IV. Wache Nächte
Berlin-Lichtenberg, 1993.
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Wie kleine Fische im Aquarium, hinter einer Glasscheibe, müde treibend im Wasser. Es war schon wieder viel, viel zu spät. Von hinten berührte sie eine Hand sachte an der Schulter, doch trotz aller Vorsicht, die die Hand dabei walten ließ, zuckte Maria zusammen. Vielleicht sah sie aus wie ein bleiches Schreckgespenst, wie sie hier saß, im schwachen Licht, das eine dem Glühbirne spendete, die bald ausbrennen würde. Genau wie sie. Ihr nächtlicher Besucher hier im Wohnzimmer war den Anblick jedoch gewöhnt.
„Schatz, du machst dich kaputt", murmelte Thomas verschlafen und rieb sich die schlafmüden Augen. Es war zwei Uhr in der Nacht. Um zehn war sie zu ihm unter die Decke geschlüpft, hatte aber bis Mitternacht kein Auge zugetan. Sie war aufgestanden und hatte sich ins Wohnzimmer gesetzt. Die dunkelbraune Tapete mit den orangen Kreisen darauf schluckte das Licht der kleinen Stehlampe, die neben dem hässlichen dunkelgrünen Ohrensessel kläglich versuchte, den Raum zu erhellen.
Etliche Briefe hatte sie an das Jugendamt verfasst. Nichts hatte sich getan. Die Mauer war weg und doch – nichts. Als würde es niemanden interessieren, dass einer Mutter das Kind gegen ihren Willen weggenommen worden war. Gegen ihren Willen, auch wenn sie die Unterschrift erteilt hatte. Es war keine freiwillige Unterschrift gewesen. Es hatte alles verändert. Maria war nicht mehr gewesen als eine Hülle, die aussah wie Maria, aber sonst nichts mehr von ihr hatte. Mit der Tinte aus dem Kugelschreiber war nicht nur ihre Unterschrift auf das Papier geflossen, sondern auch ihre Seele.
Der eigene Mann vegetierte im Gefängnis, die älteste Tochter war ihr weggenommen worden, irgendwohin adoptiert, sie stand damals mit zwei kleinen Kindern quasi allein da. Nadine war zwei Jahre alt gewesen, Christoph sechs. Zeit für Lethargie hatte Maria niemals gehabt. Zwar bekam sie von ihren Eltern und sogar von ihrer Schwiegerfamilie damals viel Unterstützung, nicht nur finanziell. Doch nichts und niemand konnte ihr Leonie und Thomas ersetzen.
Ein Jahr lang hatte Maria kein Foto ihrer Tochter ansehen können. Hatte nicht einmal dem gedruckten Abbild von Leonie in die Augen blicken wollen. Hätte sie noch mehr tun können? Einfach nicht unterschreiben? Stark bleiben, stärker bleiben? Hätte sie nicht ...? Was dann? Ganz einfach. Sie wäre verhaftet worden, sicherlich. Und dann wären ihr alle drei Kinder weggenommen worden, verstreut in alle Himmelsrichtungen. Doch das war nur ein schwacher Trost. Sie schämte sich dafür, dass sie unterschrieben hatte. Fragte sich Tag für Tag, ob sie nicht noch zäher hätte bleiben sollen. Doch im Hintergrund war sicher alles schon beschlossene Sache gewesen. Leonie wäre ihr entzogen worden, so oder so.
Kurz nach dem Mauerfall war Thomas aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er wirklich zu Unrecht gesessen hatte, verpfiffen von einer IM. Wer, das wusste keiner. Doch es war Maria in dem Moment egal gewesen, denn für sie zählte nur, ihn wieder in die Arme nehmen zu können. Ein Licht im dunklen Tunnel, der kilometerweit unter die Erde reichte. Eine Tochter verloren und den Mann wieder gewonnen. An dem Tag seiner Entlassung hatte für einen Moment die Naivität Maria überschwemmt und sie hatte geglaubt, dass sie nun auch Leonie zurück bekommen würde. Schließlich war sie ihr genauso unrechtmäßig entzogen worden, wie Thomas in den Knast gesteckt worden war. Beide Male aus politischen Gründen. Also, wenn Marias Mann freigekommen war, warum dann nicht auch Leonie? Aber so einfach war es doch nicht. Wenden Sie sich an das Jugendamt. Ha, ha.
„Komm zu mir ins Bett", sagte Thomas und strich ihr über das Haar. Rotblond mit kleinen silberfarbenen Strähnen.
„Gleich, noch eine Sekunde ...", gab sie zurück, doch Thomas nahm ihr den Stoß Papiere aus der Hand, die sie seit zwei Stunden ununterbrochen studierte. Gesetzestexte, Zeitungsartikel. Sie sammelte alles, was entfernt mit ihrem Fall zu tun haben könnte. Kein Hinweis sollte ihr durch die Lappen gehen. Diesen September würde Leonie dreizehn Jahre alt werden. Eine Jugendliche sein. Wie sie aussehen würde? Ob sie sich verändert hatte? Vielleicht waren ihre blonden Haare dunkler geworden, vielleicht war sie noch ein gutes Stück gewachsen. Wenn sie nach ihrem Vater kam, dann würde sie für ein Mädchen ziemlich groß werden.
„Jetzt. Na, komm schon, morgen ist ein neuer Tag."
„Heute. Es ist schon ... heute", korrigierte Maria und gähnte. Mit Thomas hatte auch die Müdigkeit den Raum betreten. Jetzt, wo sie seine lieben braunen Augen auf sich ruhen spürte, bemerkte sie, wie sehr der Schlafmangel ihr in den Gliedern steckte.
„Ich muss noch Zähne putzen. Das muss sein, dann komme ich ins Bett", versprach Maria und rang sich sogar ein mildes Lächeln ab. Damit war ihr lieber Gatte einverstanden und schlurfte ins Schlafzimmer. Der untere Saum an den Hosenbeinen seines grau-blau gestreiften Pyjamas war abgerieben. Maria sollte das nähen ... Sie sollte. Sie sollte sich ablenken.
Einen letzten Blick warf sie auf den Papierstapel. Den würde sie noch aufräumen müssen. Sie wollte nicht, dass Nadine und Christoph darin herumstöberten. Das war allein Maria vorbehalten. Sie hatte unterschrieben, sie hatte sich allein die Verantwortung aufgehalst. Verdammt, ja, sie hatte unterschrieben. Es war nicht freiwillig gewesen, doch es verging kein Tag, an dem sie es nicht bereute. An dem sie nicht bereute, nicht noch zäher gewesen zu sein. Kein Tag, an dem sie nicht bereute, dass sie sich nicht noch schneller als Wanner den Brieföffner geschnappt hatte ... Sie hätte für nichts garantieren können.
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