Kapitel 15

"Ilvi, so richtig gut siehst du immer noch nicht aus", stellte Finn fest, als er mir in der Bar gegenüber saß. "Du bist richtig blass und irgendwie auch schmaler im Gesicht."

Kein Wunder. Das Zeitfenster, in dem mein Körper die Essensaufnahme zuließ, war jeden Abend von 20 bis 22 Uhr. Und selbst da war oft nicht mehr drin, als ein trockenes Brötchen und ein paar Nüsse. Um noch ein paar Vitamine zu bekommen, quälte ich mir meistens auch noch einen Smoothie rein.

"Und vor allem trinkst du nicht mal! Ist das wirklich eine Apfelschorle, die das vor dir steht?", fragte Ruben mit kritischem Blick auf mein Glas.
"Ja, es geht mir schon besser, aber ich bin immer noch ein bisschen geschwächt", antwortete ich in Richtung Finn.
Mein Arzt hatte mir homöopathische Mittel gegeben, die meine Übelkeit zumindest erträglicher machten.

"Offensichtlich bist du noch nicht fit", sagte Ruben. "Das letzte Mal, als du in einer Bar ein alkoholfreies Getränk bestellt hast, war, als du die Wette verloren hast, ob Nicolas Flamel auch ein reale Person war oder nicht. Und an dem Abend hast du die ganze Zeit gejammert, weil du nichts Hochprozentiges trinken dürftes."

"Lass sie doch", mischte sich Frida ein. "Man muss ja nicht erst krank sein, um keinen Alkohol zu trinken."

Ruben schielte zu seiner rechten Seite, wo Frida saß.
"Und das kommt ausgerechnet aus deinem Mund?"

Frida verschränkte die Arme, bereit zu kontern.

"Keine Sorge", sagte ich beschwichtigend. "Sobald ich wieder fit bin, können wir gern wieder mit einem frisch gezapften, kühlen Bier anstoßen."

Was dann wohl erst in 1,5 Jahren sein würde, denn auch während der Stillzeit würde ich nicht trinken können. Hatten Männer eigentlich eine Vorstellung, was eine Schwangerschaft für eine Frau wirklich bedeutete? Kein Alkohol, keine ungesunden Lebensmittel, kein intensiver Sport mehr, wenn die Kugel erst mal wie bei einem Hängebauchschein runter hing und vermutlich noch tausend andere Sachen, die ich noch nicht einmal bedacht hatte.

Ruben nippte an seinem Bier und sah mich kritisch an. Wir saßen in unserer Stammkneipe, in der es wie immer nach Frittierfett roch. Wie immer saßen wir am Tisch in der hintersten Ecke.

"Kümmert sich Basti wenigstens um dich?", hakte Ruben nach. Er sah so aus, als würde er die Antwort schon kennen.

Auch wenn ich Frida nicht sah, wusste ich, dass sie mich erwartungsvoll ansah. Sie hatte mich schon seit Tagen aufgefordert es endlich auch Ruben und Finn zu erzählen.

"Nein, wir sind nicht mehr zusammen", offenbarte ich die Wahrheit.
Ruben verschluckte sich spontan an seinem Bier und hustete laut drauf los. Offentlich hatte er nicht mit dieser Antwort gerechnet. Finn hielt kurz überrascht inne und klopfte dann seinem Kumpel auf den Rücken. Er wendete jedoch nicht den Blick von mir ab. Für einen kurzen Moment hielt wir den Blick des jeweils anderen Stand. Es war ein Moment der tiefen Verbundenheit, in dem ich spürte, dass Finn auch in schweren Zeiten für mich da sein würde.

Gleichzeitig fragte ich mich aber auch, ob Finn vermutete, dass Basit von unserer gemeinsamen Nacht Wind bekommen hatte.

Ruben schlug sich noch einmal kräftig auf die Brust, räusperte sich und fand dann wieder zur Ruhe. Sein Kopf war jedoch rot wie ein gekochter Hummer.

"Tschuldige", sagte er und wandte sich dann wieder mir interessiert zu. "Wer hat Schluss gemacht?"

"Er."

"ER?", kam es aus Finns und Rubens Mund gleichzeitig.

Das war dann wohl schon die zweite Überraschung an diesem Abend.

"Basti hat dich verlassen?", hakte Ruben sicherheitshalber noch einmal nach und ich nickte. "Ist das sein Ernst? Du gehst mit ihm durch dick und dünn, opferst dich für ihn auf und das ist der Dank? Spinnt er?"

