Kapitel 10
"Du siehst aber gar nicht gut aus", stellte Sven fest, als ich am Morgen im Büro erschien und mich kraftlos in meinen Bürostuhl fallen ließ.
Mein Zustand hatte sich nicht verbessert. mir war noch immer kotzübel. Ich bekam nicht einen Bissen runter. Meine Muskeln schienen sich in Luft aufgelöst zu haben und meine Gliedmaßen hingen wie Fremdkörper an mir herunter.
"Es geht mir auch nicht gut", seufzte ich. "Aber gestern wurde es zumindest im Laufe des Tages besser. Ich hoffe, dass das heute auch so ist."
Mitfühlend sah er mich an.
"Das tut mir leid. Du hast echt gar keine Farbe im Gesicht. Selbst deine Lippen sehen blass aus." er tätschelte mir mitfühlend die Schultern. "Hast du dir das mit Kopenhagen noch einmal durch den Kopf gehen lassen?"
Ich hatte es nicht einmal Basti gegenüber erwähnt. Warum auch? Ich konnte mir seine Antwort schon denken.
"Ja, habe ich. Es ist ein wirklich gutes Angebot und ich empfinde es als Ehre, dass er mich gefragt hat....- aber es passt momentan einfach nicht in mein Leben. Ich werde es ablehnen."
Zweifelnd zog Sven eine Augenbraue hoch.
"So richtig überzeugt bist du aber auch nicht von deinen eigenen Worten, oder?"
Ehe ich widersprechen konnte, überkam mich plötzlich wieder die Übelkeit. Ich sprang auf und rannte zu den Damentoiletten. Verzweifelt hielt ich mir die Hände vor den Mund, um den Inhalt drinnen zu behalten. Meine Beine überschlugen sich fast, während ich den scheinbar nicht endenden Gang entlang lief. Kaum war mein Kopf über der Kloschüssel, entleerte sich alles, was ich in mir hatte und das war fast gar nichts.
Was war denn nur los mit mir? So elend hatte ich mich noch nie zuvor gefühlt. Ich versuchte mich auf meine Atmung zu konzentrieren, um einen erneuten Würgereiz zu unterbinden.
Es dauerte jedoch eine ganze Weile bis ich wieder die Damentoilette verlassen konnte. Es war als wäre mein Körper von jeglichen Kräften verlassen worden.
"Geh nach Hause, Ilvi", wies Sven mich an, als ich zurück ins Büro kam. "Es ist offensichtlich, dass es dir nicht gut geht. Keine Sorge, dir wird keiner unterstellen, dass du dir einfach nur einen entspannten Tag nach Neujahr machen willst. Man sieht dir wirklich an, dass es dir nicht gut geht. Genau genommen siehst du mehr tot als lebendig aus."
Für gewöhnlich schleppte ich mich sogar mit Fieber zur Arbeit, doch nun war alles anders. Ich hatte noch nie eine solche innere Schwäche gespürt. Ich konnte nicht einmal daran denken, auch nur einen Buchstaben auf der Tastatur zu drücken.
"Geh zum Arzt", sprach Sven nun mit Nachdruck.
Einsichtig nickte ich.
Doch ich ging nicht zum Arzt, sondern direkt nach Hause, wo Basti wie immer vor dem Fernseher saß.
"Schon zuhause?", erkundigte er sich nur beiläufig.
"Ja, ich musste wieder nach Hause gehen. Es ging mir nicht gut."
Er richtete sich auf und sah mich besorgt an. Offenbar war er nüchtern und dieses mal tatsächlich besorgt um mich.
"Immer noch?", fragte er und musterte mich. Auch ihm schien die fehlende Farbe in meinem Gesicht aufzufallen. Ich nickte. "Du siehst auch echt blass aus. Willst du nicht lieber mal zum Arzt gehen?"
Ich würde, wenn ich nur die Kraft dazu hätte.
"Morgen vielleicht. Ich bin für heute einfach zu schwach, um noch das Haus zu verlassen. Ich versuche ein bisschen zu schlafen. Vielleicht ist es danach besser."
Er stand auf und kam zu mir. Sein Blick war so klar, wie seit langem nicht mehr. Für einen kurzen Augenblick bekam ich den Basti zu sehen, in den ich mich damals verliebt hatte. Es gab mir Hoffnung, dass er irgendwann wiederkommen könnte.
Er stellte sich dicht vor mich, sodass ich meinen Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzusehen. Ich hatte es immer gemocht, dass er so viel größer war als ich. Es gab mir das Gefühl, dass er mich vor all dem Bösen dieser Welt beschützen könnte.
