Berlin-Schöneberg, 1995.
Aus einem Fremden war Eugen geworden und aus Eugen recht bald ein Schatz. Alex hatte nie an Liebesromane geglaubt. Dafür waren sie und Mirko einfach viel zu große Realisten gewesen, die ihre – zugegeben oft ziemlich pessimistischen Ansichten über das Leben – nur gegenseitig bestätigt hatten. Mit Eugen war nun ein Mann in ihr Leben getreten, der ihr endlich zeigte, wie sonnig ein Tag werden konnte. Wenige Monate nach dem ersten richtigen Date – also nicht das im Zug, das ja streng genommen keines war – hatte er ihr vorgeschlagen, in sein Haus nach Schöneberg zu ziehen. Dieser wunderbar gepflegte und sichere Stadtteil von Berlin war dann Alex' zweite Liebe auf den ersten Blick gewesen.
Eugen lebte jahrelang allein in einem wunderschönen viereckigen Häuschen mit einem schnuckeligen, privaten Garten, der nur darauf wartete, liebevoll bepflanzt, gehegt und gepflegt zu werden. Auf hundertzwanzig Quadratmetern Wohnfläche konnte Alex sich auch dekorationstechnisch austoben wie sie wollte. Man sah es der Bude an, dass hier lange keine Frau mehr gelebt hatte. Und zwar deshalb: Es gab wirklich nur die nötigsten Möbelstücke und Bücherregale ohne Ende. Ach ja, abgestaubt hatte die Wälzer auch lange keiner mehr. Es roch nach muffigem Papier.
„Eugen, dass du so verwahrlost wohnst, hätte ich nicht gedacht", hatte Alex ihm lachend an den Kopf geworfen, als sie das erste Mal hierher eingeladen worden war. Natürlich hatte sie ihm direkt einen Kuss auf den Mund gedrückt, als würde sie ihre direkte Wortwahl damit entschuldigen wollen. Doch ihr Schatz hatte den Spaß schon verstanden.
„Ich will aber auf keinen Fall, dass das Putzen alles an dir hängen bleibt. Wenn, dann machen wir das gemeinsam!", hatte er gesagt und Alex näher zu sich gezogen. Aus dem Putzen war dann aber nichts mehr geworden. Zumindest nicht an dem Tag und zwar aus einem einfachen Grund: Alex hatte nur das Schlafzimmer von innen sehen können. Der ausführliche Rundgang hatte dann am Folgetag stattgefunden.
Alles war so schnell gegangen, dass es Alex beinahe ein bisschen zu hastig vorgekommen war. Fast hatte sie befürchtet, er würde ihr auch noch einen Heiratsantrag machen. Schließlich war Eugen einiges älter als sie, eher ein Oldschool-Gentleman, so einer, der schnell unter die Haube wollte. Als er sie an einem wunderschönen Spätsommerabend mit seinem Boot mitgenommen hatte, war in ihr die Befürchtung herangereift. Aber in dem Körbchen war tatsächlich nur eine Flasche Weißwein und ein Kuchen gewesen. Kein goldener Ring. Eugen war immer so zuckersüß zu ihr, sodass sie ihn quasi die ganze Zeit über den Verdacht hatte, dass er mehr im Schilde führte. Jeden Moment könnte er ein kleines quadratisches Schächtelchen hervorzaubern und ...
Doch das war nicht passiert. Bei einem Besuch von Alex' Schwiegereltern in spe hatten Alex und Eugen sich das Missfallen über ihre wilde Ehe anhören müssen, nebst Andeutungen darüber, ob er ihr nicht ein bisschen zu alt wäre. Doch was machte das schon? Man musste doch erstens nicht verheiratet sein, um glücklich zusammen leben zu können und zweitens war der Altersunterschied Alex herzlich egal. Zum Glück lebten Eugens Eltern in Bayern und beehrten die beiden nicht allzu oft. Wobei weniger sein Vater das Problem war, sondern viel eher seine scharfzüngige Mutter.
Doch Eugen hatte sich nicht irritieren lassen. Alex bewunderte ihn dafür, wie er da saß, wie der Fels in der Brandung, und jeden noch so suggestiven Spruch an sich abprallen ließ. Und dabei auch noch freundlich lächelte! Er war ein Mann von dreiundfünfzig Jahren und tat, was er für richtig hielt. Und tatsächlich hatte er nie auch nur ein Wort über eine mögliche Hochzeit verloren. Nicht, dass es für Alex wichtig gewesen wäre. Doch mit der Zeit konnte sie sich immer mehr vorstellen, mit diesem Mann den Bund der Ehe einzugehen. Wenn er sie küsste, wenn er ihr über die Haare streichelte, dann fühlte sie sich so sicher und geborgen wie bei niemandem sonst.
Alex' eigenen Eltern mochten Eugen. Die Tatsache, dass der Schwiegersohn in ihrem Alter war, schien ihrer Mama und ihrem Papa nichts auszumachen, solange sie ihre Tochter so glücklich sahen. Vielleicht war es auch einfach wegen der schweren Zeit, dass ihre Eltern ihr das Glück so sehr gönnten. Ihre Enkeltochter wäre jetzt neun Jahre alt. Niemand glaubte daran, dass sie noch leben könnte, niemand außer Alex. Edith war immer dabei. Sie wurde immer mitgedacht, war so lebendig, auch ohne da zu sein. Sie füllte das große Haus aus, in dem sie sich ganz sicher richtig wohl gefühlt hätte. Alex tat es.
