II. Der Vertrag
Berlin-Lichtenberg, 1988.
Ihr erster Blick fiel auf den Brieföffner. Die messerscharfe Klinge, in der sich ein goldener Funke der einfallenden Vormittagssonne badete. Es war April, warm-kalt, sodass man einen Mantel brauchte, einem beim Laufen aber mit der Wollmütze zu warm wurde. Der Griff des Brieföffners war aus hellem, rötlichem Holz. Vielleicht Kirsche. Er wirkte etwas verloren auf dem großen Schreibtisch, auf dem Akten und Papierstapel fein säuberlich sortiert lagen.
Maria ahnte, dass ein ungemütliches Gespräch bevorstand, noch bevor Dr. Wanner, der Schulleiter, sich schwer seufzend auf seinem dick gepolsterten Stuhl ihr gegenüber niedergelassen hatte. Der Mann sah zu jung aus für einen Doktortitel, fand Maria. Erich Honecker grinste sie über Wanners Kopf hinweg verhalten an. Schelmisch, als würde er sie verspotten wollen. In einem Anflug von kindlichem Trotz hätte sie ihm beinahe die Zunge herausgestreckt. Ein wölfisches Funkeln in den Augen des Schulleiters schnitt Marias Gedanken ab.
„Der Grund, warum ich Sie zu diesem Gespräch geladen habe, Frau Kamp, ist Ihre Tochter Leonie. Oder vielmehr ihre schulischen Leistungen ...", begann er mit einem schleimigen, mitleidigen Ton und zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen. Diese kontemplative Denkerpose war wohl der Grund dafür, dass der Schleimbeutel von der einen oder anderen in Liebesdingen unterversorgten Dame angeschmachtet wurde. Wartend auf dem Schulhof, im Gespräch mit den anderen Müttern. Hach, der Herr Wanner, der ist so ein Sympathischer. Er sah jung und athletisch aus. Wenn er sich bewegte, spannten die Muskeln seiner Oberarme sich unter dem prüden hellblauen Hemd. Seine blonden Locken glänzten im Sonnenlicht.
Maria fand ihn widerlich, wie er so in seiner falschen Rechtschaffenheit da saß, unter dem wachen Blick von Honni. Dass Wanner ein Schleimer sondergleichen war, ging jedes Mal aus seinen Elternbriefen hervor, oder wenn er einen Artikel in der städtischen Zeitung veröffentlichte. Der Herr D – O – K – T – O – R natürlich, der Herr Doktor Wanner, so war es korrekt. Wie er sich selbst beweihräucherte, wie gut er die Schule führe und wie nah er dem Ziel komme, die Kinder zu guten, sozialistischen Bürgern zu erziehen.
„Ihre schulischen Leistungen?", hakte Maria nach. Ihr war nicht bekannt, dass Leonie übermäßig schlechte Noten hatte. Klar, sie war keine Einserschülerin, aber dennoch solide. Defizite hatte sie nicht in dem Maß, dass es ein Elterngespräch rechtfertigen würde. Aber Maria schwirrten da ganz andere Motive im Hinterkopf herum, die dazu geführt haben könnten ...
„Wissen Sie, es ist uns wichtig, jedes Kind dort abzuholen, wo es gerade steht und auf ein möglichst hohes Leistungsniveau zu bringen. Stetige Fortschritte sind ein Merkmal eines jeden guten Schülers. Gerade, wenn Ihre Tochter auf die Polytechnische Oberschule ..."
„Sie ist in der zweiten Klasse", fiel Maria ihm harsch ins Wort. Kaum merklich zuckte Wanner zurück, ließ sich aber sonst nichts anmerken. Außer einem glitschigen, abschätzigen Blick aus regengrauen Augen verließen keine Emotionen sein Inneres. Er nahm Maria nicht für voll, das war offensichtlich. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt – damit wahrscheinlich nicht sehr viel jünger als er –, wurde aber oft auf unter zwanzig geschätzt. Ob das an ihrem jugendlich wirkenden, mit Sommersprossen gesprenkeltem Gesicht lag? Oder daran, dass die sich ihre langen rötlich-blonden Haare gerne zu Zöpfen geflochten trug? Es tat letztendlich nichts zur Sache.
„Frau Kamp, man kann nie früh genug mit einer intensiven Förderung beginnen", setzte er erneut an und griff sich mit seinen langen, schlanken Fingern den Brieföffner. Als würde er diese potenzielle Waffe lieber vorsichtshalber aus Marias Reichweite entfernen wollen.
„Leonie hat gute Noten. Ich kümmere mich darum, dass sie ihre Hausaufgaben macht. Obendrein unterstützen sie ihre Großeltern beim Lernen, wo es nur geht ..." Maria bemerkte erst, wie sehr sie sich in Rage geredet hatte, als sie Wanners Eisblick auf ihren Händen spürte, die gerade ihre Handtasche auf ihrem Schoß durchkneteten. Einen Augenblick zu lange studierte Wanner die Tasche. Fragte sich wahrscheinlich, wo er das Logo schon einmal gesehen hatte. Fragte sich, ob das Teil eventuell aus dem Westen kam.
