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Ich hatte nur einen kleinen Koffer, in den gerade einmal das Nötigste gepasst hatte, das ich brauchte, als mein Vater mich zum Flughafen fuhr. Der Himmel über Colorado war zu meinem Erstaunen grau, obwohl es heute Morgen eigentlich versprach, ein schöner Sommertag zu werden. Aber vielleicht war der Himmel genauso traurig wie ich, dass ich Colorado Springs verlassen musste.
Aber meine Reise würde mich jetzt nach Oregon führen. Genauer gesagt in die winzige Stadt Waldport irgendwo an der Küste von Oregon. Ich war noch nie dort gewesen, ich wusste nur, dass dort irgendein Onkel von mir lebte, den ich noch nie in meinem Leben bewusst gesehen oder kennengelernt hatte.
Ich verabscheute den Gedanken daran, dass ich in dieser kleinen Stadt eine so lange Zeit verbringen würde, jetzt schon. Nein, ich hasste es.
Das Ortsschild von Colorado Springs huschte an uns vorbei, als wir die Stadt verließen. Und schon vermisste ich die Stadt an den Bergen, die ich jetzt für sehr lange Zeit nicht wiedersehen würde.
Ich seufzte. „Wieso muss ich da hin, Dad?"
Ich sah zu ihm hinüber. Sein Blick wurde traurig, da ich ihm diese Frage jetzt bestimmt schon hundert Mal gestellt hatte. Ich glaubte, eine Falte mehr zu erkennen, als seine Augen sich zusammenzogen.
„Lil, du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann. Ich habe einen Fehler gemacht und ich muss dich davor beschützen."
„Wovor, Dad?"
Er sah mich nur mit diesem bestimmten Blick an, der mir sagte, dass es reichte. Ich kniff die Lippen zusammen und wandte den Blick ab. Die kahle Landschaft außerhalb der Stadt sauste nur so vorbei, aber bald waren wir am Flughafen angelangt und ich konnte die Absperrungen, die ins Innere des Flughafengebäudes führten, deutlich erkennen.
Die Bremsen quietschten leise, als mein Vater den Wagen parkte. Er stieg aus und holte den türkisfarbenen Koffer und meine Jacke aus dem Kofferraum.
Dann umarmte er mich fest, so fest, dass ich glaubte, zu ersticken. „Ich werde bald nachkommen, das verspreche ich dir."
Ja, klar. Ich machte mich aus seiner Umarmung los und ging weg. Nur mit einem Ticket ohne Wiederkehr und den wenigen Sachen, die mein Dad mir mitzunehmen erlaubt hatte, bewaffnet. Nicht einmal mein Handy hatte ich mitnehmen dürfen. Ich fühlte mich wie eine Verstoßene auf dem Weg ins Asyl.
Als ich mich noch einmal umdrehte, war mein Vater verschwunden.
Der Flug nach Portland dauerte fast sechs Stunden. Das machte mir nichts aus, denn ich hatte immerhin genug Bücher dabei, um mir die Zeit zu vertreiben. In der Zeit las ich zwei davon.
Das Dritte öffnete ich, als ich auf einer Bank außerhalb des Flughafens von Portland saß, und darauf wartete, dass mein Onkel mich abholte.
Irgendwann ratterte ein alter Truck, der aussah, als würde er halb auseinander fallen – an einer Stelle wurde er mit Tape zusammengehalten – auf den fast leeren Parkplatz des Flughafens. Es schepperte, als die Tür zufiel und dabei ein wenig von ihrer rostroten Farbe verlor. Ein, um es nett auszudrücken, stämmiger Mann war ausgestiegen und kam auf mich zu.
„Oh, das darf doch nicht wahr sein", flüsterte ich so leise, dass er es nicht hören konnte. Ich klappte mein Buch zu, bei dem ich mittlerweile auf Seite 79 angekommen war, und verstaute es in der vorderen Tasche meines Koffers.
Der Mann, der offenbar mein Onkel sein musste, zog mich in eine feste Umarmung, die noch atemberaubender war als die meines Vaters. „Oh, es ist so schön, dich zu sehen, Liliana! Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch zu klein, um dich daran zu erinnern. Ich bin Lucas. Jetzt komm... Die Fahrt nach Waldport ist noch lang." Er nahm meinen Koffer und warf ihn auf den Rücksitz des in die Jahre gekommenen Trucks. Ich sah auf meine Uhr, es war gerade 14:30 Uhr.