Und jetzt, im Frühjahr 1995, stand sie hier in ihrem und Eugens gemeinsamen Zuhause und wartete gespannt auf ihren Partner. Es war Nachmittag und er würde bald von der Arbeit kommen. Oh, sollte er doch endlich eintreffen, denn Alex hatte eine Nachricht für ihn und konnte es kaum abwarten, seine Reaktion darauf zu sehen. Der Übelkeit, die sie in der letzten Zeit immer wieder heimgesucht hatte, war heute ihre Hausärztin auf die Schliche gekommen und hatte ihr herzlich gratuliert.
Trotz Alex' Freude war da doch dieser Schatten auf ihrer Seele. Vor zehn Jahren war sie schon einmal schwanger gewesen. All das hatte sie schon einmal durchlaufen. Und es kam ihr alles so falsch vor, wenn sie genauer darüber nachdachte. Vor allen Dingen war es ein Verrat an Edith. Eugen wusste von dem kleinen Mädchen, denn Alex hatte es ihm erzählt. Doch er sprach nicht gerne über das Thema. Vielleicht hatte es damit zutun, dass seine Verlobte ihn hatte sitzen lassen. So eine Enttäuschung saß sicher tief und bestimmt hatte er sich mit ihr eine Zukunft vorgestellt – mit Kindern. Das musste der Grund sein, warum er Alex keinen Heiratsantrag machte und das musste auch ausschlaggebend dafür sein, dass er das Thema Edith beharrlich mied.
Die Suche nach ihrer Tochter hatte Alex trotz allem nie aufgegeben, auch wenn sie mit Eugen nicht darüber sprach. In diesem Jahr sollten nach und nach immer mehr Internetcafés eröffnen. Dann konnte sie auch ohne die Unterstützung von Daniela, zu der sie regelmäßigen Kontakt hielt, weitersuchen und vielleicht noch der einen oder anderen Spur folgen. Es hatte sich so gut wie gar nichts ergeben. Der einzige verwertbare Hinweis war ein kurzer Artikel im Internet gewesen, den die Universitätsmitarbeiterin gefunden hatte. Es ging darin um Adoptionen innerhalb der DDR. Daniela hatte ihn für Alex ausgedruckt und per Post geschickt. Doch viel Brauchbares hatte sich nicht ergeben.
An einem Wintertag war die junge Frau schließlich voller Verzweiflung über die ergebnislose Suche vor Eugen in Tränen ausgebrochen. Er hatte sie in den Arm genommen und gestreichelt, hatte ihr zugehört. Schließlich hatte er ihr geraten, es ruhen zu lassen. Sie mache sich nur selbst unglücklich und das hätte Edith nicht gewollt. Nein, das hätte sie sicher nicht. Doch Alex konnte ihre Tochter doch nicht so einfach fallen lassen! Und so war die Suche weitergegangen, auch ohne dass Eugen davon wusste.
Die Haustür, die ins Schloss fiel, schreckte Alex auf und ihre Gedanken stoben auseinander wie eine Schar aufgeschreckte Vögel. Ihr Schatz war wieder da! Mit einem Sprung stand Alex in der Wohnzimmertür. Eugen hing sein Sportsakko an den Kleiderhaken gegenüber der Haustür. Als er Alex sah, strahlte er über das ganze Gesicht, wie jeden Tag.
„Liebling, wie war dein Tag?", fragte Alex und konnte ihre Aufregung schlecht verbergen.
„Es war ... naja, sagen wir mal, der Tag ist endlich vorbei", entgegnete Eugen und lächelte ihr aufmunternd zu. Ja, er hatte einen anstrengenden Job ... doch dafür wartete eine wunderschöne Nachricht auf ihn.
„Dann habe ich etwas für dich, was dir den Tag bestimmt versüßen wird ...", sagte Alex. Eugens Gesichtsausdruck verfinsterte sich mit einem Mal.
„Was ist passiert?", fragte er.
„Passiert? Sag' du es mir! Wir erwarten ein Baby!" Was Alex erwartet hatte: ein freudestrahlendes Gesicht, Eugens Arme um ihre Taille, seine Lippen auf ihrem Mund. Was passierte: Entsetzen.
„Was ist? Freust du dich nicht?", fragte Alex enttäuscht. Der Flur schien sich plötzlich vergrößert zu haben. Obwohl ihr Partner keine zwei Meter von ihr entfernt stand, kam es ihr so vor, als würden Meilen zwischen ihnen liegen.
„Ich ..." Na toll. Der Moment war versaut. Mit nichts in der Welt könnte Eugen seine Reaktion noch retten. Die erste Reaktion zählte für Alex und selbst, wenn er so unfassbar überwältigt gewesen wäre, würde das nicht dieses entsetzliche Schweigen rechtfertigen, das gerade den Raum verpestete.
„Und ich dachte, du freust dich, Papa zu werden", warf Alex ihm an den Kopf.
„Ich bin nicht bereit für ein Kind", sagte Eugen vorwurfsvoll und wirkte plötzlich viel kleiner.
„Ach ja? Aber jetzt bin ich schwanger und bei so etwas sind immer zwei beteiligt! Außerdem hast du sowas noch nie gesagt!" Alex schrie beinahe.
„Ich will kein Kind", legte Eugen nach. Alex konnte es nicht fassen. Sie konnte es einfach nicht fassen. Wo war die versteckte Kamera? Das konnte doch nur ein unfassbar grausamer und schlechter Scherz sein ...
„Du willst mir doch nicht sagen ... Du willst doch damit nicht sagen, dass ich ..." Sie wollte es nicht aussprechen. Und vor der Antwort fürchtete sie sich so sehr. Doch sie bekam keine. Stattdessen riss Eugen sein Sakko wieder vom Kleiderhaken, schnappte sich seinen Autoschlüssel und knallte die Tür zu.
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