XXIV. Mehr braucht es nicht

Berlin-Lichtenberg, 1999.


Auch, wenn sie ihren dunkelgrünen Ohrensessel nicht vermisste – und auch nicht die schreckliche dunkelbraune Tapete mit den orangen Kreisen – musste Maria oft daran denken. Aus ihrer alten Wohnung hatte sie nichts mitgenommen. Die Bude, in der sie nun mit Alex wohnte, war schon voll eingerichtet gewesen. Nicht, dass diese Einrichtung in besonderem Maße anders oder schöner wäre als das Zeug aus ihrer früheren Wohnung. Aber es gab ihr ein anderes Gefühl.

Wenn Alex in der Arbeit war oder einfach nicht zu Hause, so wie jetzt gerade, dann setzte Maria sich oft auf den Balkon. Auch dann, wenn das Wetter nicht ganz so schön war. Irgendwie empfand sie geschlossene Räume zunehmend als erdrückend, obwohl sie nicht genau sagen konnte, warum. Früher hatte sie keine Probleme damit gehabt. Früher. Es fühlte sich so an, als hätte ihr altes Leben nie existiert. Als sei das, was in der Vergangenheit lag, alles nicht real gewesen. Oder vielleicht war die Gegenwart einfach nur eine Illusion?

Maria hatte eine Familie gehabt. Einen Mann und drei Kinder. Dann war alles zerbrochen: Mann weg, Tochter weg. Vom perfektem Leben zum Trümmerhaufen. Doch sie hatte sich nie unterkriegen lassen. Hatte als Krankenschwester gearbeitet. Irgendwann hatte sie ihren Mann dann zurückbekommen, alles schien wieder bergauf zu gehen. Bei dem Versuch, endlich auch ihre Tochter wieder in die Familie zu holen, war dann ihr ganzes Leben auf dem Boden der Tatsachen zerschellt. Und jetzt hatte sie gar nichts mehr.

Mann weg, Kinder weg. Sie lebte gemeinsam mit einer Leidensgenossin und ihrer Tochter in einem Wohnblock. Dass Alex ihr dieses Angebot überhaupt erst gemacht hatte, war ein Segen gewesen und Maria wusste nicht, wie sie es ihr jemals danken konnte. Als ob das nicht genug wäre, hatte sie mit Maria verabredet, gegen Eugen auszusagen. Sie hatten ihn beide mit vereinten Kräften ins Gefängnis gebracht und irgendwie wurde Maria das Gefühl nicht los, dass Alex das ausschließlich für sich selbst getan hatte. Nicht für Maria oder sonst wen, sondern für sich allein.

Um ihrer Mitbewohnerin etwas zurückgeben zu können, auch wenn es nichts Finanzielles war, kümmerte Maria sich um ihre Tochter Klara, wenn Alex arbeiten ging. Sie hatte den kleinen blonden Lockenkopf in ihr Herz geschlossen, als sei sie ihr eigenes Kind. Auch, wenn ihr Anblick Maria immer an Eugen erinnerte, verdrängte sie diese Gedanken, sobald die kleine Maus kicherte oder an Marias langen Haaren zupfte und sie zum Spielen aufforderte.

Gerade schlief die Zweijährige und Maria hatte nichts zu tun. Die Stellenanzeigen in der Zeitung hatte sie schon durchforstet – ohne Erfolg – also würde sie den Fernseher einschalten und darauf warten, dass Alex von ihrem Besuch im Gefängnis nach Hause kam. Maria konnte es nicht ganz nachvollziehen, warum ihre Mitbewohnerin dieses Ungeheuer besuchte. Sie wusste zwar, dass ohne ihn der Kontakt zu Leonie niemals so schnell – oder überhaupt – zustande gekommen wäre. Allerdings wusste sie auch, dass Leonie ohne ihn in ihrer leiblichen Familie geblieben wäre.

Wenn Maria jedoch ehrlich zu sich war, dann musste sie sich fragen, ob es nicht so oder dazu gekommen wäre. Wenn es nicht Herr Doktor Eugen Wanner gewesen wäre, der sie zu einer Unterschrift gezwungen hätte, die ihr ganzes Leben verändern sollte, dann wäre es jemand anderes gewesen. Das machte die Sache zwar nicht besser, doch dieser Gedanke hatte Maria immer dann gerettet, wenn sie wieder in Bitterkeit zu ersticken drohte.