Dann nahm er mich in seine Arme und drückte mich liebevoll.
Er gab mir einen Kuss auf die Wange. Sein Bart kratzte, doch ich genoss diese Zärtlichkeit.
Wir sahen uns in die Augen, während er mir über die Wange strich.
"Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst, okay?", hauchte er.
"Danke", ließ ich ihn wissen und streichelte ihm über den Oberarm.
Ich legte mich wie in Zeitlupe in mein Bett. Jede ruckartige Bewegung löste erneute Übelkeit aus. Erschöpft schloss ich meine Augen, doch zum Schlafen kam ich nicht. Kaum waren meine Lider geschlossen, begann sich alles um mich zu drehen.
Dann schreckte mich unsere Türklingel auf und ich schoss nach oben, sodass ich aufrecht in meinem Bett saß. Sofort wurde mir noch schwindeliger.
"Ich geh schon", rief Basti.
Ich hörte, wie seine schweren Schritte sich der Wohnungstür näherten. Dann öffnete er sie. Sofort erkannte ich die Stimme und freute mich sie zu hören.
"Sie ist im Schlafzimmer", sprach Basti.
Und schon stand Frida in der Tür. Bewaffnet mit frischen Blumen und einem Stoffbeutel, von dem ich vermutete, dass er selbstgemachte Suppe und Tee beinhaltete. Ich hatte ihr geschrieben, als ich auf dem Nachhauseweg war, dass ich mich unfassbar krank fühlte.
"Na du krankes Huhn", begrüßte sie mich. "Immer noch nicht besser?"
Ich versuchte ein tapferes Lächeln aufzusetzen, doch selbst das fiel mir schwer.
"Oh jee, das sieht ja gar nicht gut aus", stellte auch Frida fest. "Wie gut, dass ich Suppe und Tee mitgebracht habe. Natürlich alles aus eigener Ernte hergestellt." Sie hielt den Beutel hoch. "Und hier noch ein paar Bartnelken für die Seele! Ich hol mal eine Vase und mach die Suppe warm."
Und schon verschwand sie aus dem Raum. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit ihr zu sagen, dass ich nicht einen Löffel Suppe herunter bekommen würde.
5 Minuten später kam sie mit einer Schüssel klarer Gemüsesuppe und einer Tasse Tee wieder. Sie stellte es auf dem Nachttisch ab und ging noch einmal raus, um die Blumen zu holen. Diese platzierte sie auf dem Fensterbrett.
Allein der Geruch der Suppe, weckte in mir das Bedürfnis wieder ins Bad zu rennen. Wenn ich denn nur rennen könnte.
"So schlimm?", fragte Frida.
Ich nickte.
"Ja, der Geruch der Suppe, und des Tees und der Blumen. Ich ertrage das nicht."
"Oh", kam es überrascht über ihre Lippen. "Dann bringe ich das mal schnell wieder weg."
Frida sprang auf und entfernte alle möglichen Geruchsquellen. Dann riss sie das Fenster auf und schloss die Schlafzimmertür.
Kritisch sah sie mich an.
"Bist du schwanger?"
Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Diese Frage war absurd. Zumindest mit dem Wissen, das ich hatte.
"Wie bitte?"
"Ob du schwanger bist? Dir ist schlecht und du reagierst empfindlich auf Gerüche. Das hört sich nach Schwangerschaft an."
Sofort schüttelte ich heftig den Kopf. Zu heftig. Augenblicklich drehte sich alles in meinem Schädel.
"Nein, bin ich nicht", stellte ich klar.
"Wie kannst du dir so sicher sein? Hast du schon einen Test gemacht? Jede Verhütungsmethode versagt mal."
"Aber kein Sex verhütet mit Sicherheit!", konterte ich und ich konnte meine Frustration dabei nicht zurückhalten.
Fridas Kinnlade fiel nach unten, wie bei einem Nussknacker.
"Ihr habt keinen Sex mehr?", flüsterte sie, obwohl die Schlafzimmertür zu war. "So gar keinen? Nicht mal einmal im Monat?"
Peinlich berührt nickte ich.
"Es geht bei ihm momentan nicht. Seitdem er wieder da ist, kann er einfach nicht mehr."
"Er kriegt keinen mehr hoch?", hakte sie schamlos nach.
"Nicht so laut", raunte ich. "Nicht, dass er das noch hört!" Das wäre das letzte, das mir noch gefehlt hätte."Er hat echt Schlimmes erlebt und das scheint ihn zu blockieren."
