15.
Davor, zuvor, Vergangenheit
Wir stehen mehrere Minuten eng umschlungen unter dem Laubbaum bis sich der Regen endlich in ein sanftes Nieseln verwandelt hat und wir uns auf den Weg Richtung nach Hause machen können.
Ein paar Augenblicke zuvor hatte Finley seinen Kopf noch auf meinen gelegt und angefangen kleine Geschichten zu erzählen. Sie waren nicht besonders lang, aber seine ruhige gleichmäßige Art zu sprechen gepaart mit dem norwegischen Singsang, haben mir das Gefühl von Geborgenheit gegeben.
Jetzt ist von dieser Geborgenheit nicht mehr viel übrig. Wir stolpern über nasse Steine und morsche Äste immer darauf bedacht nicht hinzufallen und gleichzeitig nicht die Richtung zu verlieren. Heute hatte ich definitiv schon genug Abenteuer und brauche nicht noch eine Verirrung, geschweige denn eine Platzwunde, weil einer von uns doof stolpert. Doch die Strecke ist kürzer als erwartet und ich kann schon in wenigen Metern Entfernung den silbernen VW Golf von Finleys Gastmutter durch die Bäume blitzen sehen.
„Habt ihr beiden den Wetterbericht heute Morgen denn nicht gelesen?"
Davids Mutter ist eine kleine Frau mit weichem freundlichem Gesicht und ebenso weichen Körperproportionen. Kurz eine richtige herzliche Mama zum Liebhaben. Sie schaut uns aus fürsorglichen Augen an und öffnet rasch den Kofferraum, in dem wir unsere nassen Rucksäcke unterbringen, bevor wir in das kleine Auto einsteigen.
„Du bist also die sagenumwobene Julie", stellt Frau Acuna fest und mustert mich durch den Rückspiegel mit einem warmen Lächeln, das sich in ein Lachen verwandelt als ich Finley einen kurzen unsicheren Blick zu werfe. Er hat ihr von mir erzählt? Was er wohl alles gesagt hat? Doch dieser zuckt nur mit den Schultern und ein feines Grinsen legt sich auf seine Lippen. Aus dem werde ich wohl nichts rauskriegen.
„Keine Sorge, Schätzchen. Er hat nur Gutes über dich berichtet. Ich wusste gar nicht, dass der Junge so viele Adjektive kennt, die eigentlich nur eines aussagen. Ich mag dieses Mädchen echt gern."
Sein Grinsen kippt und Davids Mutter verfällt von neuem in ein Lachen, während sie den Wagen geschickt durch die bergige Landschaft lenkt.
Spricht Finley wirklich so viel über mich? Oder übertreibt seine Gastmutter einfach etwas? Eltern übertreiben bei sowas ja häufiger. Ich sollte dem also wahrscheinlich nicht allzu viel Bedeutung zuschreiben. Andererseits erwärmt mir der Gedanke, dass Finley seiner Gastmutter so viel anvertraut, das Herz. Natürlich kommt auch noch der Umstand hinzu, dass er ihr anvertraut hat, dass er mich mag.
Finley mag mich. Diese Feststellung bewegt etwas in mir. Etwas, dass sich immer bewegt, wenn Finley mich mit seinem Blick ansieht, er mir zuhört oder mich in den Arm nimmt. Es ist etwas. Ein Gefühl, das mich süchtig macht. Es ist diese Mischung aus der uneingeschränkten Aufmerksamkeit, dem wohlwollenden Ausdruck in seinen Augen und einfach allem. Einfach Finley. Eigentlich kann man das Gefühl nicht ausreichend beschreiben. Man kann Finley nicht ausreichend beschreiben.
Die Fahrt verläuft einigermaßen ereignislos. Hier und da macht Frau Acuna noch ein paar Kommentare, um Finley ein bisschen auf den Arm zu nehmen, aber als das nach wenigen Minuten langweilig wird, da Finley nach den ersten Kommentaren schon ein Lächeln ausfetzte, dass sich auch durch die neckischste Bemerkung nicht regt, geht sie über zu den Fragen. Und ich beantwortete ihr jede einzelne so gut wie möglich.
Die einzige Frage, die ich mir die ganze Zeit über stelle, ist – wie konnte David nur so ein Mistkerl werden? Seine Mutter scheint ein Engel zu sein, aber vielleicht ist ja gerade das das Problem. Vielleicht wurde er zu sehr verwöhnt und denkt jetzt, dass er sich alles rausnehmen kann. Aber vielleicht sollte ich auch einfach aufhören mir Gedanken über David zu machen und lieber im Hier und Jetzt sein. Denn Frau Acuna parkt gerade geschickt in eine enge Parklücke vor einer Reihe Einfamilienhäuser ein. Keine Reihenhäuser. Nein, sie stehen alle für sich und sind auch nicht sehr groß. Süße separat stehende Einfamilienhäuser.