Vielleicht hatte sie noch nicht endgültig ihren Frieden mit der Vergangenheit geschlossen – das wurde ihr immer dann klar, wenn Wanner zur Sprache kam – doch sie war auf einem guten Weg dahin, eine Lösung für sich selbst zu finden, um damit klarzukommen. Im nächsten Jahr kam Leonies achtzehnter Geburtstag. Dann würde Marias Tochter mit ihrem kleinen Sohn nach Lichtenberg ziehen. Eine WG voller starker Frauen, das würden sie abgeben. Und sie würden sich gegenseitig unterstützen und sich Halt geben, wenn das Leben einmal wieder aus den Fugen geriet.

Was war es denn gewesen, was Maria all die Jahre zum Weitermachen bewegt hatte? War es tatsächlich der Hass auf Wanner gewesen? War es der unbedingte Wille gewesen, sich an ihm zu rächen? Das war möglich. Und diese Überlegung tat weh. Denn das hieß im Umkehrschluss, dass Maria nicht wegen Leonie weitergekämpft hatte, sondern wegen Wanner. Auch, wenn die Motivation jeweils eine andere war. Hatte sie denn nur deshalb so verbissen versucht, ihr Leben in den Griff zu bekommen, weil sich früher oder später die Möglichkeit zur Rache an diesem Monster ergeben hätte? Maria entschied, diese Frage heute nicht beantworten zu wollen.

Die Entscheidung wurde ihr durch das Klingeln des Telefons erleichtert. Sie stand auf und hinkte zu der weiß lackierten Kommode, auf der es bimmelte. Bevor sie den Hörer abnahm, blitzte in ihrer Erinnerung das Bild einer dunkelbraunen Kommode auf, die einen Haufen guter Tischdecken und noch etwas anderes in sich verborgen hatte. Ein Etwas, das da drin gar nichts verloren hatte ... Alex und Thomas waren die einzigen Personen, die Marias Geschichte kannten und sie bildeten so ziemlich zwei Gegenpole. Während Thomas nicht das geringste Bisschen Verständnis dafür hatte, war Alex durchaus in der Lage gewesen, sich in Maria hineinzuversetzen. Wahrscheinlich war das nur deshalb möglich, weil die beiden ein Schicksal teilten.

„Maria Kamp", meldete sie sich.

„Mama?" Marias Herz schmolz, als sie die Stimme hörte.

„Leonie! Ist alles in Ordnung?", fragte sie.

„Ja ... ja, alles gut. Ich ruf' ja sonst eher später an, aber der Kleine schläft gerade ..."

„Das ... gut, ich meine, ich freue mich immer, dich zu hören, das weißt du doch!"

„Ja, klar. Ich wollte dir einfach sagen, dass ich dich liebe." Es traf Maria heftig und unvorhergesehen. Sie war mit einem Mal nicht mehr in der Lage, zu sprechen, zu atmen oder sich zu bewegen. Tränen verschleierten ihre Sicht und der altbekannte Klotz in ihrem Hals schnürte ihr die Luft ab.

„Mama? Bist du noch dran?", kam es vom anderen Ende.

„Ja ... ja, ich bin da", brachte Maria hervor und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

„Okay, ich wollte dir das nur sagen."

„Ich liebe dich auch, mein Schatz", sagte Maria mühsam. Im Hintergrund hörte man nun das Schreien von Leonies Sohn. Sie verabschiedete sich und Maria war ganz erleichtert darüber, denn dieser eine Satz hatte gerade etwas in ihr bewegt. Wie in Trance ging sie ins Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. Sie sah nach draußen, wo es außer den benachbarten Hochhäusern gar nicht viel zu sehen gab. Doch auf einmal fand eine Veränderung statt. Diesmal nicht in ihrem Kopf, sondern eine Etage darunter, in ihrem Herzen. Als ob es aus seinem Winterschlaf erwachte, regte sich etwas darin.

Ich wollte dir einfach sagen, dass ich dich liebe.

Immer und immer wieder ging der Satz ihr durch den Kopf und floss direkt in ihr Herz.

Ich wollte dir einfach sagen, dass ich dich liebe.

Mehr brauchte es doch gar nicht.

Ich wollte dir einfach sagen, dass ich dich liebe.

Und Maria konnte ihre Frage trotzdem nicht beantworten. Die Frage danach, ob Liebe oder Rache in den letzten Jahren die treibende Kraft gewesen waren, die sie am Leben erhalten hatte. Doch eines wusste sie, nämlich dass sie sich jetzt darüber im Klaren war, wo ihre Prioritäten lagen. Und zwar nicht bei Eugen Wanner, der in der JVA schmorte, wegen etwas, das er nicht getan, aber sehr wohl verdient hatte. Nein, ihr Fokus lag nun auf ihrer Familie. Auf Leonie. Auf ihrem zuckersüßen Enkel.

Ich wollte dir einfach sagen, dass ich dich liebe.

Mehr brauchte es doch wirklich nicht.




(Gesamt: ca. 28.400 Wörter)

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