14.

Davor, zuvor, Vergangenheit

Der Wald sieht aus wie ein knochiges Gestrüpp. Weiße Nebelschwaden geistern zwischen den kahlen Ästen umher und verleihen der Umgebung eine fantastische beinahe gruselige Atmosphäre. Auch die Bushaltestelle wirkt verlassen und das Haltestellenschild schwingt quietschend im kalten Wind sachte hin und her. Perfektes Setting für einen Horrorfilm. Es fehlt nur noch die angsteinflößende Gestalt.

Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Es sind erst drei Minuten vergangen, das heißt in 12 Minuten kommt der Bus und Finley hoffentlich auch. Wir wollten zusammen fahren, doch bei ihm ist etwas dazwischen gekommen, weswegen er erst den zweiten Bus nehmen konnte, ich jetzt alleine in der Kälte sitze und bereue nicht noch einen Pullover angezogen zu haben. Das Wetter und ich sind keine Freunde, andernfalls würde ich immer die passende Kleidung für das jeweilige Wetter anziehen. Aber wie wir wissen stirbt die Hoffnung nie und so hoffe ich, dass doch der revolutionäre Tag kommen wird, an dem ich weder friere, noch schwitze, weil ich wieder das falsche anhabe.

Ein Knacken der Äste beendet abrupt meine Gedanken und lässt mich erschrocken zusammenzucken. Was war das?

Mein Blick sucht die nähere Umgebung ab, aber da ist nichts und niemand zu sehen. Ich bin ganz alleine.

Nach einer gefühlten gruseligen Ewigkeit erblicke ich endlich den Bus, wie er um die Kurve kommt und direkt vor mir hält. Keine Sekunde länger hätte ich es hier ohne Finley ausgehalten.

Der Wald ächzte und stöhnte die ganze Zeit wie eine alte Frau und so konnte ich nicht einmal mehr ein Buch lesen. Doch ein gutgelaunter Finley, der gerade aus dem Bus aussteigt, hellt meine Stimmung wieder etwas auf.

„Na? Hast du dich schon mit den Bewohnern des Waldes angefreundet?", fragt er auch schon als er vor mir zum Stehen kommt.

Ich lächle schwach. Schon seine bloße Anwesenheit lässt den Wald weniger grau und angsteinflößend wirken. Es ist als würde er ein immerwährendes Licht in sich tragen, das alles heller und besser macht.

„Natürlich! Siehst du diese abgemagerte Krähe dort drüben, die droht gleich vom Ast zu kippen?", frage ich und deute auf einen schwarzen Vogel, der es sich auf einem Ast bequem gemacht hat und wirklich etwas abgemagert wirkt. Vom Ast wird er in nächster Zeit zwar nicht kippen, aber man hat ja auch seine erzählerischen Freiheiten. „Ich habe sie Hugin getauft."

„Hugin? Und wo hast du Mugin gelassen?", fragt Finley mit leicht ironisch verzogenem Mund.

„Du erfüllst wirklich das Klischee eines Norwegers. Sogar mit der nordischen Mythologie kennst du dich aus", sage ich mit einem erstaunten Ausdruck. „Mugin sitzt gleich dort drüben. Er ist etwas molliger, aber sie beide haben Probleme mit dem Gleichgewicht."

Woher ich diesen Humor nehme, weiß ich auch nicht, aber vielleicht haben mich diese zwölf Minuten in der gruseligen Einsamkeit auch nur verrückt werden lassen. Oder die Kälte hat wichtige Teile meines Gehirns eingefroren und darum fallen mir heute besonders witzige Witze ein.

„Wenn, du liebe Julie, dich mit nordischer Mythologie auskennen würdest, würdest du wissen, dass die Vögel von Odin keine Krähen, sondern Raben sind."

Mit einer belehrenden Mine betrachtet er mich, doch in seinen Augen spiegelt sich Belustigung und erinnert mich an den Grund, wieso ich mein Gewissen unter Finley stellen könnte. Er ist einfach er. Nichts an ihm wirkt falsch oder aufgesetzt. Natürlich haben wir alle etwas zu verbergen, doch was immer es ist, das Finley hin und wieder die Fröhlichkeit aus dem Gesicht fegt, gilt es herauszufinden, aber ich glaube kaum, dass es etwas an seiner Wahrhaftigkeit ändern würde.

Auf Finleys Belehrung erwidere ich nichts als ein Schulterzucken gepaart von einem unschuldigen Lächeln. Wenn man eben keine Raben zur Verfügung hat, müssen wohl auch Krähen reichen.

„Wollen wir dann los?", fragt Finley.

„Wann, wenn nicht jetzt?"

Mit diesen Worten stürzen Finley und ich uns in das Abenteuer Wald-Spaziergang.

„Und du bist die ganz sicher, dass wir da vorhin abbiegen mussten?", frage ich kritische als ich mich schon wieder aus einem dornigen Gebüsch hervor kämpfen muss. Diese kleinen Widerhaken der Dornen verfangen sich aber auch nahe zu perfekt in meiner Jacke.

„Ja, ich bin mir wirklich hundertprozentig sicher."

Die Frage habe ich Finley nun schon zum fünften Mal gestellt und dem entsprechend genervt ist er von ihr, aber ich kann einfach nicht glauben, dass der Weg durch dieses unbändige Unterholz gehen soll.