Ich hatte Ruben selten so wütend gesehen. Das letzte Mal, als seine Schwiegermutter in Schwarz zu seiner Hochzeit kam und das war immerhin schon fünf Jahre her.

Ich wagte es nicht zu Finn zu sehen, denn er konnte zumindest vermuten, dass er der Trennungsgrund war.

"So einfach ist das nicht", versuchte ich Basti zu verteidigen, denn in dem Fall wurde er wirklich zu Unrecht verurteilt. Es war sein gutes Recht gewesen, Schluss zu machen.

"Doch", widersprach Ruben. "Sei einfach froh, dass du den Typen los bist. Du hast eh etwas besseres verdient. Offensichtlich weiß er dich gar nicht zu schätzen."

Damit hatte er vermutlich sogar Recht. Basti hatte mich nie mit dem Respekt behandelt, den ich verdient hatte. Doch im Moment hatte ich ganz andere Probleme. Ich sah nun doch zu Finn und es war ein kleiner Flashback, der durch seinen Anblick ausgelöst wurde. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie er mich küsste und berührte; aber auch wie mir schlecht wurde und mir schließlich gesagt wurde, dass ich schwanger sei.

Oh Finn, ich wünschte du wüsstest es! Und doch konnte ich es mir nicht einmal vorstellen, ihm zu sagen, was für Folgen diese Nacht gehabt hatte.

Ich ließ meinen Kopf hängen. Ich wusste noch keine Woche, dass ich schwanger war. So viel war noch ungewiss. Das einzige, dessen ich mir mittlerweile wirklich sicher war, war die Tatsache, dass ich es behalten würde.

Doch, ob ich Finn erzählen sollte, dass es von ihm war oder gar wann ich es ihm sagen sollte, waren Fragen, auf die ich noch keine Antwort hatte. Ich könnte Finn auch einfach erzählen, dass das Kind von Basti ist und er würde es mir vermutlich sogar glauben.

Im Moment war einfach alles zu viel.

"Entschuldigt mich. Ich muss kurz für kleine Mädchen", sagte ich knapp, weil ich spürte, wie plötzlich Tränen die Flucht aus meinen Augen planten. Ich wollte nicht, dass Finn mich so sah.

Ich erhob mich und lief zu den Damentoiletten.

Ich brauchte eine Sekunde, um einmal durchzuatmen. Finns Anwesenheit schien mir sämtlichen Sauerstoff zu nehmen.

Ich beugte mich über das Waschbecken und befeuchtete meine Wangen ein wenig. Sie glühten wie der Krater eines Vulkans.

Dann schwang die Klotür auf und Frida kam rein. Sie stellte sich neben mich und sah mich über den Spiegel an.
"Alles okay bei dir?", erkundigte sie sich.

Ich sah zu ihr auf und versuchte ihr meine innere Zerrissenheit nicht zu zeigen.
"Ja, nur ein bisschen schwach. Die Übelkeit ist zwar besser, aber der Appetit ist noch nicht zurück. Ich sollte mehr essen. Dann wäre ich vermutlich auch fitter."
Frida seufzte.

"Warum hast du es den Männern nicht gesagt? Sie lieben dich doch genauso wie ich. Keiner wird dich verurteilen. Im Gegenteil. Es wird dir gut tun, mit ihnen darüber zu sprechen."

Ich schüttelte den Kopf.

"Ich kann nicht", sagte ich ehrlich. "Wirklich. Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit, um das mit mir selbst auszumachen. es hat mich schon echt Überwindung gekostet, es dir zu sagen."

Frida tätschelte meinen Rücken.
"Wie du meinst, aber zögere es nicht zu lange hinaus. Die beiden werden dich unterstützen, wo es nur geht."

"Ich weiß."

Dann nahm ich Fridas Hand und wir ging gemeinsam zum Tisch zurück. Ich spürte, wie Finns Blick auf mir lag. Er sah mich auf eine Art und Weise an, die ich nicht einordnen konnte. War es Sorge? Mitgefühl? Oder die Frage, ob er am Beziehungs-Aus mit Basti Schuld war.

"Ich habe euch noch etwas zu sagen", sprach ich, als ich wieder auf dem gepolsterten Stuhl Platz nahm.

"Schieß los", sagte Ruben neugierig.

Ich atmete tief ein.
"Ich habe das Angebot in Kopenhagen angenommen."