Mein Onkel schien sich wirklich zu freuen, dass ich ab jetzt bei ihm wohnen würde. Aber schon bald gingen ihm die Fragen aus, die er mir stellen konnte, da ich nicht auf eine einzige davon antwortete. Denn je länger ich aus dem Fenster starrte, desto weiter entfernten wir uns von der Zivilisation. Und desto mehr Wald umringte uns.
Irgendwann rollte das Auto an einem kleinen Ortsschild vorbei, das uns in Waldport willkommen hieß. Missmutig schaute ich aus dem Fenster. Wir waren jetzt stundenlang über eine holprige Straße durch ein riesiges Waldgebiet gefahren und um ehrlich zu sein konnte ich nicht eine Sekunde länger in diesem Auto sitzen, denn mein Hintern schrie vor Schmerzen.
Die Bäume, die an mir vorbeigerauscht waren, hatten mich müde gemacht. Mehrmals wäre ich auf der zweieinhalbstündigen Fahrt beinahe eingeschlafen.
Aber jetzt, wo sie langsam durch Waldport fuhren, war der Anblick auch nicht besser. Das Ortsschild mit dem Fischerboot und dem Wald im Hintergrund hatte es prophezeit – alles, was diesen Ort ausmachte, waren seine Wälder und das Meer. Sonst schien es hier außer ein paar Restaurants und Hotels nicht viel zu geben.
Wir bogen vom Highway 34 ab und fuhren über eine nicht weniger mit Schlaglöchern übersäte Straße, die durch eine kleine Siedlung führte.
„Sind wir da?", fragte ich hoffnungsvoll. Das waren die einzigen Worte, die ich seit zwei Stunden gesagt hatte.
„Noch nicht ganz." Mein Onkel drehte kurz den Kopf zu mir nach hinten, bevor er wieder auf die Straße schaute. Und an dem letzten Haus vorbeifuhr, bevor die Straße sich verengte und wieder in einen Wald hineinführte.
Ich drehte mich um und schaute den Häusern hinterher, die hinter uns immer kleiner wurden. Ein Seufzer entglitt meinem Mund. Ich hatte gedacht, wir würden am Stadtrand wohnen, aber wir fuhren noch weiter in die Pampa.
„Es ist nicht mehr weit", versuchte mich mein Onkel zu trösten, der meinen Seufzer natürlich gehört hatte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und ließ mich tief in den beigen Autositz sinken.
„Na toll."
„Du wirst schon sehen, es wird dir hier gefallen."
„Klar." Ich schnaubte verächtlich. „Ich bin weit weg von zuhause und von meinen Freunden, und offensichtlich am Ende der Welt gelandet. Ich wüsste nicht, wie es mir hier nicht gefallen sollte. So weit weg von dem, was sich Zivilisation nennt."
Durch den kleinen Teil des Rückspiegels, den ich von meiner Position aus erkennen konnte, sah ich, wie die Miene meines Onkels sich verfinsterte. Auch ein Hauch von Trauer huschte über sein Gesicht.
„Wir sind da." Der Wagen hielt vor einem kleinen Haus mit schwarzem Dach und zwei Parkplätzen davor. Aber mein Onkel hatte in der Einfahrt geparkt. Der Kies hüpfte, als ich aus dem Auto sprang.
Hinter dem Haus gab es nichts als Wald und eine kleine Wiese mit Garten zierte die linke Seite des Grundstücks.
Auf der anderen Seite der baufälligen Straße gab es nichts. Nur einen anderen Hof ein Stück weiter die Straße runter. Rauch stieg aus einem Kamin davon auf. Wenigstens waren wir nicht die einzigen Menschen, die in diesem Loch lebten.
Ich nahm meinen Koffer und ging hinein, nachdem meine Hoffnung auf ein Wunder nun endgültig gestorben war. Ich, ein 17 – jähriges Mädchen aus Colorado, würde hier versauern, bis mein Vater beschloss, dass es zuhause wieder sicher für mich war. Obwohl ich nicht einmal wusste, warum es nicht sicher war. Geschweige denn, DASS es nicht sicher war. Denn ich hatte mich nirgends sicherer gefühlt als in meinem Leben in C. Springs.
