4 - Das verlorene Schaf

Super nervös stand ich vor dem Haus von Sams Familie. Ich hielt meinen Finger nach oben und hoverte über dem Klingelknopf. Dann traute ich mich und drückte zitternd darauf.

Ein angenehmes Ding Dong ertönte. Keine fünf Sekunden später hörte ich von drinnen ein “Ich mach’ auf, ist für mich!” und Sam öffnete die Tür.

“Hey Jona! Schön, dass du da bist. Komm’ rein”, begrüßte er mich auf seine typische freundliche Art.

“Hey, Sam”, antwortete ich und schlüpfte an der Garderobe aus meinen Schuhen. Beim Anblick der unterschiedlichen Jacken fiel mir wieder Sams Regenjacke ein.

"Oh, ich habe deine Jacke zu Hause liegen lassen”, meinte ich deshalb schnell. Insgeheim entsprach das nicht der Wahrheit.

Genau genommen konnte ich mich noch nicht von ihr und dem himmlischen Sam-Aroma, das sie mit in mein Zimmer gebracht hatte, trennen.

Im selben Moment, als ich die Lüge ausgesprochen hatte, hätte ich mich ohrfeigen können. Schlimm genug, dass ich log, aber auch noch im Haus des Pastors? Dumm!

Doch Sam schien keinen Verdacht zu schöpfen und meinte nur grinsend: “Ist nicht schlimm, lass uns nach oben gehen.” Und dann rief er noch in die Küche: “Mum, ich bin mit Jona im Zimmer. Wir bereiten gemeinsam eine Andacht vor.”

“Das ist schön! Viel Spaß!”, hörte ich die mir aus dem Gottesdienst bekannte Stimme.

Ich stand in Sams Zimmer und mein Herz schlug unweigerlich schneller. Hier lebte er also. Ich sah mich im Raum um und versuchte alles, was ich sah in mich aufzusaugen:

Sam-Schreibtisch, Sam-Bücherregal, Sam-Kleiderschrank, Sam-Bibelversposter an der Wand … Sam-Bett. Am liebsten hätte ich mich in das Sam-Bett gelegt, meine Nase ins Sam-Kissen gesteckt und das himmlische Sam-Aroma inhaliert. 

Doch Sam saß schon an seinem Schreibtisch. Ich löste mich von meinem Tagtraum und setzte mich zu ihm.

“Und hast du schon eine Idee, worüber wir die Andacht machen könnten?”, fragte er mich.

“Oje, gute Frage.”

“Also, wir könnten uns entweder ein Thema überlegen, wie etwa das Gebet, oder die Liebe Gottes, oder wir suchen uns eine Bibelgeschichte raus aus dem Alten oder dem Neuen Testament und überlegen dann, wie man die Geschichte auf unser Leben übertragen könnte”, schlug er vor und lächelte mich an.

“Ähm …” Ich schaute in seine braunen Augen und konnte mich überhaupt nicht konzentrieren. Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen, was mich dahinschmelzen ließ.

“Noch anwesend?”, schmunzelte er und winkte mit der Hand vor meinem Gesicht.

“Ähm, ups, ja sorry. Hab’ heute Nacht schlecht geschlafen und bin etwas unkonzentriert.” Schon wieder eine Lüge, ich musste dringend damit aufhören.

“Okay, weißt du was, lass uns zusammen beten. Ich bin mir sicher, Gott gibt uns eine gute Idee, worüber wir sprechen können.”

Ich nickte. Wir falteten unsere Hände und senkten die Köpfe.

“Lieber Gott”, begann Sam in ruhigem Ton, “du weißt, Jona und ich möchten für den nächsten Jugendkreis eine Andacht vorbereiten. Bitte zeige uns doch, welches Thema wir wählen sollen.

Du kennst die Herzen der Personen aus dem Jugendkreis und weißt, was sie gerade bewegt. Lass uns ein Thema finden, mit dem wir den Anderen weiterhelfen können in ihrem Glaubensleben. Und danke, dass wir Teil davon sein dürfen. Amen!”

“Amen.”

Ich hatte immer noch keine Idee, aber Gott würde mit einem Sünder und Lügner wie mir vermutlich auch nicht sprechen. Wer war ich schon, dass gerade ich den anderen etwas über Gott erzählen wollte, ich hätte es doch selbst viel nötiger.

Sam griff nach seiner Bibel und blätterte ein bisschen darin herum.

“Neues oder Altes Testament?”, fragte er, ohne den Blick von dem heiligen Buch abzuwenden.

“Neues”, antwortete ich.

Er schlug die Bibel neu auf – diesmal im hinteren Teil.

“Evangelien, Briefe oder Offenbarung?”

“Evangelien.”

“Okay, perfekt. Sollen wir eine der Heilungsgeschichten von Jesus nehmen, oder eines der Gleichnisse?”

Ich dachte nach. Es gab dort so viele verschiedene Geschichten, die alle spannend und ansprechend waren.

“Ich finde das Gleichnis mit dem verlorenen Schaf ganz schön”, meinte ich dann.

