9 - Verräter

Sam antwortete mir seit Freitagabend nicht auf meine Nachrichten. Nachdem ich noch versucht hatte, ihn zu trösten, aber er sich irgendwann die Decke über den Kopf gezogen und mich mehrmals darum gebeten hatte zu gehen, war ich seinem Wunsch mit schwerem Herzen nachgekommen.

Heute war wieder Sonntag, ich saß gerade mit Mama und Sara im Auto auf dem Weg zur Kirche. Ich erhoffte mir, dass ich nach dem Gottesdienst nochmal mit ihm reden könnte.

Als wir ankamen und uns auf unsere Stammplätze setzten, schweifte mein Blick sofort durch den Gemeindesaal auf der Suche nach Sam. Normalerweise wuselte er immer irgendwo geschäftig herum, half seinem Vater mit der Technik oder saß bereits am Flügel und ordnete seine Noten, doch heute konnte ich ihn nirgends entdecken.

Spätestens bei der Gesprächsrunde wusste ich, dass er sicher nicht da war. Esther meinte, dass Sam krank sei und sie deshalb heute für ihn übernehmen würde. Toll! Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich erst gar nicht gekommen. 

Gleichzeitig machte ich mir unheimlich große Sorgen um Sam. Die Sache hatte ihm wirklich zu schaffen gemacht und es machte mich traurig, dass unser erstes Mal bei ihm so schlimme Gefühle ausgelöst hatte.

Die Gesprächsrunde und die Predigt zogen sich ewig, doch dann hatten wir endlich das letzte Lied gesungen und die Gemeindeglieder machten sich bereit zu gehen. Ich schob gerade meine Bibel und mein Gesangbuch zurück in den Jutebeutel, als plötzlich der Pastor vor uns stand.

"Hallo Conni", begrüßte er meine Mama.

"Reinhard, schöne Predigt war das heute", meinte sie lächelnd.

"Danke, danke. Du Conni, hättet ihr noch einen Moment? Ich würde gerne mit dir und Jona über etwas sprechen."

Mein Herz machte einen Aussetzer. Es ging um Sam, das war klar. Ich wusste nur nicht, worum genau es in dem Gespräch gehen würde.

"Ja, natürlich Reinhard. Sara, gehst du schon mal vor ins Auto? Wir kommen gleich nach." Mama reichte meiner Schwester den Schlüssel und schaute mich dann auffordernd an.

Ich saß immer noch wie angewurzelt auf meinem Platz, doch dann erhob ich mich und ging hinter ihr und Sams Vater in einen der leeren Gesprächsräume.

"Setzt euch", sagte er und zog uns zwei Stühle aus dem Stuhlkreis. Er nahm sich selbst auch einen und setzte sich uns gegenüber.

Meine Hände zitterten. Ich hatte furchtbare Angst. Was würde jetzt kommen?

Der Pastor schaute ziemlich ernst und begann dann mit einem tiefen Seufzer: "Samuel geht es ziemlich schlecht. Jona, ich denke, du weißt, worum es geht?" Ich starrte ihn an. Wie viel wusste er? 

Mama drehte den Kopf zu mir und schaute mich fragend an. "Was hat Jona mit Samuels Gesundheitszustand zu tun?", fragte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und blickte dann wieder zum Pastor.

"Conni, das wird jetzt schwierig, ich mache es kurz und knapp: Jona und Samuel haben eine heimliche Beziehung zueinander."

Was? WAS?! In meinem Kopf drehte sich alles. Hatte der Pastor mich da gerade vor meiner Mutter geoutet, ohne vorher mit mir darüber zu sprechen? Meine Mutter schien schockiert zu sein. Mit offenem Mund starrte sie erst den Pastor an und dann mich. In ihrem Gesicht waren tausend Fragezeichen. Mein Magen krampfte sich zusammen, mir wurde schlecht.

"Aber das ist nicht alles, Conni. Sie haben die Sünde bis zum Ende ausgereizt, wenn du weißt, was ich damit meine."

Meine Hände krallten sich in meinen Jutebeutel. Ich war fassungslos. Hatte Sam ihm denn wirklich alles erzählt? Verräter! 

Mama begann neben mir zu weinen, mit den Händen vor dem Gesicht. Es war ein Alptraum und ich hoffte, dass ich gleich wieder daraus aufwachen würde, doch stattdessen sprach Sams Vater weiter: "Samuel hat es uns Gott sei Dank erzählt. Er möchte umkehren von diesem falschen Pfad. Er leidet sehr unter seinem falschen Verhalten und wir beten zu Hause für ihn, dass Gott ihm verzeiht und ihn davon befreit." 

Ich unterdrückte die Wuttränen, die gerade in mir aufsteigen. Wach auf! Wach auf! Wach auf! Aber ich wachte nicht auf. Mama schien sich wieder etwas beruhigt zu haben. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaute wieder zum Pastor.

Der wandte sich nun an mich: "Jona, Samuel hat uns erzählt, dass du nicht glaubst, dass euer Handeln falsch war. Wir beten auch für dich, dass Gott dich wieder auf den richtigen Weg führt. Conni, auch du solltest für die beiden beten." 

Mama nickte. Natürlich. Und ich wusste nicht, ob ich weinen, schreien oder kotzen sollte.