Fridas Blick schnellte in meine Richtung. Selbst ihr hatte ich noch nicht von dieser Neuigkeit erzählt.
"Das ist ja wunderbar", freute sich Ruben und prostete mir zu. "Das ist ein super Sprungbrett! Ich bin echt stolz auf dich, dass du diesen Schritt wagst! Glaube mir, das ist die richtige Entscheidung!"

Ich sah zu Finn, der sich ein Lächeln aufzwang.

"Ich freue mich auch", sprach er. "Aber es macht mich mindestens genauso traurig, dass wir uns dann nicht mehr so oft sehen können."

Tatsächlich war genau das der Grund, warum ich das Angebot angenommen hatte. Ich brauchte Abstand. Zu allem und zu jedem. Mein Leben würde sich eh um 100 Grad drehen. Warum dann nicht einen Neuanfang in einer neuen Stadt versuchen?

"Wirklich?", erklang die ungläubige Stimme von Frida. Sie sah mich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verwirrtheit an. "Bist du dir sicher, dass das die richtige Entscheidung ist?", sprach sie eindringlich.

"Ja, ich denke schon", versuchte ich selbstbewusst zu klingen.

"Frida, warum so kritisch?", fuhr Ruben sie an. "So eine Chance bekommt nicht so oft im Leben. Es ist doch gut, dass sie sich ausprobiert und jetzt ist doch der beste Zeitpunkt dafür. Sie ist frei, kann dort nette Dänen kennenlernen und einfach mal wieder unbeschwert sein."
Frida presste ihre Lippen zusammen. Ich wusste ganz genau, dass sie etwas sagen wollte, was sie nicht laut aussprechen konnte, weil sie mich sonst enttarnen würde.

"Wann soll es denn losgehen?", fragte Finn und sah immer noch aus, als hätte man ihm erzählt, dass seine Lieblingsschokolade nicht mehr produziert wird.
"Schon in zwei Wochen."

Überrascht zog er die Augenbrauen hoch.
"Das ist aber schon sehr bald."

"Ich weiß, aber so weit ist es ja nicht weg. Ihr könnt mich jederzeit besuchen. Ich habe ein großes Apartment mit einer Schlafcouch."

Frida schüttelte missbilligend den Kopf.

"Können wir noch einmal reden?", schoss es aus ihr heraus. Sie zeigte in Richtung Damentoilette.

Ruben und Finn tauschten irritierte Blicke aus, während ich Frida folgte. Ich wusste, dass es gewagt war, schwanger auszuwandern. Aber im Moment hatte ich das Gefühl, dass es genau dad war, was ich brauchte. Einfach nur weg von all dem.

Kaum war die Badtür hinter uns zugefallen, brabbelte Frida los.

"Das kann doch nicht dein Ernst sein? Wieso ziehst ausgerechnet jetzt nach Kopenhagen? Du bekommst ein Kind! Hier hast du alle Unterstützung der Welt. Dort hast du niemanden."
"Meine Cousine wohnt in Kopenhagen", entgegnete ich, auch wenn ich wusste, dass das nichts änderte.

Frida verdrehte die Augen.

"Das ist wohl kaum das gleiche wie deine drei besten Freunde plus deine Eltern. Warum machst du das?"

"Weil ich hier raus muss", antwortete ich ehrlich. "Ich brauche Abstand. Vielleicht komme ich in ein paar Monaten auch schon wieder, aber im Moment erdrückt es mich her."

Ich hatte hier nicht einmal ein zuhause. Noch immer wohnte ich auf der Couch in Fridas Wohnzimmer. In Kopenhagen erwartete mich ein schönes Apartment, das auch noch von meiner Firma bezahlt würde.

Frida packte mich an beiden Schultern.

"Ich mache mir langsam wirklich Sorgen um dich. Und wenn du so weit weg bist, habe ich nicht einmal die Möglichkeit nach dir zu schauen."

"Wir können doch facetimen."

"Als ob das das gleiche ist. Willst du es dir nicht noch mal durch den Kopf gehen lassen?"

"Nein, ich habe meinem Chef schon verbindlich zugesagt und den Vertrag unterschrieben."

Fassungslos schüttelte Frida den Kopf.

"Ich hoffe wirklich, dass du dir das gut überlegt hast. Hast du mittlerweile eigentlich mal mit dem Vater des Kindes gesprochen?"

Sie wusste genau, dass das mein wunder Punkt war. Ich hatte wirklich vor, es Finn zu erzählen, aber noch nicht jetzt. Ich brauchte Zeit. Je gefasster ich war, wenn ich es Finn erzählte, desto besser. Und ich hatte schließlich noch 8 Monate bis das Kind da war. Da war noch genug Zeit. 

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