XXI. Ein Blick zurück
Dresden, Friedhof, 1999.
„Ich kann es immer noch nicht so ganz begreifen."
„Das werde ich auch nie ..."
Ein rotbraunes Blatt flog zielstrebig auf die Figur eines kleinen verwitterten Engels zu, verfing sich in dessen Flügeln, wurde aber schließlich durch den eisernen Willen des Windes über dessen nachdenklich schräg gestellten Kopf mit dem runden, kindlich wirkenden Gesicht hinweg gepustet.
„Hast du sie schon hierher gebracht, um ihr das zu zeigen? Oder wirst du das noch tun?"
„Nein, habe ich noch nicht. Ehrlich, ich weiß gar nicht, wie ich das anstellen soll. Wann ist man denn alt genug für sowas?"
Zwischen den kahler werdenden Baumkronen kämpfte sich die Sonne durch den diesigen Himmel. Ein goldener Oktobertag stand in den Startlöchern – vorausgesetzt, der zähe Wolkenschleier würde ihn lassen.
„Alt genug, um ..."
„... um sein eigenes Grab zu sehen."
Die beiden Frauen sahen sich gegenseitig an. Die größere von beiden zog sich ihre cremefarbene Strickjacke enger um den Körper. Ihre schulterlangen braunen Haare – eine undefinierbare Mischung aus Locken und Wellen – wurden vom Wind zerzaust. Das Grab, vor dem sie standen, war in keinem sehr gepflegten Zustand. Und das war nett gesagt. Mit ihrem Umzug nach Westberlin hatte Alex auch dieses Relikt zurückgelassen. Es hätte ihr doch immer nur diese eine falsche Tatsache vor Augen geführt: Edith lebt nicht mehr. Es hätte sie in Trauer gestürzt, der vollkommen falsche Weg.
Sie erinnerte sich an das, was Esther ihr damals im Café bei einem Bienenstich über ihre eigene Schwester gesagt hatte. Die Schwester, die ihr Kind auch verloren hatte. Es gäbe ein Grab, doch sie besuchte es nicht. Weil sie nicht glauben wollte, dass da unten wirklich ihr Kind liegen sollte. Bei Alex war es genau dasselbe, nur sie hatte nun Gewissheit. Wer wusste schon, was letztendlich da unten in der Holzkiste lag? Alex wollte es nicht wissen, denn das Einzige, was zählte, war doch das hier: Es war nicht Edith.
„Ich hatte da eine Freundin, die das alles nicht glauben wollte. Wie gerne würde ich sie hierher schleifen und ihr dieses Grab zeigen. Und ein aktuelles Foto von Edith. Und dann würde ich sie gerne fragen, was sie mir dazu zu sagen hat", sinnierte Alex und fixierte die kleine Engelsfigur. Schneeweiß war sie sicherlich einmal gewesen, jetzt voller Grünspan. Gut bedeckt wie mit einem grünen Mäntelchen, gewappnet gegen jeden Winter und jeden Sommer. Alex hatte keine Ahnung, wer die Figur dorthin gestellt hatte, aber irgendwie kamen ihr die Tränen bei dem Anblick des verwaisten Grabs. Eine Schlingpflanze hatte bereits zum Eroberungszug angesetzt und wand sich um den Stein, auf dem der Name sowie das Geburts- und vermeintliche Sterbedatum von Alex' Tochter eingraviert war.
„Ich danke dir, dass du mit mir hierher gekommen bist", sagte sie zu der Frau mit den rotblonden Haaren, die in den letzten drei Jahren schlagartig immer weißer geworden waren. Jetzt erinnerte ihr Anblick an eine alte Füchsin.
„Das ist selbstverständlich", antwortete diese und lächelte herzlich. Die Bitterkeit in ihrer Seele schien sich aufgelöst zu haben, auch wenn Alex sich immer wieder fragte, wie man all das ertragen konnte. Aber dann blickte sie in den Spiegel und wurde immer wieder daran erinnert, was sie selbst alles durchgemacht hatte.
„Wir halten zusammen", setzte Maria hinzu und jetzt flammte doch etwas in ihren Augen auf, das Alex ihre Worte in Gedanken wieder zurücknehmen ließ. Vor ihr stand eine alte Frau, die nicht nur eine Großmutter war, sondern auch mehr und mehr danach aussah. Angefangen von dem beschwerlichen Hinken beim Gehen bis hin zu ihrem Gesicht, in das die leichten, aber nicht zu bestreitenden Falten ihren Lebenslauf gezeichnet hatten.
„Wir halten zusammen", bestätigte Alex, legte den Arm um Marias Taille und zog sie näher zu sich heran. Achtunddreißig. Diese Frau war achtunddreißig Jahre alt und damit nur vier Jahre älter als Alex. Niemand würde sie jemals besser verstehen und ihr Leid so gut nachvollziehen können wie diese Frau. Es war schwer zu beschreiben, was da passiert war, in den Jahren.
„Wirst du das Grab auflösen?", fragte Maria. Sie trug ein knielanges schwarz-weißes Strickkleid, das ihr etwas zu groß war. Sie wirkte verloren darin. Alex ließ sie wieder los und ging vor dem Stein in die Hocke.
„Ja. Ich kann es nicht ertragen, dass es existiert. Dieses Grab ist doch einfach eine Lüge. Edith lebt", erwiderte Alex. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Maria die Arme um ihren Körper schlang. Ihre Jacke lag in Alex' Auto, auf der Rückbank. Die gealterte Frau hatte sich vom trügerischen Schein der Sonne täuschen lassen. Ohne Kommentar zog die Jüngere sich ihre helle Strickjacke aus und legte sie der Älteren um die Schultern. So standen beide noch eine Weile da, in Stille.
„Gehen wir", beschloss Alex dann, „es gibt noch einiges zu erledigen."
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