XV. Keine Lügen mehr
Krankenhaus Berlin-Lichtenberg, 1995.
Nachdem sie Edith verloren hatte, war klar gewesen, dass Alex nie mehr dieselbe sein würde. Die Jahre waren ins Land gezogen und die Suche nach ihrer vom Erboden verschluckten Tochter hatte nie geendet. Als sie damals ihr Herz vor Eugen ausgeschüttet hatte, war da diese kleine Hoffnung gewesen, dass er sie bei der Suche unterstützen könnte. Weil er sie liebte. Doch das Thema war immer ein wunder Punkt geblieben und er hatte es nicht gerne gehabt, wenn Alex darüber sprach. Generell über das Thema Kinder. Warum mied er es? Er, ein selbstsicherer erwachsener Mann, den doch nichts verschrecken konnte?
Er, der Schulleiter, der doch tagtäglich den Umgang mit Kindern hatte. Die Erklärung hatte für Alex auf der Hand gelegen: Seine Verlobte hatte ihn sitzenlassen, er mochte mit ihr Kinder geplant haben, doch das Thema war mit diesem privaten Rückschlag vom Tisch gewesen und er wollte sich für die Zukunft nicht mehr so schnell auf eine Frau einlassen und mit ihr sein ganzes Leben durchplanen. Damit eine neue Enttäuschung nicht ganz so wehtun würde. Selbstschutz also und das hatte Alex respektiert.
Wenn sie gewusst hätte, dass Dr. Eugen Wanner, engagierter Rektor und liebevoller Lebenspartner, für die Stasi tätig gewesen war, hätte sie sich dann auf ihn eingelassen? Natürlich nicht, denn schließlich hatte sie diese Organisation in Verdacht, für das Verschwinden ihrer Tochter verantwortlich zu sein. Natürlich hätte sie sich nicht auf ihn eingelassen, obwohl er doch dieselbe Person gewesen wäre – ob sie das Wissen nun hatte oder nicht. Eugen ... irgendwie kam er ihr nun vor wie ein Mann mit mehreren Identitäten. Eugen, der Lehrer und Schulleiter; Eugen, der liebevolle Partner und Schmeichler.
Eugen, die Wachsfigur. Zuerst hatte Alex nicht glauben wollen, dass das ihr Eugen sein sollte, den die Rettungskräfte in seinem Wagen aus dem Wasser zogen. Natürlich hatte sie das Auto wiedererkannt, ebenso das Kennzeichen und es hatte keinen Zweifel daran gegeben, dass die bleiche Gestalt auf dem Fahrersitz mit den kurz geschnittenen hellen Haaren ihr Eugen war. Die kurzen Haare, bei denen man nicht genau sagen konnte, ob sie blond oder grau waren. Weil Eugen sein Alter nicht gerne sichtbar nach außen trug. Von alten Fotos her wusste Alex, dass er von Natur aus lockige helle Haare hatte.
Der Anblick des Beifahrerfensters hatte Alex einen Stich versetzt und zwar deshalb: es war ein Stück heruntergekurbelt gewesen. Und das hatte ihren ursprünglichen Verdacht und das erste Bauchgefühl stillschweigend bestätigt. Er hatte es darauf angelegt. Dass er noch lebte, das grenzte für sie an ein Wunder. So bleich, so kalt, wie er ausgesehen hatte, als sei das ganze Leben aus ihm gewichen.
Es war der nächste Tag, als sie an seinem Bett saß und die Nacht war kurz gewesen. Die ganze Zeit über hatte Alex auf dem harten Plastikstuhl gesessen und darauf gewartet, dass sie endlich zu ihm konnte. War da noch Liebe? Würde es zwischen ihnen jemals wieder so werden wie es einmal gewesen war? Alex hielt seine Hand, die immer noch kühl und weiß war. Es tat ihr weh, diesen Mann hier so hilflos liegen zu sehen. Sein Gesicht wirkte so friedlich, sein Brustkorb hob und senkte sich langsam.
Alex hätte am liebsten geweint bei diesem Anblick, doch irgendwie konnte sie nicht. Denn Edith war hier mit in diesem Raum. Alex konnte zwar keinen missbilligenden Gesichtsausdruck von ihr sehen, kein Kopfschütteln, nichts – doch sie spürte, dass ihre kleine Tochter und ihr – ehemaliger? – Freund an zwei Polen einer Skala standen. Was auch immer Eugen während seiner Zeit bei der Staatssicherheit getan hatte, es musste etwas Schreckliches sein. Woher sonst kamen die Schuldgefühle, die ihn immer hatten ausweichen und verstummen lassen, wenn Alex von Edith angefangen hatte?
Doch irgendwer wollte offenbar, dass er weiterlebte. Sonst wäre Alex nicht dieser Brief in die Hände gefallen, sie wäre nicht an den See gefahren und Eugen ... Hätte ihn denn überhaupt jemand gefunden? Wären irgendwem diese Spuren aufgefallen, die nicht hätten sein dürfen? Ein Auto, dessen Fahrt in einen See führte? Irgendwer oder irgendwas hatte nicht gewollt, dass Eugens Leben so endete. Alles hatte einen tieferen Sinn und vielleicht hatte er noch etwas wiedergutzumachen. Alex' Hand lag in seiner. Abwesend starrte sie an die krankenhausweiße Wand, als sie aus ihren Gedanken gerissen wurde.
