VIII. Risse kitten
Berlin-Neukölln, 1994.
Ein knappes Jahr vor Nadines Geburt hatte Maria eine Ausbildung im Krankenhaus begonnen. 1986 war das gewesen. Stress pur, dem man Tag für Tag ausgesetzt war, doch Maria hatte in diesem Beruf immer einen tieferen Sinn gesehen. Im Jahr des Mauerfalls hatte sie sich dazu entschlossen, die Ausbildung endlich zu beenden. Von ihrer Familie bekam sie schließlich alle Unterstützung, die sie brauchte. Die damals zweijährige Nadine durfte die Zeit über bei Marias Eltern bleiben, die beide schon in Rente waren. Um die Mittagszeit machte sich das Dreigespann auf den Weg zur Grundschule, um Christoph abzuholen. In dieser Zeit rauschte Maria in ihrem weißen Kittel und Gummischuhen durch die Stationsflure, verband Wunden und spendete Trost. Und so vieles mehr ... Die Arbeit mit Menschen gab ihr sehr viel, wenngleich nicht jeder dankbar für die Zuwendung war. Trotz allem machte Maria es gerne.
Kurze Zeit später war ihr Mann aus dem Gefängnis entlassen worden und kümmerte sich um die Kinder. Was Maria nicht unbedingt gerne sah, denn Thomas war viel zu weich und ließ seinen Sprösslingen fast alles durchgehen. Erst als Christoph wegen Bauchweh nicht zur Schule konnte, war dem guten Mann klar geworden, dass für so einen Grundschüler eine Packung Schokoriegel doch etwas viel war ... Manchmal fühlte Maria sich, als sei Thomas der zweite, inoffizielle Sohn, auf den sie achtgeben musste. Doch dann schaute er sie mit seinen verträumten Augen an und es war wieder um sie geschehen.
Vielleicht hatte die Zeit ohne ihn sie auch einfach nur hart gemacht. Eigenständig und selbstbewusst war sie ja schon immer gewesen, doch als sie von jetzt auf gleich allein dagestanden hatte mit ihren drei Kindern, hatte sie geradezu wie aus Instinkt gehandelt. Im Nachhinein wusste sie nicht mehr, wie sie das geschafft hatte, doch sie hatte es geschafft und darüber war sie unendlich stolz. Wenn sie nur ihre Tochter Leonie endlich bei sich hätte, dann wäre sie die glücklichste Frau der Welt. Doch da war immer noch diese Lücke, die man in ihr Leben gerissen hatte.
Die jemand in ihr Leben gerissen hatte. Jemand namens Dr. Wanner. Und dieser Jemand war nun fällig. Das war ein Gedanken, der sie die ganze Zeit angetrieben hatte. Wanner war fällig. Kurze Zeit nachdem Leonie aus der Familie gerissen worden war, hatte er die Schule gewechselt. Ob das mit Marias Fall zu tun hatte, wusste sie nicht. Wenn sie an den Elternsprechtagen im Schulflur auf ihn gestoßen war, hatte er den Augenkontakt vermieden und war ohne Gruß weitergegangen. Konnte der Teufel Schuldgefühle haben? Maria wusste es nicht und es erschien ihr auch mehr als unwahrscheinlich, dass der Kerl seine gut bezahlte Stelle einzig und allein wegen der Mutter einer seiner Schülerinnen aufgeben würde. Der Mutter einer Schülerin, der er die Tochter auf widerwärtigste Weise weggenommen hatte.
Mit einem Bündel großer Markscheine eilte Maria durch die düsteren Gassen von Neukölln. Die bunten Papiere würden Wanners Schicksal besiegeln. War es nicht ironisch? Geld war mit aller Wahrscheinlichkeit der Grund dafür gewesen, dass er Maria zur Unterschrift gezwungen hatte. Und Geld würde ihn jetzt eben zu Fall bringen. Der Abend nahte und mit ihm zog sich die Dunkelheit wie Teer über diesen Stadtteil, der auch bei Tageslicht nicht gerade hell und freundlich war. Maria war alles andere als wohl in Anbetracht des bevorstehenden Treffens.
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Diese Gegend war unheimlich. Dunkle Silhouetten mit Kappen, die tief ins Gesicht gezogen waren. Schreie und irrsinniges Lachen dröhnten aus geöffneten Fenstern, hinter denen kein Licht brannte. Oder bildete Maria sich das nur ein, weil sie wusste, dass dies hier nicht das schönste Pflaster von Berlin war? Egal, sie wollte so schnell wie möglich hier verschwinden. Nur so schnell wie möglich die Transaktion, wegen der sie gekommen war, über die Bühne bringen und dann in die Tram springen und ab nach Hause. Als sei nichts gewesen.
Entspannt lehnte ein älterer Mann Kaugummi kauend mit dem Rücken an der Wand, deren Putz abplatzte. Fast schien es, als würden die aufgesprühten Graffiti die Risse im Mauerwerk kitten wollen, zumindest optisch. Doch es gelang nicht so recht. Wenn Maria ehrlich zu sich war, dann tat sie nichts anderes: Risse kitten, die nicht zu retten waren. Oder eher das: den altersschwachen Putz reparieren, indem man noch mehr davon herunter schlug.