"Ich will nicht, dass ihr für mich betet!", sagte ich stattdessen.

"Aber, Jona!" Mama war entrüstet.

"Es ist nichts falsch daran!"

"Jona, beruhige dich wieder. Du bist verwirrt, das verstehen wir alle. Jeder von uns hat mit Lastern zu kämpfen, aber Gott ...", sprach der Pastor weiter.

Nein, diese Scheiße konnte ich mir nicht mehr geben. Wütend sprang ich von meinem Stuhl auf und brüllte: "Es ist nicht falsch! Ich bin nicht falsch! Gott liebt mich wie ich bin und ihr seid einfach nur verdammt homophob!"

"Jona!", sagte meine Mutter nun verärgert, "setzt dich wieder hin und wir reden darüber."

"Wisst ihr was? Ihr könnt mich mal! Ich setze keinen Fuß mehr in diese Kirche! Ich bin weg!" Und mit diesen Worten stürmte ich aus dem Raum. 

Der Gemeindesaal war inzwischen leer. Draußen auf dem Parkplatz entdeckte ich Sara. Sie hatte die Türen des aufgeheizten Autos geöffnet. Mit einem gelangweilten Blick lehnte sie an einer der Autotüren. 

"Wo willst du hin?", rief sie mir hinterher, als sie bemerkte, dass ich nicht zum Wagen kam. 

Ich antwortete nicht. Stattdessen ging ich zu dem Haus neben der Gemeinde. Wie ein Verrückter klingelte ich Sturm, bis Sams Mutter mit verwirrtem Blick die Tür öffnete. 

"Jona?!", murmelte sie erschrocken. 

"Wo ist er?", fuhr ich sie an. 

"Samuel möchte dich nicht sehen, Jona, bitte geh wieder." 

Das war doch Wahnsinn! Ich drückte mich an ihr vorbei und rannte die Treppe nach oben. Dort angekommen, riss ich die Tür zu Sams Zimmer auf. Er saß am Schreibtisch und blickte erschrocken zu mir auf.

"Sag mal, geht's noch?", schrie ich ihn an. "Was zum Geier hast du dir dabei gedacht?"

Er stand auf und kam mir mit traurigem Blick entgegen. "Beruhige dich bitte wieder." Seine Stimme war ganz sanft. 

Aber ich dachte gar nicht daran, seiner Bitte nachzukommen. "Du hast mich einfach geoutet. Ich hab' dir vertraut. Ich bin in dich verliebt und du behandelst mich wie Scheiße! Weißt du eigentlich, wie schlimm das ist?"

"Jona, für mich ist es auch schlimm. Ich wusste nicht mehr, was ich tun soll. Ich kann mit dieser Sünde einfach nicht leben und meine Familie hilft mir davon loszukommen. Bitte versteh das doch!" 

Entgeistert schaute ich ihn an. Es hatte keinen Sinn mehr. Er wollte nicht und ich konnte nicht mehr. Er würde mich noch hundertmal an sich reißen und wieder von sich stoßen. Das ertrug mein sowieso schon gebrochenes Herz nicht mehr.

"Ganz ehrlich Sam? Fick dich beim nächsten Mal doch einfach selbst! Fick diese verdammte homophobe Kirche und werd' verdammt nochmal glücklich mit deinen beschissenen Lügen, an die du selber glaubst! Ich mach' da nicht mehr mit! Ich bin raus!" 

Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte ich mich um und ging die Treppe nach unten. Im Flur stand seine gesamte Familie versammelt. Ich erntete mitleidige Blicke, doch die konnten mich alle auch mal.

Draußen angekommen, sah ich, dass Mama und Sara noch auf dem Parkplatz standen und auf mich warteten. Stur lief ich an ihnen vorbei. 

Ich brauchte zwanzig Minuten nach Hause und in dieser Zeit machte ich jede erdenkliche Gefühlslage durch. Erst war ich noch wütend, dann zweifelte ich, wurde mir aber schnell wieder bewusst darüber, dass ich richtig lag und dann war ich traurig. 

Ich mochte Sam so gerne, aber er hatte mich viel zu sehr verletzt. Es tat so schrecklich weh und ich wusste nicht, wie ich jemals darüber hinwegkommen sollte. 

Mit verweinten Augen kam ich zu Hause an. Mama stand schon im Flur und zog mich in die Küche, während sie schon wieder versuchte, mir diesen Lügenmüll zu verzapfen. 

"Lass mich in Frieden. Ich will davon nichts mehr hören", nuschelte ich und riss mich los. Schnell verschwand ich in meinem Zimmer.

Verzweifelt saß ich auf meinem Bett und wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen, als es an der Tür klopfte und Papa den Kopf zur Tür hereinstreckte. "Darf ich?", fragte er. Ich nickte, ohne aufzublicken. 

Er setzte sich neben mich und dann, ohne etwas zu sagen, zog er mich zu sich in den Arm. Es war erst etwas komisch, da wir uns nicht so nahe standen, aber dann entspannte ich mich und war froh, nicht mehr allein zu sein.

"Papa?", flüsterte ich nach einiger Zeit.

"Ja?"

"Kannst du mir helfen, eine neue Gemeinde zu finden?"

"Machen wir, Jona."

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