finn, der meine Antwort als ein "Nein" auf seine Frage interpretierte. "Sei wenigstens froh, dass du ihn jetzt los bist. Das Kind ist ohne ihn sicherlich auch besser dran."
Ilvi, sag es ihm!
"Finn, das mit Basti ist kompliziert", begann ich.
Es musste endlich raus.
"Oh jaa. War es das nicht schon immer?", stimmte Finn sofort in die Anti-Basti-Stimmung ein. "Selbst bevor er ins Ausland gegangen ist, war er kein einfacher Typ! Du verdienst was Besseres. Das habe ich damals auch schon gedacht."
Mir war nicht bewusst gewesen, dass Finn ihn noch nie gemocht hatte.
"Als wir uns kennengelernt haben, war er eigentlich echt süß", verteidigte ich Basti und wich vom Thema ab.
"Ja, aber nur bis er dich in der Kiste hatte."
Mit gerunzelter Stirn sah ich Finn.
"Stell mich doch nicht als naives Dummchen da, das sich von einem Kerl hat um den Finger wickeln lassen."
"So war das nicht gemeint", ruderte er sofort zurück. "Ich hatte einfach nur das Gefühl, dass seine Emotionen nicht so echt waren, wie deine."
Das könnte ich über seine Beziehung genauso sagen.
Ich sah auf meine Finger, wo die Nägel mittlerweile kurz geworden waren. Ich hatte mir in den letzten Wochen angewöhnt, auf ihnen herum zu knabbern und das Ergebnis war nicht mehr ästhetisch.
"Es geht dir wirklich nicht gut, oder?", fragte Finn, der meinem Blick gefolgt war.
Ich schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment befand ich mich auch schon in seiner Umarmung. Es war der schönste Ort auf dieser Welt. Warum konnte es nicht immer so sein? Finn war perfekt. Und vielleicht wäre unter anderen Umständen wirklich mal etwas aus uns geworden. Doch es war zu spät. Er hatte eine Frau an seiner Seite.
Er gab mir einen Kuss auf die Stirn.
"Es wird alles gut werden, Ilvi."
Wenn er nur wüsste.
Der Mut verließ mich ihm die Wahrheit zu sagen. Der Moment war zu schön. Ich wollte nicht, dass er sich von mir löste und das würde er gewiss tun, wenn er von seiner anstehenden Vaterschaft erfahren würde. Also kuschelte ich mich an ihn und genoss seine Zuneigung.
Ich dachte wieder an unseren Kuss und unsere gemeinsame Nacht. Es war das letzte Mal, als ich mich wirklich glücklich gefühlt hatte.
In diesem Moment wurde mir eines bewusst: Ich war verliebt.
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