7 - Tränen
Ich stellte mein Rad neben der Gemeindetür ab. Dieses Mal war ich sogar pünktlich zur Jugendstunde. Eigentlich sollte ich heute mit Sam die Andacht halten, die wir zusammen vorbereitet hatten. Aber allein beim Gedanken daran wurde mir ganz anders.
Ich hasste jede Situation, bei der ich im Mittelpunkt stehen musste, wie zum Beispiel Präsentationen in der Schule und diese Andacht fiel definitiv auch unter diese Kategorie.
In dieser Hinsicht war ich einfach ganz anders als Sam, dem das überhaupt nichts auszumachen schien. Ich hatte ihm deshalb am Tag zuvor geschrieben, dass ich mich nicht trauen würde, die Andacht zu halten und ob er das nicht alleine machen könnte.
Er schrieb zurück, dass das kein Problem wäre, aber er würde sich freuen, wenn ich trotzdem kommen würde. Natürlich würde ich trotzdem kommen, schließlich wollte ich ihn sehen. Aber das schrieb ich ihm nicht so direkt.
Die meisten saßen schon im Stuhlkreis, als ich den Raum betrat. Sam nickte mir lächelnd zu. Esther saß neben ihm und blätterte gedankenverloren in ihrer Bibel. Bei ihrem Anblick stieg ein ungutes Gefühl in mir auf. Wie gerne würde ich statt ihr dort neben Sam auf dem Stuhl sitzen.
Wir warteten noch einige Minuten, bis auch der Rest eintrudelte. Erst dann begann Sam zu sprechen: "Hey, ihr Lieben. Ich freue mich, dass wir uns heute wieder gemeinsam treffen, um über Gottes Wort nachzudenken. In der Andacht heute geht es um das Gleichnis des verlorenen Schafs. Ich habe die Andacht zusammen mit Jona ausgearbeitet und sie ist echt sehr schön geworden. Aber bevor wir anfangen, würde ich gerne mit euch beten."
Als er meinen Namen erwähnte, schauten alle zu mir und ich wurde natürlich unweigerlich rot. Gut, dass nun alle die Köpfe senkten und ihre Aufmerksamkeit auf Sams Gebet richteten.
Da ich selbst an der Andacht mitgearbeitet hatte, fand ich es irgendwie witzlos mich auf Sams Fragen zu melden. Stattdessen schweifte ich gedanklich ab. Ich beobachtete Sam, während ich ihm nur mit einem halben Ohr zuhörte.
Oh Mann, wie konnte jemand nur so gut aussehen? Wobei es nicht nur sein Aussehen war, seine ganze Art beeindruckte mich immer wieder. Wie er dort so souverän saß, mit der Bibel auf dem Schoß und den anderen das Gleichnis nahe brachte. Ich hätte vermutlich alles vergessen, was wir erarbeitet hatten und ununterbrochen gestottert.
Wie immer blieb mein Blick an seinen Lippen hängen. Diese Lippen, die mich vor einigen Tagen geküsst hatten und dieses unheimlich gute Gefühl in mir ausgelöst hatten. Schlagartig kam mir wieder meine schmutzige Fantasie in den Sinn, wie ich es mit ihm im Gemeindesaal trieb.
Schnell biss ich mir auf die Unterlippe, um ein Grinsen zu unterdrücken. Doch etwas anderes konnte ich nicht mehr verhindern. Mist!
Hastig griff ich nach meinem Jutebeutel, der neben mir auf dem Boden lag und legte ihn mir auf den Schoß, um das ansonsten unübersehbare Zeichen meiner Erregung zu verdecken. Obwohl mich niemand beachtete und es vermutlich auch keiner bemerkt hatte, wurde mein Gesicht ganz heiß. Ich versuchte mich wieder mehr auf die Andacht zu konzentrieren und konnte den Jutebeutel nach einigen Minuten wieder neben mich legen.
Nach der Andacht beteten wir wie immer zusammen, bevor der lustige Teil des Abends begann. Da Sam diesmal keine Anstalten machte, mich bei meinem Stehtisch mit den Salzstangen aufzusuchen, sondern stattdessen mit Esther, Rachel und Jesaja ein Spiel begann, gesellte ich mich zu Noah.
