34.

Davor, zuvor, Vergangenheit

„Nei, jeg kann ikke forstår det."

Ich werde von einer Sprache geweckt, die ich davor noch nie gehört habe. Nur die Stimme erkenne ich. Ich habe diese Person schonmal reden gehört. Erst nach ein paar Sekunden realisiere ich, dass diese Person, beziehungsweise der halbnackte gutaussehende Junge, der gestresst in meinem Zimmer auf und ab läuft, Finley ist. Mein Kopf, der langsam aber sicher anfängt zu arbeiten und einen Gedanken nach dem anderen produziert, pocht etwas von der frühen Anstrengung. Dennoch bekomme ich hin zu schlussfolgern, dass die fremde Sprache Norwegisch sein muss und sofort höre ich etwas genauer hin.

„Ja, selvfølgelig er jeg bekymret."

Finley hat noch nicht bemerkt, dass ich wach bin und spricht weiterhin mit sorgenvoller Stimme – sofern sich eine sorgenvolle Stimmlage im Norwegischen genauso anhört, wie im Deutschen – in sein Handy. Ob ich vielleicht lieber aus dem Zimmer gehen sollte? Irgendwie klingt es so als wäre Finley sehr aufgebracht über das, was ihm erzählt wurde und ich habe das Gefühl zu sehr in seine Privatsphäre einzudringen. Aber noch bevor ich mich entscheiden kann, ob ich das Zimmer verlassen möchte oder nicht, wirft Finley mir einen Blick zu. Er schaut mich an, sein Blick ist leer als wäre er nicht wirklich hier und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Was wurde Finley erzählt? Denn unter diesem Blick traue ich mich nicht mal mehr, mich zu bewegen. Sogar ein Atemzug scheint zu gewagt. Zu groß ist meine Sorge um Finley. Zu groß die Sorge die Verbindung zu ihm zu verlieren, wenn er den Blick abwendet. Und so liege ich in meinem Bett, schaue Finley in die Augen und warte. Ich weiß nicht genau, worauf ich warte. Vielleicht darauf, dass Finleys Augen wieder leuchten, dass seine Lippen sich zu einem Lächeln verziehen, aber ich warte vergeblich.

„Se opp for ham og hilse på ham fra meg. Og Theo, ta deg av deg. Ja, jeg gjør det. Ha det bra. Jeg må legge på nå."

Finley nimmt langsam das Handy von seinem Ohr. Irgendetwas ist in ihm zerbrochen. Ich sehe es in seinen Augen, die plötzlich so stumpf wirken, aber auch seine Schultern lässt er hängen als könnte er die ganze Last, die schwer auf ihnen liegt, nicht mehr tragen. Nicht mehr ertragen. Doch noch bevor er weiter zerbrechen kann, schlage ich die Bettdecke zurück und stürze auf ihn zu. Ich habe schonmal eine Person, die ich liebe emotional zusammenbrechen sehen, aber es schmerzt immer wieder aufs Neue und so schleppe ich Finley mit schwerem Herzen zu meinem Bett und setze ihn auf der Kante ab. Ein Häufchen Elend hätte nicht bemitleidenswerten sein können. Zuerst bin ich doch etwas überfordert mit der Situation, aber dann nehme ich Finley vorsichtig in den Arm. Ich mache nicht mehr und nicht weniger und Finley nimmt meine klägliche Hilfe an. Er legt seinen Kopf in die Kuhle zwischen meinem Hals und der Schulter und lässt alles los. Es wirkt als würden all die Fassaden auf einmal in sich zusammenstürzen und was zum Vorschein kommt, ist ein verletzlicher und trauriger Finley. Ein Finley, der beginnt zu weinen. Ein Finley, der einfach eine Schulter zum Ausweinen braucht. Jemand der ihn festhält, damit er nicht in den Abgründen seiner selbst verschwindet.

Ich weiß nicht genau, wie lange wir schon hier sitzen. Die Zeit hat aufgehört zu existieren, ihr stetiger Fluss ist für einen Moment zum Stillstand gekommen und Finley hat geweint. Er hat getan wovor sich so viele Männer und Jungen fürchten. Nur jetzt sind seine Tränen versiegt, er hat geweint und jetzt hat er keine Tränen mehr. Seine geröteten, geschwollenen Augen sind die einzigen Spuren, die sein Zusammenbruch hinterlassen hat und aus genau diesen Augen schaut er mich jetzt an. Seine Miene drückt Dankbarkeit aus. In seinem Kopf sucht er nach den richtigen Worten. Ich lasse ihm seine Zeit, so wie ich sie ihm auch vorhin schon gelassen habe.

„Du fragst dich bestimmt, was mich so aus der Bahn geworfen hat."

Er spricht die Worte mit Bedacht, wählt jedes einzelne sorgfältig aus und er fährt fort, nachdem ich ihm mit einem leichten Nicken zu verstehen gegeben habe, dass ich für ihn da bin. Ihm zu höre, sofern er reden möchte.

„Ich... meine Freunde und ich haben... also in Norwegen haben meine Freunde und ich, hatten wir ein paar Auseinandersetzungen mit einer anderen Freundesgruppe. Sie gehen auf eine andere Schule und wir... sagen wir so, wir haben etwas unterschiedliche Ideologien. Und erst haben wir uns nur gestritten, aber dann, dann kam es zu den ersten Prügeleien. Wir haben uns wirklich nur geschlagen, nicht mehr und nicht weniger und eigentlich war alles ruhig bevor ich nach Deutschland gegangen bin. Wir haben uns gegenseitig toleriert. Nur letzte Nacht..."

Finleys Stimme bricht.

