XI. Papierflug

Berlin-Schöneberg, 1995.


Sie musste hier raus. Weg. Nichts wie weg. Mit einem an den Rändern verschwommenen Tunnelblick warf Alex ihren Koffer auf das Bett und stopfte blindlings alle Kleidungsstücke hinein, die ihr in die Finger kamen. Ein paar Kleiderbügel fielen klappernd zu Boden, doch das war ihr egal. Dies hier war nicht mehr ihr Zuhause. Das, was Eugen gesagt hatte, würde er um nichts in der Welt wieder gut machen können. Ich will kein Kind. Nein, sie hatten nie direkt darüber gesprochen, Eltern zu werden. Das Thema war zusammen mit Edith in der Versenkung verschwunden. Aber Alex hatte angenommen, dass Eugen – sollte es doch einmal so weit sein – die Vaterrolle annehmen würde. Mit Freuden sogar und zwar darum: Ein Mann wie er, der wie ein Fels in der Brandung unerschütterlich im Leben stand, sah doch meistens den Nachwuchs als Vervollständigung der Familie an und nicht als unüberwindbare Hürde.

Aber nein, ganz im Gegenteil. Er wollte das Kind nicht und anscheinend wollte er Alex nun auch nicht mehr, jetzt, wo sie das unerwünschte Baby in sich trug. Andernfalls hätte er sicher nicht so fluchtartig das Weite gesucht. Sie konnte es kaum fassen, es war so grausam, so schrecklich, dass es einfach nicht in ihren Kopf wollte. Wieder und wieder rief sie sich Eugens Worte in Erinnerung. Ich bin nicht bereit für ein Kind. Gut, wer ist das schon? Wann ist der richtige Zeitpunkt für ein Kind? Aber dann das: Ich will kein Kind. Das war doch schon eine ganz andere Nummer. Es war wie eine indirekte Aufforderung an Alex. Ich will kein Kind, also ...

„Nein!", schrie Alex ins leere Zimmer hinein. Ihr Atem ging hastig und ihr Herz schlug wild. Erst als sie spürte, wie ihr Körper sich gegen ihre Gedanken wehrte, hielt sie inne, und zwar deshalb: Sie musste auf sich achtgeben. Zumindest dem Baby zuliebe. Das Baby ... Mit der Hand fuhr sie sachte über ihren Bauch, dem man in dem frühen Stadium noch nichts ansehen konnte, trotz ihrer schlanken Figur. Alex war schwanger und sie würde ein Kind bekommen. Sie hatte es sich so sehr gewünscht ... Und sie würde es auch bekommen. Sie würde zu ihren Eltern gehen, ja, sie würde das Kleine dann eben ohne Vater großziehen. Ja, das würde sie. Die beiden hatten sich doch sowieso schon immer ein Enkelkind gewünscht ... Und Eugen konnte bleiben, wo der Pfeffer wächst!

Mit grimmiger Entschlossenheit warf Alex ihre Unterwäsche in den dunkelblauen Hartschalenkoffer, den Eugen ihr für die gemeinsamen Wochenendausflüge gekauft hatte. Den alten Rucksack, mit dem sie nach Budapest gereist war, hatte sie schon lange entsorgt. Ihrem ach so lieben Freund war das unansehnliche Ding irgendwie ja auch ein Dorn im Auge gewesen. Und ja, zugegeben, der Koffer war eben viel praktischer, da er wenigstens keine aufgehenden Nähte hatte. Der blieb dann aber auch das einzige der vielen Geschenke, die Alex mitnehmen wollte. Viele Teile aus ihrem Schrank waren ebenfalls milde Gaben von einem Mann, der sie angeblich liebte. Die blieben da. Scheiß auf die teure Schluppenbluse, darin sah Alex sowieso aus wie eine Sekretärin in der Midlife Crisis.

Zuletzt riss sie ihre Badetücher hervor. Dafür musste Alex auf die Kante des Doppelbetts steigen, denn die Tücher waren im Schrank auf der obersten Ablage deponiert. Immer hatte der liebe, gute Eugen die Tücher für sie und für sich bereitgelegt, sorgsam gefaltet auf dem Bett, manchmal sogar mit einer kleinen Marzipanfigur obendrauf – der verschissene Schleimer –, daher hatte Alex auch gar nicht bis nach oben reichen müssen. Aber die Zeiten der liebevollen Zuwendung und der süßen Aufmerksamkeiten waren jetzt wohl vorbei. Resolut strich sich die junge Frau eine freche Dauerwellenlocke weg, die ihr in die Stirn gefallen war und machte sich ans Werk. Als sie jedoch die hellblauen Frotteetücher hervorzog, kam ein ganzer Stoß loser Papiere heruntergeflattert.

Verdutzt stand Alex da, auf der Kante des Betts, umschwärmt von zahllosen Papieren wie in einem weißen Herbststurm. Vorsichtig stieg sie vom Bett herunter und hob eines der Blätter auf. Der erste Gedanke der ihr kam, war absurd: Eugen war ein Schriftsteller. Ja, er schrieb Romane mit historischem Bezug und das hier war alles Recherchematerial, woher auch immer er das hatte. Doch dann meldete sich die kleine, gemeine Stimme der Rationalität. Das hier waren offizielle Unterlagen – geheime Unterlagen? – mit dem Logo des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Stasi ... Verdammt, wer war Eugen?