Er war gerade dabei, den drei Jungs an seinem Tisch ein Spiel zu erklären und nickte eifrig, als ich fragte, ob ich mitspielen dürfte.
Obwohl ich den Abend lieber in Sams Gesellschaft verbracht hätte, war es trotzdem ganz nett. Das Spiel machte Spaß und ehe ich mich versah, hatten wir wieder elf Uhr. Noah schaute ebenfalls auf sein Handy und erschrak. "Oha Leute, wir haben ja schon nach Elf. Ich muss meine Schwester noch bei einer Freundin abholen. Fahrt' ihr bei mir mit, oder bleibt ihr noch?"
Die anderen am Tisch schienen ebenfalls erstaunt darüber zu sein, wie schnell die Zeit vergangen war. Da wohl keiner von ihnen noch länger bleiben wollte, verabschiedeten sich die vier von mir.
Ich stand ebenfalls auf und erst jetzt bemerkte ich, dass außer mir nur noch Sam, Esther und Rachel da waren. Doch wie es schien, waren die drei auch in Aufbruchstimmung. Esther umarmte meinen Crush, was mich schon wieder eifersüchtig werden ließ.
"Sicher, dass wir dir nicht helfen sollen?", hörte ich sie sagen.
"Nö, alles gut, ich mach das schnell allein", meinte er und begann damit, die übrigen Snacks zusammenzuräumen.
"Okay, dann sehen wir uns."
"Ja, bis dann ihr zwei."
Die beiden Mädels liefen an mir vorbei und sagten gleichzeitig. "Tschau Jona, bis Sonntag!"
"Bye", meinte ich nur und sah mich im Raum um auf der Suche nach meinem Jutebeutel. Er lag noch beim Stuhlkreis.
"Und, war gut unsere Andacht, oder?" Ich zuckte zusammen. Sam stand direkt neben mir. War er gerade nicht in dem anderen Raum verschwunden, um die Knabbereien wegzubringen?
"Ähm ja, war gut." Zumindest das, was ich davon mitbekommen hatte. In dem Moment wurde mir bewusst, dass das gerade meine Chance war, nochmal mit ihm zu reden.
"Sam?"
"Jap", meinte dieser, während er die Stühle wieder in einen ordentlichen Kreis schob.
"Können wir nochmal über die Sache am Freitag reden?"
"Was für eine Sache am Freitag?", fragte er unschuldig und starrte dabei viel zu konzentriert auf den Stuhl, den er in diesem Moment gerade rückte. Oh Mann. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich war schlagartig nervös und er tat so, als wäre nichts gewesen.
"Der ... Der Kuss", stotterte ich. Obwohl die Worte nur ganz leise aus meinem Mund gekommen waren, blickte er ruckartig auf. Seine braunen Augen sahen nicht mehr so freundlich aus wie sonst.
Er ging um den Stuhlkreis und blieb vor mir stehen.
"Da gibt es nichts zu besprechen. Das hätte niemals passieren dürfen. Ich habe eine Freundin und davon abgesehen ist es falsch und eine Sünde. Also hör auf dieses Thema anzusprechen, Jona! Vergiss' es einfach wieder, okay?" Er war direkt auf hundertachtzig.
Obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, ihm von dem YouTube-Kanal zu erzählen und dass ich erkannt hatte, dass Gott gar nichts gegen Homosexulität hatte, kam kein Wort aus meinem Mund. Ich hielt seinem wütenden Blick nicht mehr stand und schaute stattdessen enttäuscht auf den Jutebeutel in meinen Händen.
Im Augenwinkel bemerke ich, dass er näher kam und dann legte er seine Hand auf meine Schulter. Mist, warum quälte er mich jetzt auch noch?
"Sei nicht traurig, Jona." Es schien so, als hätte er sich wieder beruhigt. "Gott hält ein ganz besonderes Mädchen, nur für dich bereit und wenn du sie triffst, wirst du keinen Gedanken mehr an mich verschwenden."
Versuchte er mich gerade aufzumuntern? Wenn ja, hatte er damit keinen Erfolg. Ich wollte nicht irgendein Mädchen, ich wollte nur ihn. Ich schaute zu ihm auf, direkt in seine braunen Augen und hätte am liebsten losgeheult. Ich versuchte es zu unterdrücken, doch eine einzelne Träne befreite sich und rann meine Wange hinab.