„Letzte Nacht?", frage ich zaghaft nach.

„Letzte Nacht hat einer von diesen Jungen meinen besten Freund erstochen."

„Erstochen?"

Ich hätte Norwegens Kriminalitätsrate als eher gering eingeschätzt. Nicht im Traum wäre ich darauf gekommen, dass man in Norwegen aus heiterem Himmel erstochen wird.

„Nein, nicht erstochen. Das war das falsche Wort. Einer von diesen Jungen hat meinem besten Freund, Henrik, ein Messer in den Bauch gesteckt. Kann man das so formulieren? Das ist jetzt auch egal. Er lebt auf jeden Fall noch. Mein anderer bester Freund, Theo, war anscheinend dabei und hat den Krankenwagen gerufen. Sie haben Henrik sofort operiert, um zu verhindern, dass er an inneren Blutungen stirbt. Sie haben auch überprüft, ob eines seiner inneren Organe verletzt wurde, aber zum Glück sieht es nicht so aus. Die Ärzte meinen, dass er durchkommen würde, aber... Julie, er ist mein ältester Freund. Er ist wie ein Bruder für mich."

Und ich verstehe Finley. Ich verstehe die Angst, die er hat. Denn ich kenne diese Angst. Genau diese Angst hat ihre Krallen um mein Herz gelegt als Ellies Zustand sich verschlimmert hat und keine Worte dieser Welt hätten mir diese Angst nehmen können.

„Finley. Er..."

Ich breche ab. Keine Worte dieser Welt konnten mir meine Angst nehmen, wieso sollten meine Worte Finley die Angst nehmen können?

„Julie."

Er schaut mich an und ich merke, dass ich nichts sagen muss. Finley weiß, dass ich mit ihm mitfühle, dass ich für ihn da bin, wenn er mich braucht. Dieser Morgen hat es gezeigt. Er hat uns näher zueinander gebracht und ein Band zwischen uns geknüpft.

„Julie, lass uns etwas frühstücken."

Ich muss erstmal ein paar Mal blinzeln, um wieder in der Gegenwart anzukommen. Finley reibt sich die Augen und schaut sich nach seinen Klamotten um. Sie liegen auf meinem Sessel.

„Ich weiß ja nicht wie es dir geht, aber mich hat das alles hungrig gemacht."

Er hat sich schnell seine Klamotten übergezogen und steht jetzt mit einem Grinsen auf den Lippen vor mir. Der alte Finley mit all seinen Fassaden ist wieder da und für einen Moment betrauere ich das Verschwinden des sensiblen und verletzlichen Finleys, aber ich habe das Gefühl, dass das heute nicht unser letztes Treffen sein wird. Jetzt, da ich Finley ohne seine Fassaden kennengelernt habe, hoffe ich, dass er sich häufig und mehr mir gegenüber öffnet. Natürlich müsste ich dann auch damit anfangen ihm meine inneren Dämonen zu präsentieren, aber alles zu seiner Zeit.

„Absolut. Wir brauchen etwas zu essen."

Finley und ich sitzen am Esstisch. Jeder von uns hat einen Teller vor sich stehen, auf dem ein einsames Tost liegt. Ich habe meins noch nicht angerührt, weil ich noch unentschlossen bin, was ich auf meinen Tost drauf machen möchte. Habe ich eher Lust auf ein süßes oder ein salziges Frühstück. Kurzum, ganz normale Fragen, die man sich während des Frühstückes stellt. Finley greift beherzt nach einer Marmelade und ich im selben Moment nach dem Käse. Unsere Entscheidungen sind gefallen.

Noch während wir frühstücken, beginnen sich die ernsteren und schwereren Gesprächsthemen ihren Weg durch unsere lockere Unterhaltung zu bahnen und so enden wir bei meiner Schwester. Bei meiner Schwester und bei meinem Vater. Ich weiß nicht mehr, wie wir hier gelandet sind. Ob es eine Frage von Finley war oder eine Anmerkung von mir. Dennoch erzähle ich Finley von Ellies dysfunktionalem Perfektionismus und der Flucht meines Vaters vor mir. Er hört mir die ganze Zeit über zu, unterbricht mich nicht und zum Schluss, bemitleidet er mich nicht. Als würde er merken, dass ich kein Mitleid möchte.

Jetzt habe ich zwei Menschen davon erzählt, habe mich gegenüber zwei Menschen geöffnet und ich finde, das ist gar keine so schlechte Quote. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass diese zwei Menschen meine Lieblingsmenschen sind.

„Julie, ich möchte, dass du weißt, dass ich genauso für dich da bin, wie du es für mich heute Morgen warst", sagt Finley und nimmt meine Hand in seine. So wie gestern Abend. „Und ich möchte mich bei dir bedanken. Danke, dass ich diesen Schmerz mit dir teilen konnte."

Jetzt hat Finley es ausgesprochen. Er hat ausgesprochen, was ich ohne Worte schon verstanden habe, als wollte er auf Nummer sicher gehen. Ich kann ihn verstehen und ich bewundere diese Genauigkeit.

„Das wollte ich noch unbedingt loswerden."

Er trinkt seinen Tee aus.

„Und du sollst wissen, dass dieses Versprechen nicht einfach so dahingesagt wurde und erst recht nicht aus einem schlechten Gewissen heraus. Ich meine es ernst."

Und ich glaube ihm. Ich habe das Gefühl, ein Gefühl, das ich bei ihm schon seit längerem habe, dass ich ihm vertrauen kann. Dass ich jedem seiner Worte Glauben schenken kann. Wir sind fertig mit dem Frühstück.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top