28.

Davor, zuvor, Vergangenheit

Eigentlich hätte ich damit gerechnet, dass Evan uns blöd angrinst und ihm irgendein bescheuerter Kommentar über die Lippen kommt. Aber dafür scheint er gerade gar keinen Kopf zu haben. Nein, er wirkt gestresst. Sein Blick huscht durch das Badezimmer, bleibt an mir hängen und wird verzweifelt flehentlich.

„Elfchen, ich brauche deine Hilfe."

Er benutzt zwar immer noch meinen Spitznamen, doch der Umstand, dass die Verzweiflung aus seinem Blick sich jetzt auch in seiner Stimme wiederfindet, bereitet mir große Sorgen.

Sofort klettere ich umständlich von Finleys Schoß, stolpere beinahe über meine eigenen Beine und stürze auf Evan und Frieda zu.

„Was ist passiert?", frage ich besorgt und leicht außer Atem.

Evan antwortet mir nicht sofort. Er geht in die Knie, um Frieda vorsichtig auf den Badevorleger abzulegen. Diese räkelt sich und nuschelt etwas Unverständliches vor sich hin. Erst dann antwortet Evan mir.

„Sie hat sich komplett volllaufen lassen. Also wirklich, ich hab' noch nie gesehen, dass sie so viel getrunken hat. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Aber das war noch nicht einmal mehr das Schlimmste."

Ich hätte Frieda nicht alleine lassen sollen. Erstrecht nicht nach dieser Woche. Nach dieser Woche, in der sie Tag für Tag Evan dabei zu sehen musste, wie er ein Mädchen nach dem anderen aufgerissen hat. Wieso war mir nicht klar, dass das passieren würde? Vielleicht weil sie trotz der Ereignisse der Woche so gefasst gewirkt hat, flüstert mir mein Unterbewusstsein zu. Aber was meint Evan mit – das war noch nicht einmal mehr das Schlimmste. Mein schlechtes Gewissen wächst ins unermesslich und in meinem Kopf entstehen die schrecklichsten Szenarien.

„Was ist das Schlimmste?"

Vorsichtig versuche ich Frieda in eine sitzende Position zu bringen. Dabei steigt mir der Geruch von Alkohol gepaart mit Friedas Parfüm in die Nase. Sie hat definitiv zu viel getrunken.

„Sie hat sich an zwei Jungs rangemacht! Betrunken wie sie war, sind die Jungs natürlich voll darauf angesprungen. Aber Frieda hätte sich doch nicht so verhalten müssen. Sie hat ihnen ihre Wertlosigkeit so offensichtlich gezeigt. Einfach traurig..."

Bitte was?! Für einen kurzen Moment bin ich wirklich davon ausgegangen, dass Evan doch nicht so ein Arschloch ist, aber anscheinend lag ich damit komplett daneben. Es scheint so als würde er es schrecklich finden, dass es Frieda so schlecht geht und es ist beinahe rührend ihm dabei zuzusehen, wie er Frieda behutsam gegen die Wand lehnt. Liebevoll streicht er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Doch seine Aussage passt einfach nicht ins Bild. Wie kann das, was er sagt so gegensätzlich zu dem sein, was er tut?

Ich hole gerade Luft, um Evan zu erklären, wie falsch seine Worte sind, als Frieda sich plötzlich zusammenkrümmt und würgende Geräusche von sich gibt. Sofort drehe ich mich zu ihr und schleppe sie so schnell es geht zur Toilette. Finley ist zum Glück so geistesgegenwärtig, dass er den Deckel der Toilette öffnet und Frieda so ohne Probleme einen Teil ihres Mageninhaltes in die Kloschüssel entleeren kann. Ihre Haare halte ich ihr aus dem Gesicht und muss mich wegen des Gestanks nach Magensäure beinahe selber übergeben. So viel zu eine gute Freundin sein.

Evan eilt zu Frieda, um zu sehen, ob es ihr gut geht. Doch ich halte ihn zurück.

„Du hast schon genug getan, Evan. Verschwinde!"

Erst schaut er mich verwirrt an, aber dann wird er wütend. Eine Ader an seinem Hals wird deutlich sichtbar und sein Blick hart als sich sein Kiefer anspannt. Wahrscheinlich muss er sich zusammenreißen, um mir nicht hier und jetzt eine rein zu hauen. Verdammt, wieso schaffe ich es immer mich mit den falschen anzulegen? Irgendwie habe ich ein Händchen dafür. Aber bevor Evan seine Beherrschung verliert oder seine Zähne zertrümmert bei dem Versuch sie zu bewahren, steht Finley auf. Natürlich ist es bescheuert, dass ich es mal wieder nicht geschafft habe mich aus einer brenzligen Situation selbst zu befreien, aber in diesem Moment muss ich meine ganze Kraft dafür aufwenden für Frieda da zu sein.

„Komm schon, Mann. Lassen wir die beiden alleine. Die bekommen das ohne uns viel besser hin."

Danke, Finley. Du bist ein Schatz.

Er schiebt Evan aus dem Badezimmer, schaut aber noch einmal über seine Schulter und schenkt mir ein liebevolles Lächeln, bevor er mit Evan in die Dunkelheit des Flures verschwindet.

„Du hättest ihn nicht verjagen müssen..."

Frieda sinkt stöhnend gegen die Wand und massiert sich die Schläfen. Wahrscheinlich wird es ihr morgen noch viel schlechter gehen. Arme Frieda...

„Natürlich! Hast du gehört, was er gesagt hat?", frage ich entsetzt.

„Bitte, Julie. Nicht so laut."

