32.

Davor, zuvor, Vergangenheit

Nachdem wir den Berg an Pancakes verschlungen und uns satt in unseren Stühlen zurückgelehnt haben, kommt meine Mutter verschlafen aus ihrem Zimmer und steuert sofort die Kaffeemaschine an. Ich denke, Kaffee ist ihr Treibstoff. Denn ohne ihren heißgeliebten Kaffee kann der Tag nicht beginnen. Und man sollte erst recht nicht versuchen, ihr wichtige Informationen vor der ersten Tasse zu geben. Nicht selten höre ich Sätze von ihr wie – jetzt brauche ich erstmal einen Kaffee und danach kann ich wirklich verarbeiten, was du mir erzählen möchtest. Wie schon gesagt – ihr Treibstoff. Aber ich kann es meiner Mutter nicht verübeln. Ohne meine Tasse schwarzen Tee würde ich den Tag wohl auch nicht überstehen. Und so sind meine Mutter und ich beide von Koffein, nun ja... abhängig.

Ana drückt auf die Knöpfe der Kaffeemaschine. Die Tasse beginnt sich langsam mit der braunen Flüssigkeit zu füllen, während die Maschine ein dröhnendes Geräusch von sich gibt. Um die Wartezeit zu verkürzen, dreht sich zu Frieda und mir um, lehnt sich gegen die Anrichte und neigt den Kopf leicht zur Seite.

„Dich kenne ich noch gar nicht."

Ihre Mundwinkel heben sich etwas und ein freundlicher Gesichtsausdruck legt sich auf ihre angestrengten Züge. Der helle Cardigan, den sie über ihrem karierten Schlafanzug trägt, zieht sie etwas zusammen und verschränkt ihre Arme locker vor der Brust. Sie möchte einen guten Eindruck machen. Gastfreundlich und natürlich nett zu meinen Freunden sein. Das rechne ich ihr hoch an.

Frieda nimmt eine höflichere Haltung ein, setzt sich gerade hin, stützt die Ellenbogen auf dem Tisch ab und räuspert sich.

„Ich bin Frieda, eine Freundin von Julie."

Der herbe Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee vertreibt den süßen der Pancakes.

„Wie schön dich kennenzulernen, Frieda. Jetzt weiß ich also, wer heute Nacht bei meiner Tochter übernachtet hat."

Meine Mutter wendet sich wieder ihrem Kaffee zu. Diesen kurzen Moment nutzt Frieda, um mir einen verunsicherten Blick zu zu werfen, aber ich kann darauf auch nur mit einem Schulterzucken antworten. Ich habe meiner Mutter so gut wie nie meine Freunde vorgestellt, also weiß ich auch nicht, was ihre normale Reaktion auf meine Freunde ist.

„Oh, es tut mir sehr leid, natürlich hätte ich Sie vorher fragen sollen, ob es Ihnen recht ist, dass ich hier übernachte."

In Friedas Tonfall finde ich nicht auch nur ein Fünkchen Ironie. Da ist nur reine Höflichkeit.

Wir saßen noch eine Weile in der Küche und haben uns mit meiner Mutter unterhalten. Sie hat mal wieder bewiesen, dass sie noch so viel mehr ist als die angestrengte und sorgenvolle Mutter. Wegen des Stresses dem Ana die letzten Wochen ausgesetzt war, habe ich diese Seite beinahe vergessen und darum bin ich umso glücklicher hier mit ihr und Frieda in der Küche zu sitzen. Ganz unbefangen, ganz ohne die vielen schweren Gedanken, die das Dach über unserer Familie drohen zum Einstürzen zu bringen und es wirkt als würden wir uns für diesen Moment in einer Blase befinden, in der das Dach niemals einstürzen könnte. Doch Blasen haben leider die Angewohnheit zu platzen und so platzt auch unsere Blase in dem Augenblick als Friedas Handy klingelt.

