I. Kleiner Engel

Dresden, 1986.


Es war der dritte schönste Tag in ihrem Leben. Der erste war gewesen: das allererste Date mit Mirko. Der zweite war gewesen: der positive Schwangerschaftstest.

„Da haben Sie aber ein wunderschönes kleines Mädchen", hatte die Krankenschwester mit den warmherzigen Augen geraunt und gezwinkert, als sie mit dem schreienden Bündel in den Nebenraum gegangen war: waschen, wiegen, messen. Die Kleine hatte sich auch ganz schön Zeit gelassen. Nach neun Stunden war Alex nun vollkommen erschöpft, aber überglücklich. Jedes Mal, wenn sie das Glucksen von nebenan hörte, wo ihre Maus dem Plätschern nach gerade gebadet wurde, leuchtete ihr Herz. Sie war Mutter geworden. Sie, Alex.

Einen kurzen Blick hatte die frischgebackene Mama auf das kleine rosafarbene Gesicht erhaschen können. Die Augen hatte das Mäuschen fest geschlossen, denn ihre ganze Energie musste sie darauf verwendet, aus voller Kehle zu krähen und die kurzen Ärmchen von sich zu strecken. Würde sie die blauen Augen von Alex oder Mirkos grüne geerbt haben? Eigentlich sollte er jetzt auch hier sein und seine Tochter baden und nicht nicht die rothaarige Schwesternschülerin. Aber eigentlich hätte er sie auch ins Krankenhaus fahren sollen und nicht in Richtung Westen ...

Auch, wenn Alex enttäuscht von ihm war, lag es ihr fern, den Vater ihrer Tochter nachträglich zu einem schlechteren Menschen zu degradieren, als er war. Natürlich würde sie der Kleinen von ihm erzählen. Wie er gewesen war, wie er über jeden noch so dämlichen Witz gelacht und wie er Witze über Honeckers Frisur gerissen hatte. Vielleicht würde die kleine Maus seine Grübchen haben? Dann würde Alex ihr das sagen. Sie würde ihr ein Foto zeigen, von Mirko.

Sie dachte über ihn wie über einen Toten. Dabei war die Liebe ihres einundzwanzigjährigen Lebens nicht aus der Welt. Nicht aus der Welt? Über die Mauer geflohen: das war aus der Welt. Ein Wiedersehen: persönlich kaum machbar. Doch wer wusste schon, was die Zeit brachte? Vielleicht würde er ihr einen Brief schreiben oder anrufen. Vielleicht würde irgendwann ja sogar ein Treffen zustande kommen. Auch wenn das gerade alles andere als wahrscheinlich war. Das alles lag noch im nasskalten Nebel der Zukunft.

Nebenan wurde es plötzlich hektisch. Eine Tür fiel ins Schloss. Die Schreie von Alex' Tochter waren nicht mehr zu hören. Ruhig. So ruhig. Was war mit ihr? Hatte sie sich etwa beruhigt? So schnell? Das kleine Mädchen hatte aus voller Kehle geschrien, umso auffälliger war die plötzliche und beängstigende Stille. Nur das geschäftige Quietschen von Schuhen auf dem grauen Krankenhausboden war zu hören. Oder panisch? Klang das Quietschen der Plastiksohlen panisch? Wie ein in die Enge getriebenes Ferkel ... Alex erschrak über ihre Assoziationen. Eilig huschte die Schwesternschülerin mit den roten Haaren durch Alex' Zimmer, doch bevor die junge Mutter auch nur zu einer Frage ansetzen konnte, fiel die Tür zu.

Beunruhigt versuchte Alex sich, so gut es ging, aufzurichten. Dabei stützte sie sich mühsam mit den Unterarmen auf. Irgendetwas stimmte hier nicht. Niemand sagte etwas. Stille. Furchtbare, eisglatte Stille. So kalt, so schrecklich, gerade hier, an diesem furchtbar sterilen Ort. Was war los? Der gestärkte weiße Kittel raschelte wie Herbstlaub eines vergehenden Jahres, als die Hebamme ins Zimmer rauschte.

„Wie sollte die Kleine heißen?", fragte sie. Etwas eilig, wie zwischen Tür und Angel. Unpersönlich. Verdächtig.

„Edith", gab Alex zögerlich zurück, „Edith Weinmann."

Der Gesichtsausdruck der Frau gefiel ihr gar nicht. Nicht vielleicht deswegen, weil ihre kaffeebraunen Augen etwa besorgt unter der weißen Haube hervorschauten und auch nicht, weil sich vielleicht angespannte Falten um ihre schmalen Lippen bildeten. Nichts davon war der Fall. Es war viel eher der kühle Ausdruck in ihrem Gesicht, der Alex die Luft zum Atmen nahm. Ihre gefrorenen Augen, die aussahen, als hätte sich eine zarte Schicht Raureif auf ihnen gebildet. Und da war immer noch die Stille. Diese furchtbare, unerträgliche Stille. Das durfte nicht sein. Edith durfte nicht so still sein. Was war mit ihr?

„Was ist los? Was ist passiert?", fragte Alex. Ihre Stimme klang dünn, die Worte gefroren an der Zimmerdecke zu Eiszapfen. Was war passiert?

„Frau Weinmann ..." Die Frau trat einen Schritt näher heran. Gleichzeitig wünschte sich Alex, Abstand nehmen zu können. Doch sie war förmlich an das Bett gebunden. So kraftlos, so schwach fühlte sie sich.

„Frau Weinmann, es tut mir leid. Edith hat es nicht geschafft."

Und die ganze Welt brach über Alex zusammen. Und sie wollte es nicht glauben. Und sie konnte es nicht glauben. Und das Einzige was sie in den Augen der Frau sah: Es tat ihr nicht leid. Und es hatte der dritte schönste Tag in Alex' Leben werden sollen.

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