"Mensch, Jona." Seine Stimme war jetzt ganz sanft. "Bitte nicht weinen. Ich will nicht, dass du wegen mir traurig bist und Gott möchte das auch nicht."
Zu spät. Jetzt konnte ich es erst recht nicht mehr unterdrücken. Es tat viel zu sehr weh. Weitere Tränen bahnten sich ihren Weg über meine Wangen.
"Bitte, Jona ...", flüsterte Sam und sah jetzt ebenfalls ziemlich traurig aus.
Dann legte er plötzlich seine Hände an mein Gesicht und wischte mit den Daumen die Tränen weg. Mann, warum tat er mir das an? Seine Berührung machte es nur noch schlimmer.
"Bitte, nicht traurig sein ..." Auch in seinen Augen sammelten sich Tränen. Ich konnte immer noch nicht reden. Der Kloß in meinem Hals war viel zu groß. Am liebsten wäre ich weggerannt, aber seine warmen Hände an meinem Gesicht ließen es nicht zu. Deshalb schaute ich ihn einfach weiter an. Er wich meinem Blick nicht aus.
"Du machst es mir furchtbar schwer ...", unterbrach er die Stille und dann, völlig unverhofft, kam er mir noch etwas näher. Ich merkte, wie er mit sich haderte, seinen Blick immer noch fest auf mich gerichtet und dann zog er mich zu sich.
Endlich befreite er mich von dieser endlos scheinenden Qual und legte seine Lippen auf meine. Erst nur ganz zart, doch dann immer fordernder. Mein Puls raste. Ich ließ meinen Jutebeutel zwischen uns auf den Boden fallen und legte meine Arme um seinen Hals.
Er vergrub seine Finger in meinen Haaren und presste seinen Mund noch fester auf meinen. Zaghaft öffnete ich meine Lippen einen Spalt, worauf ich sofort seine Zunge zu spüren bekam.
Herrje, das war noch viel besser als der erste Kuss und so viel schöner als die hundert Küsse in meinen Vorstellungen.
Dann setzte er sich auf den Stuhl hinter sich und zog mich auf seinen Schoß, ohne von mir abzulassen.
Eine seiner Hände löste sich aus meinen Haaren und wanderte meinen Rücken nach unten. Die Berührung entfesselte eine angenehm kribbelnde Gänsehaut auf meinem Körper.
Dann schob er seine Hand unter mein T-Shirt. Ein seliger Seufzer entfuhr mir, als seine Fingerspitzen meine nackte Haut berührten.
Seine Lippen entfernten sich von meinen, nur um kurz darauf an meinem Hals weiterzumachen, während er langsam mein T-Shirt nach oben schob.
Ach du meine Güte. Ich hatte mir das ja gewünscht, mehr als alles andere, aber das ging gerade doch etwas schnell. Wobei, ich würde es tun wollen, aber ich war mir nicht sicher, ob er es wirklich wollte, oder ob er mich gleich wieder von sich stoßen und verteufeln würde.
Ich zögerte, doch dann flüsterte ich: "Sam?"
"Mhm", meinte er, ohne die Liebkosung meines Nackens zu unterbrechen.
"Bist du dir sicher, dass du das willst?" Ich wünschte mir so sehr, dass er ja sagen würde und ich jede einzelne meiner Fantasien mit ihm ausleben könnte, doch er stockte und dann entfernte er sich ein Stück von mir. Wehmütig blickte er mich an. Er rang um Worte. Seufzte.
"Nein, wir sollten das nicht tun. Es tut mir leid, Jona. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich hab' mich hinreißen lassen, der Versuchung nachgegeben, aber wir sollten das eigentlich nicht tun."
War ja klar. Hätte ich gleich wissen müssen.
Ich nickte traurig und stand von seinem Schoß auf. Dann schnappte ich mir meinen Jutebeutel und ging zur Tür. Obwohl ich damit gerechnet hatte, zerriss es mir schon wieder das Herz.
Gerade, als ich die Gemeindetür öffnen wollte, wurde ich von seiner Hand auf meiner Schulter aufgehalten.
"Warte."
Er drehte mich zu sich um und zog mich in eine Umarmung. "Es tut mir leid", flüsterte er mir ins Ohr, während ich mich an ihm festklammerte und schon wieder weinte.
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