„Darf ich mir mal die Karte anschauen."

Ich vertraue auf Finleys Einschätzung. Es ist nur so, dass man zuletzt immer nur dem eigenen Kopf trauen kann und somit bleiben wir stehen, damit er mir die Wanderkarte geben kann. Vielleicht beruht mein Vertrauen auch auf dem Klischee, dass sich Skandinavier gut in Wäldern auskennen und eine gute Orientierung haben. Wovon ich bei dem Exemplar, das gerade die Karte aus seinem Rucksack zerrt, nicht sehr von letzterem überzeugt bin. Zu oft sind wir jetzt schon an der nassen verbogenen Tanne vorbeigekommen und ich hätte schwören können, dass die Tanne von Mal zu Mal trockener wurde, was natürlich darauf hindeutet, dass wir schon eine ganze Weile im Kreis laufen.

Grummelnd überreicht Finley mir die Karte. Sie hat schon hier und da kleine Risse, riecht aber immer noch wie frisch gedruckt. Eigentlich komisch. Ich entfalte sie, achte darauf die Risse nicht noch zu verschlimmern und versuche auszumachen, wo wir sind. Im Kartenlesen war ich zwar noch nie die Beste, aber schon nach ein paar Augenblicken ist mir klar, wo unser Fehler lag.

Wir befinden uns einen ganzen Kilometer von unserem eigentlichen Weg entfernt, denn entlang dieses Weges sollte jetzt eigentlich ein kleiner Bach vor sich hinplätschern, der unserer Geräuschkulisse hier nicht zu entnehmen ist. Aber wie konnte das passieren? Wie haben wir es geschafft so weit vom Weg abzukommen?

Dann fällt mir Finleys Fehler auf...

„Finley, wie rum hast du die Karte eigentlich die ganze Zeit gehalten?"

Ich versuche meine Frage so wenig verurteilend wie möglich klingen zu lassen und schaue von der Karte auf. Direkt in seine grünen Augen, die der Fauna um uns herum so sehr ähneln.

„Nicht so rum wie du würde ich sagen."

Er hat sofort verstanden, worauf ich hinaus wollte und Scham färbt seine Wangen rot. Oder es ist die Kälte, die auch mir immer mehr zu schaffen macht. Dennoch steht ihm seine Verlegenheit ins Gesicht geschrieben.

„Okay... dann würde ich sagen, wir suchen einfach unseren Weg und du versuchst jemanden zu erreichen, der uns wieder in die Stadt fährt, denn der letzte Bus ist vor zehn Minuten abgefahren."

Mein Versuch diese Situation wieder in Ordnung zu bringen, sollte eigentlich nicht zum Scheitern verurteilt werden, aber das Wetter, mein liebster Freund, hat sich etwas ganz anderes überlegt. Die grauen Regenwolken, die schon den ganzen Tag den Himmel bedecken, beschließen in diesem Moment, dass jetzt doch der richtige Zeitpunkt für ein Sturzregen wäre.

Warum Finley und ich immer wieder Opfer von heftigen Regengüssen werden? Na, das ist die Eine-Millionen-Euro-Frage. Aber bevor ich mir weiter Gedanken über unsere Zukunft als Millionäre machen kann, zieht mich Finley sanft in den Schutz eines großen Laubbaumes.

„Ich glaube, wir müssen den Plan ändern", merkt Finley an. Sein Blick ist auf die Wassermassen gerichtet, die vor uns die Erde aufweichen. Ich nicke nur und forsche in meinem Gedanken nach einem neuen Plan, während ich die durchnässte Karte nach möglichen Wegen absuche.

Finley der dicht hinter mir steht hat anscheinend jemanden erreicht, denn ich vernehme seine Stimme, ebenso wie ein sachtes Vibrieren an meinem Rücken.

Die Karte zeigt verschlungene Wege, die sich hier und da kreuzen, aber auch die eine oder andere Straße. Nicht weit von hier zieht sich eine Straße durch die Landschaft. Ich verfolge sie weiter, um ihren Ursprung ausfindig zu machen und siehe da. Sie führt zu einer größeren Landstraße, die wiederum gut von der Stadt zu erreichen ist.

Schnell zeige ich Finley meine Entdeckung, damit er der Person am Telefon gleich durchgeben kann, wo wir uns befinden und wie sie am besten zu uns gelangen kann.

„Dir muss doch eiskalt sein."

Finley hat gerade sein Handy in der Jackentasche verstaut und sieht mich mitleidig an. Meine Regenjacke hat zwar dem Großteil des Wassers davon abgehalten, den Rest meiner Klamotten zu durchtränken, aber der Wind, der durch die Baumwipfel pfeift, lässt mich vor Kälte zittern. Ja, mir ist verdammt nochmal eiskalt, aber was bleibt uns denn anderes übrig, als hier zu stehen und zu warten, bis der Regen etwas weniger sintflutartig ist, damit wir dann zu der kleinen Straße wandern können. Also nicke ich einfach nur.

Wieder betrachtet er mich mit diesem mitleidigen Blick und zieht mich kurz entschlossen in seine Arme. Er tut es auf eine liebevolle und gleichzeitig bestimmte Art und Weise. Zuerst habe ich nur seine nasse Regenjacke an meiner Wange, aber dann spüre ich die Wärme, die trotz des miesen Wetters von ihm ausgeht.

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