„Liliana Woods aus Waldport." Ich spuckte die Worte fast aus. Es gab hier einfach, na ja, einfach zu viel Wald und zu wenig Stadt. Ich konnte mich hier unmöglich wohlfühlen.
Aber mir blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Das Haus von Lucas hatte gerade einmal vier Zimmer und ein Bad unten, sowie eines oben. Unten waren die Küche und das Esszimmer, oben sein Schlafzimmer und das Zimmer, das er für mich vorbereitet hatte.
Die vierte Stufe der schmalen Wendeltreppe im Flur knarzte laut, wenn man darauf trat. Ich musste mir wohl angewöhnen, sie auszulassen, denn jedes Mal, wenn ich darauf trat, jagte es mir einen kalten Schauer über den Rücken.
Ich schleppte meinen Koffer nach oben und blieb oben erst einmal keuchend stehen, denn mein Gepäck und ich hatten nicht nebeneinander auf die Treppe gepasst und so musste ich es vor mir her hieven. Ich fragte mich, wie Lucas und sein fülliger Körper es jedes Mal hinbekamen, aber ich schalt mich gleich wieder für den Gedanken. Es war nett von ihm, dass er mich bei sich aufgenommen hatte, obwohl er mich im Grunde auch gar nicht kannte. Aber mein Frust darüber, dass ich hier sein musste, ließ aktuell gar nichts Gutes an diesem Ort und auch nicht an meinem Onkel.
Und wenn mein Zimmer so schäbig aussah wie der Flur, dann würde ich schreiend davonlaufen. Auf dem Flur starrten mir nackte Betonwände entgegen, der Beton auf dem Boden wurde von einem farblich geschmacklos zusammengestückelten Teppich kaschiert. An der rechten Wand zwischen den beiden Wohnräumen hing, natürlich schief angebracht, das Bild einer alten Frau. Wo bin ich hier nur gelandet?
Ich eilte an dem Bild der Frau, die mich mit ihren strengen Augen viel zu gruselig ansah, vorbei, und stieß die Tür zu dem Zimmer auf, das meines sein sollte. Überrascht blieb ich in der dunkelblau gestrichenen Tür stehen. Ich hatte mit einem leeren Raum gerechnet, aber das Zimmer war entgegen des Erscheinungsbildes des Flurs wunderschön eingerichtet. Es hatte einen Touch von Vintage, aber die hellrosa gestrichenen Wände, der schief hängende Spiegel hinter der Tür, die leicht gelblichen Vorhänge am Fenster: sie hatten etwas Märchenhaftes. Ein dunkelblau gestrichener Schreibtisch stand unter dem Fenster. Und das schmale weiße Bett an der linken Wand war liebevoll frisch bezogen. Nur ein kleines Eck des Spannbetttuches schaute frech unter der geblümten Bettdecke hervor.
Ich legte meinen Koffer auf das Bett und räumte die wenigen Kleidungsstücke, die ich dabei hatte, in den alten hölzernen Kleiderschrank. Er hatte außen schon mehrere Schrammen und die Reste von alten Stickern, die wahrscheinlich nie abgegangen waren, klebten daran. Aber aus irgendeinem Grund fand ich, dass er perfekt hierher passte.
Ich seufzte. Wenn ich das nur von mir auch behaupten könnte. Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich über diesen Ort gelesen. Die „Stadt" hat gerade einmal so viele Einwohner wie der Stadtteil in Colorado Springs, in dem ich aufgewachsen bin. Es gab nicht einmal einen Laden, in dem man neue Kleidung kaufen konnte. Dazu musste man in die nächstgelegene größere Stadt Albany fahren, die über eine Stunde mit dem Auto entfernt war. Zuhause habe ich nur mit dem Bus in die Innenstadt fahren müssen, um einkaufen zu gehen. Entmutigt zupfte ich am Saum meines schwarzen Spitzenkleides, ohne das ich unmöglich von zuhause weggehen hatte können. Es war mein Lieblingskleid. Bestimmt würde ich morgen in der Schule total auffallen, weil ich so gar nichts anzuziehen hatte, was in diese Gegend passte. Ich war das fremde Mädchen aus der großen Stadt, das nicht hierhergehörte.
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