VII. Die Zugfahrt
Bahnhof Berlin-Lichterberg, 1994.
Den Überblick über die Ferien verlor man dann, wenn man selbst nicht mehr zur Schule ging. Und dann legte man aus Versehen seinen Urlaub direkt in diesen Zeitraum hinein und wunderte sich, warum der Bahnhof vollgestopft war mit gestressten Mamas, nervösen Papas und herumturnenden und schreienden Kindern. Das war eigentlich auch alles nicht weiter schlimm, wenn man es nicht total eilig hatte, weil der Zug in wenigen Minuten abfahren würde.
Es war die zweite Aprilhälfte, das Thermometer kletterte zielstrebig in Richtung der zwanzig Grad und in Berlin waren gerade die Osterferien angelaufen. Mit einem zum Zerbersten vollgestopften neonblauen Wanderrucksack kämpfte Alex sich ihren Weg zum Bahnsteig frei. Der Balt-Orient-Express würde sie direkt nach Budapest bringen. Endlich hatte sie genügend Geld beisammen, um einen Urlaub im Ausland machen zu können. Es war ihr allererstes Mal, dass sie die Grenze Deutschlands passieren würde und gleichzeitig auch das hier: das erste Mal, dass sie überhaupt reiste. Wenn auch direkt beim ersten Mal ganz allein, auf sich gestellt.
Aus dem Grund hatte sie alles sorgfältig vorbereitet und sich um ein Ticket gekümmert. Sie hatte sich über die ungarische Hauptstadt und ihre Sehenswürdigkeiten informiert und ein Hotelzimmer in der Nähe des Bahnhofs Budapest-Nyugati reserviert, in direkter Nähe zur Donau. Auch wenn Alex sich schuldig fühlte, einfach in den Urlaub zu fahren, als sei ihr Leben schön und in Ordnung, wollte sie die Reise durchziehen. Die monatelangen intensiven Bemühungen, eine verwertbare Spur zu Edith zu finden, hatten Alex ausgelaugt.
Neben ihrem Job im Einzelhandel arbeitete sie bis spät in die Nacht und auch an den Wochenenden jeden Hinweis ab, der sie näher zu ihrer Tochter führen könnte. Bisher war es vor allem das: demotivierend erfolglos. Schließlich hatte sie für sich entschieden, dass es nichts half, wenn sie komplett ausgebrannt war. Sie musste Kraft tanken und Abstand nehmen, um dann mit neuer Energie weitermachen zu können. Für Edith.
Quasi in letzter Minute sprang sie noch in den gut gefüllten Waggon und suchte sich einen Platz. Dabei rempelte sie beinahe einen Mann mit ihrem Rucksack um, der sich gerade niederlassen wollte. Einen Koffer besaß Alex nicht, denn in der DDR zu reisen war eher eine Seltenheit. Oder anders gefragt: Wozu brauchte man einen Koffer, wenn man innerhalb von Honeckers antifaschistischem Schutzwall eingepfercht war?
„Nächstes Mal bitte etwas vorsichtiger", kam die Beschwerde von hinten. Alex verdrehte die Augen, obwohl sie eigentlich im Unrecht war. Wenn man schon mit Überbreite unterwegs war, dann musste man ein bisschen mehr aufpassen. Aber, verflixt, sie hatte auch keine Augen im Rücken!
„Entschuldigung", sagte sie knapp und warf einen flüchtigen Blick auf den Angerempelten. Ein eher reiferer Mann mit ganz kurz geschnittenen Haaren. Sein charismatisches Lächeln zog sie länger in seinen Bann, als Alex wollte. Verdammt, jetzt sah er auch noch gut aus ...
„Ist ja nichts passiert", entgegnete er. Als Alex sich peinlich berührt abwenden wollte, um in dem Gewimmel noch einen freien Platz zu suchen, spürte sie eine sachte Berührung an ihrem Ellbogen. Instinktiv und etwas harscher als beabsichtigt, entzog sie sich des kurzen Körperkontakts. Die ausgestreckte Hand zuckte ebenfalls zurück, als habe sie sich an Alex verbrannt.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken, entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Ihnen nur den Platz mir gegenüber anbieten. Eigentlich habe ich ihn für einen Freund besetzt, doch der scheint den Zug verpasst zu haben", erklärte der Schöne.
„Danke, ich ...", wollte Alex den Kerl abwimmeln, doch ein Blick durch die Wagenreihen sah alles andere als vielversprechend aus. Hier noch einen Platz zu finden, würde an ein Wunder grenzen.