„Alex?"
Die junge Frau fuhr auf, als sie mit einer unerwartet festen Stimme ihren Namen hörte. Die blasse Hand, die in ihrer lag, zog sich zurück, als fürchtete sie die Berührung. Unsicher erhob sich die junge Frau und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was hast du nur getan?", gab sie zurück und kam an sein Bett. Eugen legte seinen Finger auf die Lippen.
„Kein Wort zu niemandem. Es war ein Unfall, mehr nicht. Ich habe mich versehentlich auf die Handbremse gestützt."
„Warum habe ich das Gefühl, dass alles, was je aus deinem Mund gekommen ist – und kommt – eine Lüge ist ...?" Eine nasse Spur zog sich über Alex' Wange. Doch sie wischte die Tränen weg, ohne ihnen Beachtung zu schenken. Hatte sie nicht weinen wollen?
„Alexandra, bitte ..." Alexandra? Wie ernst war es ihm, wenn er ihren vollen Namen benutzte? Oder wollte er einfach nur streng und autoritär wirken? Ihm gelang nichts davon.
„Was sagst du zu dem Brief? Er liegt zu Hause, ich kann ihn gerne holen ...", entgegnete Alex. Entsetzen und Verstehen stand in Eugens grauen Augen geschrieben. Und jetzt, in diesem Moment, wirkte er noch kleiner und hilfloser als ohnehin schon.
„Es gibt keinen Brief. Alex, bitte, sei doch vernünftig. Es war ein Unfall ..."
„Noch eine Lüge und ich verlasse das Krankenhaus ... und dich. Überleg es dir gut", drohte Alex unverhohlen. Obwohl da ein Häufchen elend vor ihr lag, hatte sie wenig Mitleid. Er hatte sie belogen ... verarscht hatte er sie, über Jahre hinweg! Die Zeit der netten Töne war vorbei, jetzt wurden andere Seiten aufgezogen. Und keine Lügen mehr! Resigniert schaute Eugen auf seine Hände, die auf der Decke lagen wie zwei geschossene Tauben. Und sie fragte sich selbst, was sie mit der Drohung gerade aussagen wollte. Sah sie denn überhaupt eine Zukunft mit ihm oder hatte sie ihn schon verlassen, in Gedanken?
„Gut. Wenn wir zu Hause sind, werde ich dir alles erzählen. Ohne Ausnahme. Danach wirst du mich hassen. Du wirst mich verlassen, da bin ich mir sicher, weil ich Familien zerstört und auseinander gerissen habe. Ich wollte nie etwas von Edith wissen, weil sie mich an das erinnert hat, was ich zugelassen habe. Wegen mir sind Kinder aus ihrem Umfeld genommen worden, weil die Eltern die falschen Aussagen in Anwesenheit der falschen Personen zum falschen Zeitpunk getätigt haben ..."
Alex war auf Geständnisse dieser Art gefasst gewesen, aber jetzt, als sie es hörte, lief es ihr eiskalt den Rücken herunter. Wie ruhig seine Stimme dabei blieb, schockierte sie, doch als sie in seine grauen Augen sah, merkte sie, dass es ihn nicht kaltließ. Zumindest versuchte sie, sich das einzureden. Er, Dr. Eugen Wanner, der vertrauenswürdige Schulleiter ... aber es hatte doch einen Grund gehabt, warum er so schnell und so jung an diesen Posten gekommen war ...
„Warum hast du das getan? Ich meine, hattest du gar kein Gewissen?", hakte sie nach. Er wand sich unter dem kalten Blick ihrer Augen, doch Mitgefühl empfand sie nicht. Das hatte er vermutlich auch nicht gehabt, als er – wie viele? – Familien ins Verderben gestürzt hatte. Ein Kind aus seinem Umfeld zu reißen, in dem es ihm doch an nichts fehlte, war eines der grausamsten Dinge, die man tun konnte. Und er hatte es getan, wieder und wieder, wie sie aus dem schloss, was er sagte. Wieder und wieder, ohne Gewissensbisse ...
„Ich hatte eine steile Karriere in Aussicht. Und ... wenn ich ehrlich bin, habe ich auch an die Vision geglaubt. Daran, dass die Kinder in Familien mit einer dem Westen nicht so zugeneigten Denkweise, eine bessere Zukunft vor sich hätten. Menschen haben versucht, die Mauer zu überwinden und haben ihre Kinder mitgenommen, sie also gefährdet. Ich habe wirklich daran geglaubt, ihnen damit einen Gefallen zu tun ...", gab er zu. Alex spürte, dass er die Wahrheit sagte, denn sein gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände. Trotzdem konnte sie ihr Entsetzen schlecht verhehlen.
„Dann will ich noch eine Sache wissen. Es ist mir von den verschiedensten Leuten ausgeredet worden, also sei bitte ehrlich. Besteht eine Möglichkeit, dass Edith noch lebt?"
„Aus dem, was du mir damals beschrieben hast, bin ich mir da absolut sicher."
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