XVIII. Kleines Geheimnis
Krankenhaus Berlin-Lichtenberg, 1995.
Klong. Klong.
Es war absurd.
Klong. Klong.
Es war absurd, dass in Marias Tasche beim Laufen eine Waffe gegen ihre Thermosflasche mit stillem Mineralwasser stieß und dieses hohle Geräusch verursachte.
Klong. Klong.
Bei jedem Schritt den Krankenhausflur entlang. Zwei Kollegen kamen ihr lächelnd entgegen und niemand schien Notiz davon zu nehmen. Die Stationsärztin grüßte sie und warf nicht einmal einen Blick auf ihre Tasche, trotz ...
Klong. Klong.
Endlich im Ankleideraum angekommen, platzierte sie die Tasche vorsichtig vor ihrem Spind. Dabei gab ihre Tasche ein letztes, verhaltenes Klong aus ihrem Inneren von sich. Annika musste noch nicht da sein, denn sie ließ die Tür von ihrem leeren Fach immer offen, wenn sie nicht gerade im Dienst war. Auch gut, denn mit der guten – zu guten – Beobachtungsgabe ihrer Kollegin wäre es so gut wie sicher, dass sie hinter Marias kleines Geheimnis kommen würde, das da in der Tasche lag.
Dabei wollte sie die Waffe nicht einmal benutzen, sondern direkt nach Dienstende in der Elbe versenken. Bei Dunkelheit, wenn keiner so wirklich etwas sehen würde. Also genau so heimlich, wie sie das Teil erstanden hatte. Wenn Maria daran dachte, in was für Probleme dieses Metallstück sie hineinmanövriert hätte, zog sich ihr Magen zusammen. Als ob sie gerade nicht genug Schwierigkeiten haben würde ...
„Morgen!", trällerte Annika fröhlich und ließ ihren Rucksack schwungvoll in den Spind plumpsen. Eilig verstaute auch Maria ihre Handtasche, darauf bedacht, dass sie kein weiteres Klong von sich gab.
„Morgen", gab sie tonlos zurück.
„Und?" Oh, es war ja klar gewesen, dass der Teufel mit dem blonden Dutt direkt zur Sache kommen würde. Maria hatte in der vergangenen Nacht quasi gar nicht geschlafen. Zuerst hatte sie darüber nachgedacht, es mit sich selbst auszumachen, aber dann hatte sie Thomas davon erzählt. Von der Sache mit Annika, nicht der mit der Waffe. Letzteres wusste niemand und das sollte auch so bleiben.
Nachdem sie beide bis um drei Uhr früh im Wohnzimmer das Für und Wider abgewägt hatten, waren sie zu dem Entschluss gekommen, dass dies eine einmalige Gelegenheit sein könnte, um einen Kontakt zu Leonie herzustellen. Thomas hatte Maria zu nichts gedrängt, im Gegenteil. Es war schlussendlich ihre eigene Entscheidung gewesen. Sie würde ihren Job verlieren und es würde ein Verfahren gegen sie eingeleitet werden, wegen fahrlässiger Körperverletzung, höchstwahrscheinlich.
Barbara Gemmer, die aktuell nicht mehr war als Haut und Knochen, hatte die tödliche Verwechslung wie durch ein Wunder überlebt. Früher oder später würde sie ihrer Krankheit erliegen, aber nicht durch das Verschulden von Maria oder Annika oder sonst wem. Vielleicht würde die Sache mit dem Verfahren am Ende doch nicht so schlimm werden ...
„Ich werde es machen. Aber ich brauche von dir die Zusicherung, dass der Kontakt zu meiner Tochter auf jeden Fall hergestellt wird", raunte Maria drängend.
„Ja, doch!" Annikas Augen leuchteten. „In der Pause mache ich einen Anruf. Du wirst die Tage dann Post bekommen und ..."
„Die Tage? Nein. Bis dahin habe ich doch meine Aussage schon gemacht und mich selbst stark belastet. Was, wenn du mich nur hinhalten willst und dann doch nicht lieferst?", fragte Maria lauernd und schloss ihren Spind ab.
„Ich seh' schon, du vertraust mir nicht. Gut, dann kommst du eben mit und hörst zu, bei dem Telefonat. In der Telefonzelle ist ja genug Platz für zwei, nicht? Die Frau am anderen Ende wird mir die Adresse nennen, unter der Leonie zur Zeit gemeldet ist. Natürlich kann ich dir nicht versprechen, dass ein Kontakt zustande kommt. Wenn ihre Adoptiveltern das nicht wollen, kann ich nichts machen. Aber ich ebne dir den Weg dafür ... Tja und direkt danach begleite ich dich zur Klinikleitung, damit du beichten kannst ...", plauderte Annika, als würde sie über vollkommen Alltägliches sprechen und nicht darüber, dass Marias Leben im Begriff war, sich heute grundlegend zu verändern.
Die Rothaarige nickte nur, was Annika wohlwollend zur Kenntnis nahm. Das alles tat sie für Leonie. Und wegen Wanner. Weil er ihre Tochter weggenommen hatte. Für einen Moment war es Maria, als würde die Waffe in der Tasche nach ihr rufen, durch die metallene Spindtür hindurch. War sie überhaupt geladen? Verkaufte man geladene Waffen oder musste man sich die Munition separat besorgen? Bei den batteriebetriebenen Spielzeugen ihrer Kinder waren doch auch oft die passenden Batterien dabei. Herrje, das konnte man doch überhaupt nicht vergleichen ...!
„Gut. Dann sehen wir uns zur Pause nachher", meinte Annika zufrieden und verschwand. Als die Tür zum Ankleideraum hinter ihr zufiel, schwenkte Marias Blick zu dem Spind. Und ihre Gedanken wanderten voller neugieriger Faszination zu dem, was sich im Inneren ihrer Tasche befand.
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