Sofort übermannt mich wieder mein schlechtes Gewissen. Jetzt ist kein guter Zeitpunkt, um mit Frieda über Evans Verhalten zu diskutieren. Sie ist nicht ganz zurechnungsfähig, da der Alkohol noch immer großen Einfluss auf ihre Sprache hatte und sie so aussieht als müsste sie sich jeden Moment erneut übergeben. Und ich? Ich bin zu subjektiv, denn Evan und alle anderen Jungs, ausgeschlossen Finley, stehen nicht in meiner Gunst, also würde ich folglich kein gutes Haar an ihm lassen.

„Ich habe gehört, was er gesagt hat, Julie. Aber du musst verstehen, dass er so nun mal eben ist und ich liebe ihn. Ich liebe ich mit all seinen Ecken und Kanten."

Am liebsten würde ich Frieda an den Schultern packen und kräftig durchschütteln. Sie muss endlich zur Vernunft kommen. Evan ist ein Mistkerl. Er hat zwar auch seine netten und lustigen Seiten, aber die negativen überwiegen meiner Meinung nach. Sie überwiegen gewaltig und ich kann nicht verstehen, wieso Frieda sich so behandeln lässt. Gerade Frieda. Eines der stärksten und selbstbewusstesten Mädchen, die ich kenne. Aber sie liebt ihn. Sie liebt diesen Mistkerl, der nur ein paar Minuten zuvor von ihrer Wertlosigkeit gesprochen hat.

„Frieda, ich weiß, dass das vielleicht nicht der beste Zeitpunkt ist, um-..."

„Dann lass es bleiben. Wenn das nicht der richtige Zeitpunkt ist, ist es eben nicht der richtige Zeitpunkt."

Ihre Augen sind geschlossen und ihren Kopf hat sie in den Nacken gelegt. Frieda hat recht. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sie zu fragen, ob sie das Gefühl hat, dass Evan auch nur ein klitzekleines Bisschen auf sie steht. Ich bin sogar der Meinung, dass es dafür nie einen richtigen Zeitpunkt gibt und gleichzeitig fühle ich mich als beste Freundin dazu verpflichtet, Frieda diese Frage zu stellen. Als wäre es meine Rolle als beste Freundin sie auf den Boden der Tatsachen aufschlagen zu lassen. Doch jetzt braucht Frieda keine Freundin, die ihr die Realität vor Augen führt. Zudem eine Realität von der ich nicht einmal mehr weiß, ob sie wahr oder besser gesagt real ist.

„Komm wir bringen dich jetzt mal nach Hause."

Ich stehe langsam auf und schaue sie auffordernd an. Mehr als einen ratlosen Blick bekomme ich von ihr nicht, bevor sie ihren Kopf wieder an die Fliesen legt.

„Bist du dir sicher, dass es eine gute Idee ist, wenn ich jetzt so nach Hause gehe?"

Zuerst verstehe ich nicht was sie meint. Gerade in ihrem Zustand wäre es doch das Beste die Party zu verlassen, aber dann dämmert es mir.

„Du möchtest nicht nach Hause... du machst dir Sorgen wegen deiner Eltern, oder?"

Frieda hatte schon das ein oder andere Mal erwähnt, dass ihre Eltern in einem kritischen Verhältnis zu Alkohol und anderen Drogen stehen. Sie wollen nicht, dass ihre Tochter auf die schiefe Bahn gerät. Und da ist es wahrscheinlich nicht so eine gute Idee, wenn sie ziemlich betrunken zu Hause aufkreuzt.

„Ja. Ich hab' es bis jetzt geschafft meinen Eltern noch nie komplett besoffen unter die Augen zu treten. Hab' häufig bei Evan übernachtet. Aber das geht gerade nicht. Denke, es ist offensichtlich warum."

Sie wirkt so hilflos, wie sie da neben der Toilette sitzt und melancholischen Gedanken nachhängt.

„Weißt du Frieda, dann schläfst du heute bei mir."

Ohne auf eine Reaktion ihrerseits zu warten, ziehe ich sie vorsichtig an den Schultern nach oben und lege mir einen ihrer Arme über die Schulter. Sie murmelt irgendetwas Zustimmendes und ein Lächeln verzieht ihre Lippen.

Auf dem Weg zur Eingangstür verfolgen uns zwei aufmerksame Blicke. Der eine wohlwollend und der andere mit einer Mischung aus Sorge und Zorn. Der eine gehört Finley und der andere Evan. Doch als wir an der Küche vorbeikommen, wird meine Aufmerksamkeit von etwas anderem angezogen. Besser gesagt von jemand anderem.

Inmitten der Küche umgeben von Bierflaschen liegt ein Junge auf dem Boden. Er liegt in einer Pfütze aus Milch, Bier und Cornflakes und scheint zu schlafen. Dieser Anblick kommt mir so surreal vor, dass ich erst ein paar Mal blinzeln muss, bevor mir wirklich klar wird, dass dieser Junge und die Verwüstung um und unter ihm keine Halluzination sind. Das macht die Szene aber nur noch trauriger.

Frieda, die sich wundert, wieso ich stehen geblieben bin, schaut an mir vorbei, um auch einen Blick in die Küche erhaschen zu können, aber als sie den Jungen sieht, dreht sie sich schulterzuckend wieder weg.

„Das is' nur Max. Hat's wahrscheinlich mal wieder 'n bisschen übertrieben. Passiert öfter. Der hat's aber auch nicht gerade einfach im Leben."

Ich blicke Frieda an und bin erstaunt, wie gefühllos sie über ihn redet, anderseits ist sie immer noch ziemlich betrunken, was die Gefühlslosigkeit erklären würde. Dennoch wundert es mich, dass es anscheinend nicht selten vorkommt, dass sich jemand so gehen lässt.

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