XVI. Deal?
Berlin-Lichtenberg, 1995.
„Es ist kein Geheimnis, dass du nach deiner Tochter suchst ..."
In Ordnung ... und? Maria hatte es nie verhehlt, dass ihre kleine Tochter ihr entzogen worden war. Auch, wenn sie wusste, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde, sie sei eine Rabenmutter und es sei deshalb so gekommen. Das war ihr immer egal gewesen, denn eine Zusammenführung mit ihrer Tochter stand über ihrem eigenen Ego.
„... und als ich dich überrascht habe, als du das Morphium vorbereitet hast, da kann ich mir denken, was für Gedanken dir durch den Kopf gegangen sind, ich habe nämlich gesehen, wie du gezögert hast ..."
Na und? Jetzt maßte sich dieser Neunmalklug an, Marias Gedanken lesen zu können? Beweisen würde Annika es sowieso nicht können. Also, worauf wollte sie hinaus? Maria erpressen? Das klang jetzt schon durch ...
„... und ich kann dich auch verstehen. Die haben meinen Bruder damals nach Hohenschönhausen verfrachtet. Zum Glück war das kurz vor dem Mauerfall gewesen, weißt du, und er saß da nicht lange, aber immer noch lange genug. Und glaub mir, wenn ich ein Fläschchen Morphium in der Hand und die Verantwortlichen auf der Krankentrage vor mir hätte, ich würde auch ins Überlegen kommen ..."
War das jetzt ernstgemeint oder bloß Heuchelei? Maria kannte ihre Kollegin nicht gut genug, um den Wahrheitsgehalt beurteilen zu können. Tatsächlich hatte Annika nie über ihre eigene Familie gesprochen, weswegen es auch schwer nachzuvollziehen war, ob sie überhaupt einen Bruder hatte oder ob sie nur bluffte. Verdammt, hätten sie nicht 1995, würde Maria sich sicher sein, hier eine IM vor sich zu haben, die sie dazu verleiten wollte, zu plaudern.
„... also, ich kann dich gut verstehen, siehst du? Und ich will dir helfen. Ich habe einen Kontakt beim Jugendamt. Vielleicht würde sich da was machen lassen, um deine kleine Maus zu finden ..."
Angespannt biss Maria die Zähne fester aufeinander. Aha, sie konnte spüren, in welche Richtung das Gespräch ging. Der Köder wurde ausgeworfen und ...
„... wenn du mir dafür auch einen Gefallen tun würdest. Ich stehe am Anfang meines Berufslebens, bin gerade mal aus der Ausbildung raus. Wenn das mit der Gemmer ans Licht kommt, wird man mich doch schnurstracks feuern. Aber du bist schon länger in dem Beruf und warst immer zuverlässig, würde ich wagen zu behaupten ..."
Ob sie es wollte oder nicht, drückten sich die Tränen von hinter Marias Augen hervor. Nein, sie wollte jetzt nicht weinen, doch diese dumme Ziege hatte Leonie ins Spiel gebracht. Wenn es einen Punkt in Marias Leben gab, bei dem sie ihre hart antrainierte Selbstbeherrschung verlieren konnte, dann war es ihre Tochter. Ihre Tochter, die jetzt im Jugendalter angekommen war und bei Fremden auswuchs. Leonie, die sie so gerne wieder in die Arme schließen und nie mehr loslassen würde. Maria verschränkte ihre Arme vor der Brust, um zu verbergen, dass ihre Hände zu zittern begannen.
„... Folgendes: Du nimmst die Schuld mit der Überdosis von der Gemmer auf dich und ich gebe dir die Telefonnummer von meinem Kontakt. Ich bin mir sicher, dass ..."
„Wie kannst du es wagen?", platzte es aus Maria heraus. Vor Schreck über den plötzlichen Ausbruch sprang Annika vom Sofa auf, fiel aber augenblicklich wieder zurück, als Maria einen Schritt auf sie zu machte und ihr die Fluchtmöglichkeit nahm.
„Nur ruhig, ich will doch nur ...", versuchte Annika zu beschwichtigen.
„Verschwinde sofort!", schrie Maria. Ihr Gegenüber war sichtlich schockiert und schaffte es nicht, das zu verbergen.
„Wir beide werden unseren Job verlieren, niemand hätte was davon, überleg doch!", versuchte Annika eindinglich auf die Rothaarige einzureden. Sie saß auf der hässlichen Couch und schaute von unten zu ihrer älteren Kollegin hoch. In ihren Augen sah Maria die Angst vor dem Unvorhersehbaren, gleichzeitig aber noch immer den Willen zu berechnen. Den Willen, die Situation zu kontrollieren und das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Und sie würde nicht aufgeben.
„Was kann dir schon passieren? Es war eben ein Versehen, das musst du glaubhaft machen. Sie ist ja nicht draufgegangen, also? Was soll dir passieren? Vielleicht bekommst du eine Verwarnung. Aber ich kann dir die Möglichkeit eröffnen, an Dokumente zu kommen, zu denen du legal gar keinen Zugang hättest. Kontakte sind alles, muss ich dir das jetzt erklären?"