„Sehen Sie, Ihre Bemühungen weiß ich auch alle sehr zu schätzen. Jedoch habe ich in den Heimatkundestunden selbst immer wieder beobachtet, dass das Mädchen etwas in sich gekehrt wirkt. Ich glaube – und das ist nicht gegen Sie Persönlich gerichtet –, dass ihr intakte Familienverhältnisse fehlen."
Rumms. Ein Schlag, der Maria traf, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen, die vorher nicht da gewesen war. Lauernd beobachtete Wanner sie. Wenn er gekonnt hätte, wäre er am liebsten in ihre Gedanken eingedrungen, hätte dort Wanzen und Kameras versteckt. Leonie ... in sich gekehrt ... Sie war ein schüchternes Mädchen, stand nie gern im Mittelpunkt. Sie war immer in sich gekehrt. Andererseits kam sie mit jedem Problem zu ihrer Mutter. Was also war hier wirklich im Busch? Marias Blick fuhr auf dem Schreibtisch herum wie ein gejagtes Tier. Suchte. Was? Den Brieföffner? Wanner hielt das Ding immer noch in der Hand. Die Sonne reflektierte auf der Oberfläche der Klinge und blendete Maria. Wanner öffnete eine Schublade an seinem Schreibtisch und ließ das scharfe Messer dort hineinfallen. Nebenher sprach er weiter.
„Seit Februar sitzt Ihr Mann im Gefängnis ..."
Oh. Ah ja! Oh, natürlich, jetzt wurde es konkret. All die nicht greifbaren Konjunktive, die flüchtigen Vielleichts, die in der Luft gehangen hatten, manifestierten sich jetzt zu einem Monster aus Lehm und Lügen. Wie lange saß sie schon hier? Wie lange redete er schon um den heißen Brei herum? Es ging doch gar nicht um Leonie!
„Ja ...", krächzte Maria. Ihr Hals war trocken, wie ausgedörrt von heißer Wüstenluft. „Ja, ist er. Zu Unrecht."
Missbilligend schnalzte Wanner mit der Zunge. „Hier, in der Deutschen Demokratischen Republik, wird niemand zu Unrecht ins Gefängnis gesteckt, Frau Kamp. Unsere Justiz wird schon wissen, warum der Herr Kamp vor der Allgemeinheit geschützt werden muss. Nun, weiter, ich bin der Ansicht, – und das hat auch das Gespräch mit einigen Kolleginnen gezeigt –, dass Leonie ein stabiles Umfeld benötigt."
„Sie hat ein stabiles Umfeld", schoss es aus Maria heraus.
„Sehen Sie, Sie sind alleinerziehend mit drei Kindern. Und offensichtlich wächst Ihnen diese Aufgabe über den Kopf. Was vorkommen kann. Dennoch müssen wir eine Entscheidung zum Wohle von Leonie treffen", schloss er und öffnete eine Schreibtischschublade. Einen surrealen Moment lag glaubte Maria, er würde – warum auch immer – den Brieföffner herausholen. Doch es war etwas viel Schlimmeres, etwas, das einen Menschen mehr verletzen konnte als jede Waffe der Welt. Ein Stift und ein Formular. Die Worte darauf verschwammen vor ihren Augen. Nur eines verstand sie: Man wollte ihr Leonie wegnehmen und sie sollte das auch noch mit ihrer Unterschrift besiegeln.
„Nein", sagte sie bestimmt und schickte sich an, aufzustehen und den Raum zu verlassen.
„Ich hoffe genauso sehr wie Sie auf eine möglichst baldige Haftentlassung Ihres Mannes", sagte Wanner und Maria plumpste zurück auf den Stuhl. Ungläubig schaute sie in die regnerischen Augen. Das ... das meinte er doch nicht ernst? Diese Aussage, die so aus dem Zusammenhang gerissen wirkte, war doch nichts weniger als das: eine unverhohlene Drohung.
Maria war zu einem Elterngespräch eingeladen worden, wegen Leonie. Doch plötzlich ging es nicht mehr um sie, sondern um die ganze Familie. Honni machte es möglich. Und hier saß sie, Maria Kamp, und wurde gerade vom Schuldirektor erpresst. Es waren nicht Leonies Leistungen, es waren die Ansichten, die die Familie Kamp lebte, die hier nicht hineinpassten. Leonie war dem Herrn Direktor Wanner nicht sozialistisch genug.
„Wie ich sehe, sind Sie dem Westen sehr zugetan. Diese Einstellung kann sich jedoch negativ auf das Bild Ihrer Kinder von unserem sozialistischen Staat auswirken ..."
„Sie wollen mir meine Kinder wegnehmen?", hauchte Maria.
„Aber nein, niemand will Ihnen Ihre Kinder wegnehmen. Es geht hier um Leonies schulische Leistungen. Und da diese unter der Vernachlässigung Ihrer elterlichen Pflichten leiden, müssen wir eine Lösung finden", entgegnete Wanner und schob Maria das Formular hin.
„Machen Sie es nicht schlimmer für alle Beteiligten", schnurrte er. Es widerte Maria an. Sie schaute auf das Formular, als würde sie über den Rand einer Klippe spähen. Und dann fiel ihr Blick auf den Kugelschreiber, mit dem sie den Pakt mit dem Teufel eingehen würde.
******************* Meilenstein: 2000 Wörter *******************
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