Und jetzt wurde ihr alles klar: warum er nie über Edith sprechen wollte, warum er Alex dazu geraten hatte, die Suche nach ihr aufzugeben, warum er sich nicht über das Baby freute. Alles war auf einen Schlag klar ... Aber irgendwie auch nicht. Alex' Augen flogen über die Unterlagen. Ihr Partner hatte im Auftrag der Stasi gearbeitet. Womöglich hatte er deswegen auch diese steile Karriere hinlegen können. Er hatte ja schließlich keine paar Jahre als Lehrer gearbeitet, da hatte man ihm auch schon den Posten als Schulleiter angeboten. Aber das waren alles Dinge gewesen, die er nie genau mit Alex besprochen hatte. Alles nur am Rande. Damit ja keine unangenehmen Fragen gestellt werden würden? Und dann waren die ganzen lieben Geschenke auch nichts mehr als das hier: Ablenkung zum Zweck der Verblendung.

Das war klar. Ja, es war alles so klar, als wäre das ganze Haus mit einem Schlag zu Glas geworden. Alex fühlte sich, als könne sie durch alles hindurchschauen, bemerkte plötzlich hinter jeder Ecke einen neuen Hinweis. Sie hörte auf einmal zwischen jeder Zeile von Eugen eine leise Botschaft. Eine nicht hörbare, zumindest nicht für ihre Ohren und zumindest nicht bis zum jetzigen Zeitpunkt. Alles, was er je getan und gesagt hatte, sah sie in einem anderen Licht. Und auf einmal stiegen die Antworten in ihrem Verstand auf, schimmernd und durchsichtig wie Seifenblasen und gaben den Blick frei auf das, was Alex die ganze Zeit über nicht gesehen hatte.

Aber das auf das hier nicht: Wo könnte er jetzt hingegangen sein? Eugen hatte den Autoschlüssel mitgenommen. Er könnte überall sein ... und gleichzeitig nirgendwo. Schließlich hatte er hier in Berlin keine Familie außer Alex. Seine Eltern lebten in Süddeutschland und er war Einzelkind. Hastig wühlte Alex in den Unterlagen, als würde sie erwarten, dass die Antwort irgendwo inmitten des Gewimmels an Papieren liegen würde. Doch so absurd war der Gedanke nicht. Vielleicht würde sie einen Hinweis darauf finden, wo er sich aufhalten könnte. Eine geheime Affäre vielleicht? Dann musste irgendwo eine Adresse sein ... Oje, was phantasierte Alex sich hier zusammen? Wenn er eine andere Frau hätte, dann würde er sicher nicht so töricht sein und ihre Anschrift hier verwahren, hier, wo er mit seiner ach so angebeteten jungen Freundin lebte.

Andererseits hatten auch die ganzen Stasi-Papiere hier gelegen und es wäre eigentlich auch nur eine Frage der Zeit gewesen, dass sie Alex eines Tages in die Hände fallen würden. Aber Eugen hatte treudoof einfach vertraut und zwar darauf, dass seine Liebste nicht hinter den Handtüchern herumwühlen würde – oje, er hatte so ein kindliches, so naives Vertrauen in diese Hoffnung gesetzt, die nun zerplatzt war. Wie eine schimmernde, zarte Seifenblase.

Viele der Blätter waren zu Boden gesegelt und einige davon unters Bett gerutscht. Mühsam fischte Alex sie hervor, wobei sie darauf Acht gab, sich nicht auf den Bauch zu legen. Dabei kam ihr ein handgeschriebenes Blatt in die Finger. Es fiel ihr insbesondere zwischen den ganzen maschinengeschriebenen Texten auf. Als sie die Anrede las, schluckte sie schwer. Liebe Alexandra ... Wer nannte sie schon Alexandra? Ihre Augen flogen direkt nach unten, den Text entlang, aus dem sie nur einzelne Wörter aufschnappte, denn sie wollte den Verfasser wissen, wollte erfahren, wer sie mit so einer total befremdlichen pathetischen Art ansprach ... In Liebe, dein Eugen.

Und auf einmal wusste sie nicht mehr, was sie fühlen oder denken sollte. Da war so ein tiefer Schmerz, ein Widerstreit aus Mitleid und Hass, der eine Gefühlsmischung bildete, die sich wie Öl und Wasser nicht vermengen konnte, sondern zwei Phasen bildete. Und Alex wusste einfach nicht, wonach ihr der Kopf stand. Warum nannte er sie Alexandra? Was war das für ein Brief? Er war geschrieben mit dunkelblauer Tinte auf festem Papier, ohne Briefkopf, ohne Datum, nicht gefaltet, ohne auch nur einen einzigen Knick. Typisch Eugen, der eben auf solche Kleinigkeiten achtete. Perfektionismus in den unpassendsten Situationen.

Doch Alex Verstand hatte kaum Zeit, sich auf solche Kleinigkeiten einzulassen – geschweige denn darüber zu schmunzeln –, denn die Worte und Sätze, an die ihre Augen hängen blieben, bildeten eine lückenlose Kette an Worten und zogen sich als eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals, die immer enger wurde und ihr die Luft nahm.

Ich kann das nicht mehr ...

Ich weiß, dass ich sehr viel Schuld auf mich geladen habe ...

Ich hätte es dir nie persönlich sagen können ...

Ich, ich ich ... aber dann das hier:

Sei mir bitte nicht böse.

In Liebe, dein Eugen.

Das E und das u in seinem Namen zerplatzte auf einmal und löste sich aus seiner Form, als eine Träne wie der erste Regen nach langer Dürre sich in die Zellulosefasern des Papiers saugte. Alex' Beine versagten ihr den Dienst und sie sank zwischen den zahllosen Blättern zusammen, die Hand vor dem Mund und versuchte die salzige Verzweiflung weg zu blinzeln. Und sie wusste nicht, ob es zu spät sein würde, denn auf einmal schien die Zeit rückwärts zu laufen und gleichzeitig doppelt so schnell als sonst. Und obwohl Alex in diesem Moment so vieles nicht wusste, war eines ganz gewiss: und zwar, wo Eugen war.

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