„Keine Sorge, Julie. Es ist nicht weit bis zu unserem Haus. Um ehrlich zu sein stehen wir schon davor. Was ein Glück, dass der Parkplatz vor unserem Haus frei war, sonst wärt ihr schon wieder nass geworden", sagt Frau Acuna meinen Blick falsch deutend nachdem sie den Motor abgestellt hat.
Sie dachte wahrscheinlich, dass ich mir wirklich Sorgen mache erneut durchnässt zu werden, aber da meine Klamotten auf der fünfzehnminütigen Fahrt nicht wirklich getrocknet sind, hätte es keinen großen Unterschied gemacht, ob wir nun noch einmal durch den Regen spazieren müssen.
Finley der während meiner Befragung nichts mehr gesagt hat, scheint wie aus einer Trance erwacht. Sein stoisches Lächeln fällt ihm von den Lippen und er schließt für einen kurzen Moment seine Augen als müsste er sich nach der kurzen Autofahrt ausruhen. Vielleicht fühlt er sich aber auch einfach genauso energielos wie ich, was nach dieser kalten, nassen und anstrengenden Wanderung auch kein Wunder wäre.
„Das mit dem Wandern ist wohl nichts für uns."
Meine Stimme ist leise, fast ein Flüstern, aber ich bin mir sicher, dass er trotzdem verstanden hat, was ich gesagt habe, denn ein schiefes Grinsen kräuselt seine Lippen und ein leises Lachen entfährt ihm. Auch Davids Mutter schüttelt lachend den Kopf.
„Ihr könnt meinetwegen noch im Auto sitzen bleiben, aber ich gehe lieber ins Haus, da ist es viel gemütlicher und... falls ihr möchtet, kann ich euch ein schönes heißes Getränk machen."
Ohne auf eine Antwort zu warten steigt sie aus dem Auto und murmelt noch etwas wie – ja, das ist eine gute Idee. Das mache ich. Ich muss schmunzeln. Diese Frau ist super. Zwar war ich nie eines dieser Kinder, die sich eine andere Mutter gewünscht haben, aber Frau Acuna.... Bei ihr würde ich meine Meinung, die ich als fünfjährige hatte, vielleicht noch einmal überdenken.
Ich rutsche etwas zu Finley rüber, weil mich die Aussicht auf Wärme anspornt aus dem Auto und in das Haus zukommen, er aber an der Tür zum Bürgersteig sitzt und ich gerne vermeiden würde mich zwischen den Autos durch zu zwängen, um auf den Gehweg zu gelangen. Aber das weiß Finley natürlich nicht und sieht mich für einen kurzen Moment irritiert an, dann verändert sich der Ausdruck in seinem Gesicht aber. Diesen Ausdruck kann ich nicht wirklich deuten. Also doch eigentlich schon. Er schaut mich an als würde vor ihm gerade sein Lieblingsessen stehen und er ist kurz davor es aufzuessen. Nicht das ich denken würde, dass er mich gleich aufisst, aber... Ich sollte einfach schnell klären, aus welchem Grund ich zu ihm auf gerutscht bin.
„Finley, ich... naja, wollen wir nicht ins Haus gehen?"
„Ehm..."
Er räuspert sich verlegen und mustert mich flüchtig.
„Ja klar."
Einen Augenblick später sitzen wir beide schon auf dem Sofa in Davids Wohnzimmer. Er ist glücklicherweise nicht da, denn sonst hätte ich mir bestimmt den ein oder anderen blöden Spruch anhören können. Wahrscheinlich hätte ihm nicht gepasst, dass ich nur in eine Jogginghose und ein T-Shirt von Finley gekleidet in seinem Wohnzimmer sitze. Aber ich möchte eigentlich nicht mehr an ihn und seine dummen Bemerkungen denken. Schon vorhin im Auto wollte ich die Gedanken über ihn aus meinem Kopf verbannen. Das hat ja anscheinend nicht so gut geklappt. Aber ich verstehe nicht ganz, wieso ich meine Gedanken überhaupt an ihn verschwende. Vielleicht weil er mich so an jemanden anderen erinnert, den ich auch vergessen möchte.