Ihre Eltern sind dran, sie wollen wissen, wo Frieda ist und dass sie sofort nach Hause kommt. Verdammt. Ich wollte ihren Eltern noch eine kurze Nachricht von Friedas Handy schicken. Auch das habe ich gestern Abend vergessen und jetzt muss Frieda das ausbaden.

„Ja, Mama. Ja, ich komme jetzt sofort. Ja. Natürlich auf dem schnellsten Weg."

Kurze Stille.

„Nein! Ich habe bei keinem Jungen übernachtet. Nur weil du Julie noch nie gesehen hast, musst du nicht gleich ihre Existenz anzweifeln. Jahaa, ich weiß. Bis später."

Mit deutlich schlechterer Laune legt Frieda das Handy vor sich auf den Tisch und lässt sich gegen die Lehne des Stuhls sinken. Dieses Telefonat lief anscheinend nicht so gut und das habe nicht nur ich mitbekommen. Auch meine Mutter schaut Frieda abwartend an, nur das sich in ihren Blick auch eine Spur von Sorge mischt.

„Das war meine Mutter", sagt Frieda in die entstandene Stille hinein und danach etwas leiser: „Wie sie leibt und lebt."

Daraufhin steht Frieda auf, um loszugehen und meine Mutter versucht ihr jede erdenkliche Hilfe anzubieten. Aber Frieda lehnt alle Angebote dankend ab. Sie stellt sich ihrem Schicksal und geht in die Höhle des Löwen – wie sie ihr Zuhause gerne betitelt. Ich schaffe es mich nur noch kurz von ihr zu verabschieden bevor sie auch schon durch die Haustür ins Treppenhaus verschwindet.

Nur für mich soll damit der Tag noch nicht abgeschlossen sein. Gerade als ich ein paar Stunden später dabei bin mein Zimmer mal wieder aufzuräumen, klingelt es an der Tür und da mir zurzeit jede Art der Zeitverschwendung lieb ist – eigentlich sollt ich noch die ein oder andere Hausaufgabe machen – unterbreche ich meine wichtige Aufgabe des Zimmeraufräumens und mache mich auf den Weg zur Gegensprechanlage. Vielleicht ist es ja der Postbote. Aber der war eigentlich schon da und gegen 17 Uhr kommt eigentlich auch selten nochmal Post. Es könnte natürlich auch sein, dass meine Mutter Essen bestellt hat. Ja, das muss es sein.

„Julie van Elburg, wer ist da?", frage ich, nachdem ich die Sprechanlage aktiviert habe.Wer

meldet sich denn so bei einer Gegensprechanlage? Das ist doch kein Telefon. Aber na gut. Es ist wahrscheinlich ja sowieso nur der Essenslieferant.

„Finley Johansen. Ich habe Sie gestern auf einer Party gesehen und da musste ich einfach herausfinden, wo Sie wohnen. Erinnern Sie sich an mich?"

Finley winkt grinsend in die Kamera. Damit habe ich nicht gerechnet, aber ich verfalle in ein kurzes Lachen.

„Sie Creep."

Mit diesen Worten drücke ich auf den Türsummer und lasse nicht nur Finley in das Haus, sondern auch eine Horde Schmetterlinge in meinen Bauch.

Einen Augenblick später kommt er auch schon stapfend, und mit Papiertüten beladen, die Treppe rauf.

„Na du?", frage ich.

Ich lehne lässig im Türrahmen und sehe ihn schmunzelnd an. Die Lässigkeit soll dabei nur die Vorfreude überspielen wegen der ich mich am liebsten sofort in Finleys Arme werfen würde. Nur würde er dann mit mir in den Armen die Treppe runterstürzen. Und das möchte ich ganz sicher nicht und so bleibe ich hier stehen und warte, bis er etwas außer Atem vor mir zum Stehen kommt. In den vierten Stock zu laufen ist eben doch anstrengender als man denkt.

„Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, Frau van Elburg, aber dürfte ich zuerst diese Einkäufe in Ihrer Küche abstellen?", Finleys Mundwinkel verziehen sich zu einem frechen Grinsen.

„Aber natürlich."

Ich bitte Finley mit den Worten: „Nach Ihnen" in die Wohnung und lotse ihn gleich in die Küche. Den Rest der Wohnung wird er früh genug zu Gesicht bekommen. Außerdem kann ich so das Zusammentreffen von Finley und meiner Mutter noch etwas hinauszögern.

„Jetzt möchte ich dir aber erst einmal richtig hallo sagen", sagt Finley und dreht sich zu mir um, nachdem er die Einkaufstaschen auf der Arbeitsfläche abgestellt hat. Ich muss grinsen und ein schwaches „Hallo" kommt mir über die Lippen, bevor Finley auf mich zu kommt und mir einen leichten Kuss auf die Lippen haucht. Daran könnte ich mich gewöhnen.

Er wendet sich kurz darauf wieder den Einkäufen zu und nur das Grinsen, das er auf seinen Lippen trägt, erinnert daran, dass wir uns einen Augenblick zuvor geküsst haben. Es fühlt sich immer noch etwas surreal an. Finley hier in unserer Küche. Finley der mich zur Begrüßung küsst. Gleichzeitig wirkt es so normal, wie er gerade unsere Schränke nach Pfannen und Töpfen absucht. Auf eine wunderschöne Weise normal.

„Kann ich dir helfen? Oder möchtest du dich alleine durch den Dschungel, der sich unsere Küche nennt, schlagen?", frage ich und setzte mich geradezu elegant auf die Küchenarbeitsfläche neben die Einkäufe und werfe einen Blick in die Papiertüten, die bis obenhin mit verschiedensten Zutaten gefüllt sind. Was er nur mit all diesen Sachen vorhat...

„Eigentlich wollte ich schon immer mal eine Dschungelexpedition machen, aber wenn du mir dabei hilfst, wäre das natürlich noch besser. Hinzukommt, dass ich gerade auf der Suche nach einer ganz seltenen Spezies bin. Sie heißt Schneidebrettchen."

Finleys Stimme wird gegen Ende immer leiser und geheimnisvoller und nur das Blitzen in seinen Augen verrät, dass er das Gesagte für großen Blödsinn hält.

„Ich meine, diese Spezies schon einmal hier gesehen zu haben."

Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaue ich mich in der Küche um und tue so als müsste ich erst noch überlegen in welcher Schublade wir so etwas finden könnten. Doch die Schubladen sehen all gleich aus. Weiß mit edelstahlfarbenen Griffen.

Ich verrenke mich bei dem Versuch eine etwas entfernte Schublade mit meinem Fuß zu öffnen, aber noch bevor ich mir durch meine Akrobatik den Fuß brechen kann, schiebt Finley ihn sanft beiseite und öffnet die Schublade.

„Sag mal, wie kamst du eigentlich auf die Idee heute Abend hier her zu kommen?"

Finley der gerade dabei ist Kartoffeln in feine Scheiben zu schneiden, schaut auf und mir direkt in die Augen. Ein seichtes Lächeln ziert seine Lippen. Ein Lächeln, das nur er so hinbekommt. Es ist leicht und zugleich so schwer, als würde Finley versuchen ein großes Geheimnis, das ihn die ganze Zeit zu begleiten scheint, dahinter zu verbergen. Anders als bei David, möchte ich Finleys Geheimnis auf den Grund gehen, denn bei ihm habe ich das Gefühl, dass der Versuch es zu ergründen, keine Masche ist, sondern eine Aufgabe für eine Person, die ihm nahesteht.

„David hat angekündigt, dass heute Abend das ein oder andere Mädchen bei und mit ihm schlafen würde. Und da habe ich die Flucht ergriffen."