Es war das erste Mal, dass ich es offen aussprach.
"Scheiße", kam es über Fridas Lippen. "Ich wusste nicht, dass es so schlimm bei euch ist. Wann hattest du denn bitte das letzte Mal Sex? Du musst doch vollkommen unbefriedigt sein."
Ich hoffte, dass sie nicht bemerkte, wie meine Wangen erröteten. Es hatte diesen einen Ausrutscher gegeben, für den ich mich noch immer schämte. Frida war zwar meine beste Freundin, doch ich konnte ihr unmöglich erzählen, dass ich mit Finn geschlafen hatte.
"Noch vor seinem Auslandseinsatz", log ich.
"Oh Gott", sprach sie, als hätte ich ihr gerade erzählt, dass meine gesamte Familie verstorben war. "Und ich dachte, dass das Gute an Beziehung war, dass man wenigstens regelmäßig Sex hat."
"Vielen Dank, dass du den Finger in die Wunde steckst", beschwerte ich mich.
"Tut mir leid", ruderte sie sofort zurück und ihre Gesichtszüge wurden weicher. "Was ist denn mit Familienplanung? Ich dachte, du wolltest immer Kinder."
Sie steckte den Finger immer tiefer hinein.
"Ich denke nicht, dass das in diesem Leben noch geschieht."
"Wegen Basti?", fragte sie mit strengem Unterton.
"Ja", sagte ich ehrlich. "Es ist nicht nur die Tatsache, dass wir im Moment physisch nicht dazu in der Lage sind. Er könnte sich unmöglich emotional um ein Kind kümmern... in dem Zustand, in dem er gerade ist. Er kann sich ja nicht einmal um sich selbst kümmern. Es dauert Jahre, um ein Trauma zu überwinden. Da passt einfach kein Kind rein."
Frida hatte ihren Augenbrauen ernst zusammengezogen und ihre Stirn in Falten gelegt.
"Vielleicht ist er auch einfach nicht der richtige Mann für dich", sprach sie das aus, von dem ich wusste, dass sie es schon seit Monaten dachte. Bisher hatte sie sich nicht getraut, es offen auszusprechen, doch ich hatte es ihr angesehen.
"Was wäre ich für eine Freundin, die ihren Freund verlässt, weil er psychische Probleme hat?"
"Ilvi, rede so nicht! Du musst auch glücklich sein. Du hast dieses eine Leben, aus dem du das Beste machen kannst. Das solltest du nicht für jemand opfern, der es nicht einmal schätzen kann, was du alles für ihn tust." Sie nahm nun meine eiskalte Hand zwischen ihre. "Ilvi, ich sehe doch wie unglücklich du bist. Finn und Ruben ist das auch aufgefallen. Wir machen uns wirklich Sorgen um dich. Ich will die alte Ilvi wieder haben, die unbeschwert durchs Leben geht." Ich schluckte schwer. Mir war nicht einmal richtig aufgefallen, dass nicht nur der alte Basti verschwunden war, sondern auch die alte Ilvi. Diese plötzliche Erkenntnisse versetzte meinem Herz einen Stich. "Kein Mann und auch keine Frau ist es Wert, dass du dich selber so aufgibst. Du hast Basti eine Chance gegeben. Sogar mehr als eine. Irgendwann ist einfach mal Schluss."
Eine Träne entwich nun aus meinem Augenwinkel. Sofort legte Frida tröstend ihren Arm um mich herum.
"Ich will dich nicht zum Weinen bringen", entschuldigte sie sich. "Aber du musst endlich deine Augen öffnen. Es kann so nicht weitergehen."
Kaum hatte sie das ausgesprochen, überkam mich plötzlich wieder ein Wügereiz. Ich griff nach dem Eimer, der neben dem Bett stand. Wieder würgte ich, doch es kam nichts.
Ich spürte, wie Fridas Hand mir mitfühlen über den rücken strich.
Fridas Worte schwirrten in meinem Kopf. Insbesondere die eine Frage, die sie gestellt hatte:
Bist du schwanger?
Konnte man wirklich so ein Pech haben? Und von einem einzigen Mal schwanger werden? Seitdem mit Basti im Bett nichts mehr lief, hatte ich die Pille abgesetzt. Mein Körper war schließlich so schon von den eigenen Hormonen überfordert, sodass er nicht noch mehr brauchte. Doch wir hatten ein Kondom benutzt. Das Szenario einer Schwangerschaft erschien mir zu unwahrscheinlich. Es konnte schließlich auch tausend andere Gründe für Übelkeit geben.
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