War das richtig? Anders gefragt: War es richtig gewesen, eine Löwenmutter zu einer Unterschrift zu zwingen, die ihr Leben zerstören würde? Das Leben ihrer Tochter? Was war also richtig? Auge um Auge, das war nicht richtig und das wusste Maria auch. Doch da war dieser innere Trieb. Wenn sie ihre Tochter schon nicht zurück bekommen konnte, dann musste sie doch das Gleichgewicht wiederherstellen, irgendwie ... und wenn sie sich die Gerechtigkeit mit fünftausend Mark erkaufen würde, dann war es so.
Und wenn es nur dazu wäre, ihm einen heftigen Schrecken einzujagen. Wenn es nur dazu wäre, dass eine Gestalt im Kapuzenpullover ihm eines dunklen Abends auflauerte, ihn bedrohte, ihm die Waffe über den Schädel zog, ihn ... Nein. Alles hatte Grenzen und Maria würde sich ihre noch setzen müssen. Sie war doch keine Mörderin. Doch sie war eine Mutter, der man ihr Herz herausgerissen hatte und dieses Unrecht konnte sie nicht so stehen lassen.
Hier roch es modrig, ungepflegt. Am liebsten hätte Maria sich ein Taschentuch vor die Nase gehalten. Das Klacken ihrer Absätze machte den Wartenden auf sie aufmerksam. Er hatte ebenmäßige Haut und einen akkurat gestutzten Schnauzer. Irgendwie passte er nicht hierher. Als er Maria bemerkte, spuckte er das Kaugummi aus und trat näher. Für einen kurzen Moment kam Maria der Gedanke, dass er der Vater, der Onkel, der Bruder, der Sohn, der Freund von irgendwem war. Und sie? Sie war die Mutter, die Frau, die Tochter, die Freundin von irgendwem. Was zum Teufel taten sie beide hier ...?
„Tachchen", grüßte er halbherzig.
„Hallo", entgegnete Maria, um auch trotz des dubiosen Geschäfts, das hier abgewickelt werden würde, noch die höflichen Umgangsformen zu wahren. Viele Worte wurden nicht gewechselt. Sie überreichte dem Mann das Bündel, der zählte nach und händigte ihr dann eine mit Luftpolsterfolie ausgeschlagene Versandtasche aus, deren Lasche nur ins Innere gesteckt und nicht zugeklebt war. Maria runzelte kurz die Stirn, ehe sie sie annahm. Der Kerl zuckte mit den Schultern. Unschlüssig stand Maria da und starrte den braunen Papierumschlag an.
„Nachschauen?", brummte der Mann. Maria öffnete den Umschlag. Darin glänzte Metall. Die Umrisse hatten sich auch schon von außen abgezeichnet, den Blick hinein machte sie nur pro forma. Der Kerl hätte auch eine Spielzeugpistole aus dem Karnevalsbedarf hineinstecken können und es wäre der dreifachen Mutter nicht aufgefallen.
„Danke, das passt so", sagte sie. Ihre Stimme hallte in ihren Ohren wider. Der Kerl nickte und machte kehrt – ohne sich zu verabschieden. Das tat Maria auch nicht. Sie wollte die nächste Straßenbahn erwischen. Als sie über die Straße huschte, fühlte sie sich beobachtet. Zwar lagerte die Waffe sicher – oh, was hieß denn schon sicher? – in ihrer Handtasche, doch was, wenn sie durch einen unglücklichen Zufall in irgendetwas verwickelt wurde und die Polizei ihre Handtasche kontrollierte? Was wenn ... Oje, ihre Nerven spielten verrückt. Dabei war sie mit den Jahren eine Meisterin der Selbstbeherrschung geworden. Die bröckelte gerade wie die Fassaden der Häuser hier.
Maria stolperte geradewegs in den Feierabendverkehr. In der Tram hielt sie ihre Tasche fest umklammert. Niemand schien aber von ihr und ihrem eigenartigen Verhalten Notiz zu nehmen. Und Maria wurde auch durch keinen dummen Zufall in irgendetwas verwickelt. Endlich wieder zu Hause kam Nadine auf sie zugestürmt und schlang ihre Arme wie immer zur Begrüßung um Marias Beine. Dabei traf ihre Jüngste mit der Hand gegen die Handtasche.
„Aua, Mama, was ist da drin?", fragte Nadine und rieb sich die Knöchel ihrer linken Hand.
„Oh, da ... eine Glasflasche. Ich hatte unterwegs Durst ... Zeig mal, hast du ein großes Aua?" Maria lächelte gequält. Ihre Tochter und eine Schusswaffe – keine paar Zentimeter voneinander entfernt. Verdammt nochmal, das war so falsch. Und gleichzeitig fühlte sich das, was sie gerade getan hatte, absolut richtig an. Gerechtigkeit. Wenn das schon nicht vor Gericht passierte, dann durch Marias Hand.
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