Ich schließe meine Hände fester um die warme Tasse in meiner Hand und konzentriere mich wieder auf die Gegenwart. Die Gegenwart in der ich neben Finley auf einem bequemen schwarzen Sofa sitze. Mir das Prasseln des Regens anhöre und den Moment einfach genieße.
„Wollen wir uns vielleicht einen Film ansehen?"
Er betrachtet mich aufmerksam, wartet auf meine Reaktion und sieht dabei einfach umwerfend aus. Die blonden Haare die gerade anfangen zu trockenen und wunderbar unordentlich in alle Richtungen abstehen. Er ist der Inbegriff von unperfekter Perfektion. Mit seinen dunklen grünen Augen, der markanten Nase und den sinnlichen Lippen, die so wunderschön geschwungen sind. Sein Gesicht ein Gedicht.
„Julie?"
Ich schüttle mich. Schüttle die Gedanken ab und versuche mich zu fokussieren. Doch das ist so verdammt schwer, wenn jemanden wie Finley neben einem sitzt.
„Film klingt gut."
Nicht mehr und nicht weniger kann ich sagen. Nur zu diesen drei Worten bin ich gerade im Stande.
Einen Augenblich später bin ich aber wieder dazu fähig mit Finley über die Filme zu diskutiere, die zur Auswahl stehen. Den einen kennt er schon, den anderen kenne ich schon und der dritte ist ein Liebesfilm. Und nein. Ich werde mit Finley ganz sicher kein Liebesfilm schauen. Wer weiß wohin das noch führt.
„Gib's zu. Du möchtest den Film nur nicht schauen, weil es ein..."
Er legt eine künstlerische Pause ein.
„Liebesfilm ist", beendet er seinen Satz und ein verschmitztes Grinsen bildet sich auf seinen Lippen. Es ist beinahe anzüglich.
„Nein. Ich bin der Meinung, dass das bestimmt ein ganz schlechter Film ist und wir ihn definitiv nicht schauen sollten."
„Schau dir mal an, wie viele Auszeichnungen der bekommen hat und hier die Meinung eines Kritikers – „Bewegender, tiefgründiger Film, der einen nur mit Tränen in den Augen zurücklassen kann." Ich glaube, du hast Angst."
Ich hebe den Kopf und schüttle ihn energisch. Doch seine Augen blitzen daraufhin nur freudig auf. Innerhalb eines Sekundenbruchteils steht er genau vor mir, nur um mich im nächsten Moment in den Arm zu schließen und mich hochzuheben. Mir entfährt ein überraschtes Jauchzen und Finley beginnt sich etwas zu drehen. Es fühlt sich so gut an so nah bei ihm zu sein. Sein Geruch benebelt meine Gedanken und ich komme nicht einmal mehr dazu an den Jungen in den Schatten meiner Gedanken zu denken. Dieses Mal ist einfach alles so anders.
Finley lässt sich auf das Sofa fallen. Mich immer noch in seinen Armen und bevor ich mir der Situation wirklich bewusst werden kann, beginnen wir beide zu lachen. Es fühlt sich so frei, so unbeschwert an und ich wünsche, dass dieser Moment niemals enden möchte. Wir beide auf diesem Sofa. Und ich lege meinen Kopf auf seine Brust. Schließe meine Augen, in der Hoffnung, dass ich so diesen Moment auch nur für einen Augenblick einfangen kann.
„Wenn du wirklich keine Lust auf diesen Film hast, können wir gerne auch einen anderen schauen."
Mein Kopf liegt immer noch auf seiner Brust und er streicht mir sanft durch die Haare. Auch dagegen habe ich nichts. Was wahrscheinlich daran liegt, dass ich das Gefühl habe, dass ich dem allem jeder Zeit ein Ende setzen kann. Es nur ein Wort von mir braucht und ich gehen kann oder wir einfach ein paar Schritte zurück gehen. Und genau aus diesem Grund, verwerfe ich meine Bedenken mit Finley einen Liebesfilm zu schauen.
„Nein, ist schon okay. Wir können den Film schauen."
Seine Brust bebt und ein tiefes Lachen erklingt, dann beginnt der Film auf dem großen Bildschirm im Wohnzimmer. Dieses Lachen ist einfach umwerfend.
Ich mache es mir noch etwas gemütlicher auf Finley und er legt seine Arme sanft um mich. Als wäre ich die wertvollste und zugleich zerbrechlichste Person der Welt und er hat die Aufgabe bekommen so vorsichtig wie möglich diese Person zu beschützen.
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