Maria war verblüfft davon, wie naseweis dieses junge Gör hier mit ihr sprach, als hätte sie schon zehn Leben gelebt. Als die Mauer gefallen war, hatte der Blondschopf doch noch die Schulbank gedrückt und mit Puppen gespielt. Mit ihrem vierunddreißig Jahren war Maria ein gutes Stück älter als Annika mit Anfang zwanzig.
„Woher willst du das wissen? Oder hast du auch ein paar teure Anwälte, die dir mit Rechtsberatung zur Seite stehen?", feixte Maria mit drohendem Unterton. Ihr war klar, dass das, was Annika behauptete, nicht stimmen konnte. Ja, Maria arbeitete eine ganze Weile im Krankenhaus, aber so viele Bonuspunkte, wie Annika behauptete, würde sie doch nicht haben. Es wäre beinahe jemand draufgegangen, weil beide unachtsam gewesen waren.
„Nein, aber das liegt doch auf der Hand. Du wirst doch deswegen nicht gleich in den Knast wandern, so ganz ohne Vorstrafen. Aber wenn du mir hilfst, dann helfe ich dir auch. Wir beide profitieren davon, verstehst du?"
„Nur leider fällt es mir schwer, dir zu vertrauen ...", gab Maria zurück. Ihre Stimme war ruhiger geworden. Der Berechnung von Annika konnte sie doch nur begegnen, wenn sie selbstsicher auftrat.
„Du willst einen Beweis? Okay, dann werde ich hier und jetzt die Frau vom Jugendamt anrufen ..."
Annika stand auf, schaute sich kurz um und lief dann zielstrebig zum Telefon, das auf einem kleinen Beistelltisch neben der Tür stand. Sie tippte eine Nummer ein, wartete kurz und verlangte dann nach einer Frau Jäger. Dann wartete sie. Dabei ließ sie Maria nicht aus den Augen. Schließlich meldete sich am anderen Ende jemand.
„... könntest du mal nachschauen, ob du die Tochter von einer Maria Kamp im System hast? ... Ja, ich kann warten, kein Problem ...", sprach Annika in den Hörer. Ein selbstsicheres Grinsen huschte über ihr Gesicht. Lässig warf sie ihre langen Haare über die Schulter und schaute sich offen und indiskret in Marias Wohnzimmer um. Am liebsten hätte diese ihr den Hörer aus der Hand gerissen. Maria wollte nicht wissen, ob diese Frau Jäger – angeblich vom Jugendamt – ihr Auskunft geben konnte! Sie wollte es nicht, denn sonst würde ihr Gewissen sie nicht mehr in Ruhe lassen. Damit würde nach all den Jahren endlich eine Möglichkeit aufgekommen sein, um Leonie zu finden. Eine Chance, die Maria nicht ungenutzt lassen durfte, das würde sie sich selbst nicht erlauben.
„... genau, die meine ich. Leonie Kamp, ganz richtig ..." Marias Augen weiteten sich, als sie hörte, was Annika sagte. Die junge Krankenschwester konnte Leonies Namen nicht kennen. Oder doch? Hatte Maria ihn gegenüber anderen erwähnt? Vielleicht bluffte Annika auch nur. Unwillig schüttelte Maria den Kopf. Nein, sie war nicht überzeugt. Das war für ihre junge Kollegin das Zeichen, in den nächsten Gang zu schalten.
„Kannst du mir noch das Geburtsdatum sagen? ... Mhm ... Der 30. September 1980, danke dir!"
Marias Hand wanderte zu ihrer Stirn. Es stimmte, es stimmte wirklich! Der Gewissenskonflikt, in den das Maria nun stürzte, war tief und dunkel und man konnte den Boden nicht sehen. Da war ihre Chance, Leonie zu finden! Tatsächlich, da war sie. Und wenn Maria nun nicht auf diesen Deal einging, dann würde sie ihre Tochter vielleicht nie finden. Ihre ganzen Bemühungen hatten doch all die Jahre sowieso keine Früchte getragen!
Andererseits war das dann der zweite Pakt mit dem Teufel, den sie schließen musste. Der erste war gewesen, als sie vor Wanner die Zustimmung zur Adoption hatte unterzeichnen müssen. Unter Zwang. Und jetzt, diese Situation war keinen Deut besser, es war exakt dasselbe. Tu das, damit das passiert. Tu das. Vertrau mir, es ist das Beste. Verdammt nochmal, warum wussten andere immer, was das Beste für einen selbst war?
„Danke dir! Ich muss noch etwas besprechen, mit der Maria Kamp. Bis dahin halten wir die Füße still und ich werde mich nochmal melden ... Dir auch ... Bis dann!" Zufrieden stellte Annika den Hörer zurück.
„Ich sehe schon, da ist jemand überzeugt. Also, was sagst du?"
Erwartungsvoll blickte sie Maria unverhohlen an. Doch die konnte das nicht jetzt entscheiden. Sie musste darüber nachdenken, in Ruhe. Auch, wenn sie tief in ihrem Inneren wusste, dass die Entscheidung bereits gefallen war. Und zwar in dem Moment, in dem Annikas Kontakt mit Leonies Geburtsdatum beweisen hatte, dass diese Spur einen Fortschritt bringen würde.
„Gib mir Zeit bis morgen."
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