Sein Tonfall ist sachlich und nur das Lächeln, das nach wie vor auf seinen Lippen liegt, nimmt der Situation etwas von ihrer Ernsthaftigkeit. Mitleid, denke ich, möchte er sicherlich nicht haben.

„Und dann bist du auf deiner Flucht über einen Supermarkt gestolpert und hast aus Versehen Zutaten für ein exzellentes Abendessen eingekauft?", frage ich und mein Tonfall ist mindestens ebenso ernst, wie Finleys zuvor. Dieser bedenkt mich mit einem tadelnden Blick und richtet dabei das Messer auf mich.

„Ich sehe schon, du nimmst mich gar nicht ernst, aber glaube mir, es ist ein Albtraum mit David in einem Haus zu sein, wenn er weiblichen Besuch hat. Außerdem ist das nicht der einzige Grund für mein Aufkreuzen."

Ich kann mir leider nur zu gut vorstellen, wie das sein muss und gleichzeitig frage ich mich, wie Davids Mutter das aushält. Sie kann nicht so einfach reißausnehmen. Einen Moment ruht mein Blick noch auf dem konzentrierten Finley, der jetzt die Kartoffeln in einer Auflaufform drapiert – wie er die gefunden hat, weiß ich leider auch nicht – bevor ich von der Arbeitsfläche springe und mich dicht neben ihn stelle. Mein schlechtes Gewissen hat sich zu Wort gemeldet und so kann ich ihm nicht mehr dabei zu sehen, wie er unser Abendessen ganz alleine macht, aber zuerst möchte ich noch unbedingt eine Antwort auf eine Frage.

„Was war denn der andere Grund?"

Finleys Mundwinkel zucken als hätte er nur darauf gewartet, dass ich diese Frage stelle. Er lässt von den Kartoffeln und der Auflaufform ab und schaut mich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf an. Sein Blick wohlwollend und liebevoll.

„Ich wollte meine Freundin besuchen und weil ich auch noch einen guten Eindruck machen wollte, habe ich mir gleich noch ein Abendessen überlegt."

Während er seine Überlegungen vor mir ausbreitet, legt er sanft seine Hände auf meine Hüften und zieht mich etwas an sich. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, die Schmetterlinge in meinem Bauch scheinen eine Party zu veranstalten und meine Haut kribbelt an den Stellen auf denen seine Finger ruhen. Alles in einem, mein Körper und mein Kopf sind überwältigt von dem, was gerade passiert.

„Da hat deine Freundin aber gewaltiges Glück, so einen Freund wie dich zu haben", flüstere ich, da ich gerade zu nichts anderem imstande bin. Finley lacht kurz und rau auf. Sein Blick gleitet über mein Gesicht und bleibt an meinen Lippen hängen, nur um kurz darauf wieder zu meinen Augen hoch zu wandern. Ein Schauer durchfährt mich und ich bekomme eine Gänsehaut. Dieser Junge macht mich noch wahnsinnig. Und so stelle ich mich auf meine Zehenspitzen, um auch noch den letzten Abstand zwischen uns zunichtezumachen. Seine Lippen fühlen sich etwas rau an, doch es passt zu diesem Moment. Zu diesem Abend im späten Oktober. Auch sein Geruch. Einfach alles. Ich vergrabe meine Finger in seinen weichen Haaren und zerzause sie noch mehr. Finley reagiert darauf, indem er mich noch mehr an sich zieht und den Kuss daraufhin intensiver werden lässt. Doch gerade als ich meinen Mund etwas öffnen möchte, höre ich die Dielen in unserem Flur knarzen und beende den Kuss abrupt. Meinen Finger lege ich an meinen Mund, um Finley zu signalisieren, dass wir leise sein müssen.

Kurz darauf steht meine Mutter in der Küche und mustert uns beide interessiert. Wir stehen immer noch nah nebeneinander, zu nah um nur befreundet zu sein und auch Finleys Hand, die immer noch auf meiner Hüfte liegt, spricht für sich.

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