„Soweit ich gesehen habe, ist alles besetzt", versuchte der Fremde sie zu überzeugen. Alex gab sich geschlagen und nahm den Fensterplatz gegenüber von ihm ein. Neben ihnen saß in dem Vierer noch ein älteres Ehepaar, wie es den Anschein machte, und der Mann war bereits eingenickt. Die Hände auf dem runden Bauch gefaltet, ruhte sein Kinn auf der Brust. Dabei rutschte ihm seine mausgraue Baskenmütze bei jedem Atemzug immer tiefer ins Gesicht. Noch vor Dresden würde sie auf dem Boden liegen, das sah Alex kommen.
Sie deponierte ihren Rucksack unter dem Sitz zwischen ihren Füßen und lehnte sich zurück. Dabei spürte sie den Blick der fein gekleideten Begleitung des Schlafenden auf sich. Grinsend schaute diese von Alex zu dem Fremden. Lächelnd winkte Alex ab und die Dame zuckte mit den Schultern und begutachtete ihre dunkelrot lackierten Fingernägel, die farblich zu ihrer Tweedjacke passte, die viel zu warm für diesen Tag war.
Alex hatte eine kurzärmlige weiße Leinenbluse und eine beige Stoffhose gewählt. Bequem, leicht, nicht einengend. In ihrer Kleidung fühlte sie sich wohl, allerdings wusste sie nicht, was sie mit der plötzlichen Aufmerksamkeit dieses Mannes anfangen sollte. Seit Mirko hatte sie keinen Partner mehr an ihre Seite gelassen. Und dieser hier? Viel zu alt. Wahrscheinlich. Wirklich verknittert war seine Haut nicht, da waren nur ein paar kleine, sympathische Lachfältchen um seine strahlenden Augen herum. Er hatte ein feines Gesicht, oval, viel graziler geformt als das von Mirko. Generell ein ganz anderer Typ. Und auch seine Hände, wie sie ruhig gefaltet auf seinem Schoß lagen. Mirko war äußerlich eher der grobe Holzfäller-Typ mit Oberarmen wie Baustämme und dieser hier bestimmt ein Gelehrter. Vielleicht ein Dozent?
„Fahren Sie auch nach Prag?", begann er plötzlich ein Gespräch in feinmaschigem Smalltalk-Plauderton.
„Nein", gab Alex kurz angebunden zurück.
„Sondern ...?" Oh, er gab nicht auf. Alex wusste nicht, ob sie Lust hatte, sich zu unterhalten.
„Ich fahre nach Budapest, um dort zehn Tage Urlaub zu machen", gab sie einen vollständigen Satz von sich.
„Budapest, sehr schön. Dort war ich früher oft." Tatsächlich? Für eine Reise nach Ungarn war in der DDR eine Genehmigung erforderlich. Und von einigen Bekannten wusste Alex, dass diese nicht immer erteilt wurde. Außer man hatte so seine Kontakte.
„Sie kommen aus dem Westen?", hakte sie nach.
„Nein."
„Dann hatten Sie wohl Glück", murmelte sie vor sich hin und schaute aus dem Fenster.
„In der Hinsicht wahrscheinlich schon. Aber in anderen Belangen ... eher nicht", entgegnete er. Alex Blick schwenkte wieder zu dem gewinnenden Lächeln, das jetzt aber einem nachdenklichen Ausdruck gewichen war. Sollte sie fragen oder nicht? Es ging sie ja gar nichts an. Aber er hatte das Thema doch selbst angeschnitten.
„Das tut mir leid für Sie", erwiderte Alex etwas kühler als sie eigentlich wollte.
„Sie können ja nichts dafür, dass mich meine Verlobte am Tag unserer Hochzeit hat sitzen lassen", entgegnete er und tatsächlich schlich sich ein zaghaftes Lächeln auf sein Gesicht.
„Hat sie nicht ...", platzte es aus Alex.
„Oh, doch, das hat sie. Ohne Erklärung, einfach so. Tja ..."
Alex wurde eingesogen in ein Gespräch, von dem sie nicht geglaubt hatte, dass es in der Form zustande kommen würde. Als der Fremde bei Prag den Zug verließ, war er kein Fremder mehr, sondern Eugen. Und in Alex' Rucksack steckte ein kleiner Zettel mit seiner Telefonnummer und Adresse.
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