Er schaute auf und lächelte mich an.

“Ja, das ist wirklich ein schönes Gleichnis. Lass es uns lesen”, meinte er und blätterte schon los.

Ich war beeindruckt von ihm. Er kannte sich so gut in der Bibel aus und wusste genau, wo das Gleichnis stand.

Er las die Verse vor und dann nahm er einen Block und Stift zu sich. 

Dann schrieb er die Begriffe guter Hirte, 99 Schafe, verlorenes Schaf untereinander auf das karierte Blatt und zeichnete von jedem Begriff einen Pfeil nach rechts.

“Weißt du, wofür diese drei Begriffe stehen?”, fragte er mich.

Ich nickte, schließlich hatte ich das Gleichnis schon oft gehört.

“Der Hirte steht für Jesus, die 99 Schafe für die gläubigen Menschen und das verirrte Schaf, für einen Sünder, der sich von Gott entfernt hat.”

“Stimmt, allerdings dürfen wir solche Sachen nicht einfach behaupten, sondern sollten uns Querverweise suchen, die diese Vermutungen bestätigen.”

Er blätterte in seiner Bibel und las dann einen Vers vor, in dem Jesus mit dem Hirten gleichgesetzt wurde.

Erst jetzt schrieb er neben den Pfeil vom Hirten Jesus und dahinter den Bibelvers, der uns das bestätigt hatte.

Schritt für Schritt gingen wir das gesamte Gleichnis zusammen durch und besprachen und interpretieren es mit der Hilfe von verschiedenen Querverweisen.

Und umso mehr wir uns damit beschäftigten, desto mehr berührte es mich. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass Gott mich damit ansprach und dass er mir sagen wollte, dass, obwohl ich gesündigt hatte, er mich liebte und nach mir suchte.

Er hatte mich nicht aufgegeben und würde mich wie das verlorene Schaf zurück zu den anderen tragen. Bei dem Gedanken daran bekam ich ganz glasige Augen.

Hoffentlich würde ich ihn nicht wieder enttäuschen. Ich nahm es mir ganz fest vor.

“Ist eine richtig schöne Andacht, die wir da ausgearbeitet haben”, meinte Sam und lächelte mich zufrieden an.

"Ja, ich finde auch. Das Gleichnis ist wirklich sehr tiefgründig und schön.”

Er nickte. “Wollen wir zum Abschluss zusammen beten?”

“Ja, gerne”, meinte ich. Zum ersten Mal seit langem fühlte ich mich erfüllt und freute mich auf ein Gebet, in dem es nicht darum ging, mich zu entschuldigen.

Sam erhob sich von seinem Stuhl und kniete sich dann auf den Boden. Ich tat es ihm gleich. Dann nahm er meine Hände, so wie wir es auch im Gebetskreis immer machten.

Aber diesmal fühlte es sich ganz anders an, irgendwie intimer. Aber nicht nur auf die körperliche Art, die mich in letzter Zeit so vereinnahmte, sondern ich hatte das Gefühl, dass wir uns durch das gemeinsame Bibelstudium wirklich näher gekommen waren.

Wir schlossen die Augen und wie immer betete Sam auf eine so liebe und schöne Art, dass es mein Herz bewegte:

“Lieber Gott, ich danke dir, dass du uns auf so eine wunderbare Weise durch dieses Bibelstudium geführt hast.

Obwohl wir das Gleichnis beide schon lange kannten, hast du uns auf neue Details aufmerksam gemacht. Danke, dass du immer nach uns suchst und wir zu dir zurückkommen dürfen, auch wenn wir sündigen.

Wir sind oft schwach, aber du vergibst uns und liebst uns bis in die Unendlichkeit. Bitte hilf uns auch, diese Liebe, die wir nun erfahren haben, an die anderen im Jugendkreis weiterzugeben.

Bitte segne und bewahre du Jona und mich auch die restliche Woche. Amen!”

“Amen”, flüsterte ich. Ich hielt den Kopf noch ein paar Sekunden gesenkt. Ich wollte nicht, dass Sam meine Tränen entdeckte.

Dann atmete ich tief ein und blickte auf, direkt in seine braunen Augen.

Keiner von uns sagte etwas. Wir schauten uns einfach nur an, dabei waren meine Hände immer noch in seinen.

Ich wagte es kaum zu atmen oder zu blinzeln, aus Angst, die kleinste Bewegung könnte den Moment unterbrechen und enden lassen.

Und das wollte ich nicht. Denn genau in diesem Moment fühlte ich mich seit langem wieder geborgen, gesehen und geliebt. 

Und dann passierte es doch. Er bewegte sich und ich schloss schon mit der Herrlichkeit der Situation ab.

Doch zu meiner Verwunderung unterbrach er unseren Blickkontakt dabei nicht. Er kam mir sogar näher. Nur ganz langsam. So furchtbar langsam, dass ich zwischenzeitlich das Gefühl hatte, er würde sich wieder von mir wegbewegen.

Doch das Gegenteil traf ein, als sich seine Lippen endlich auf meine legten. Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Ich schloss meine Augen. Unsere Finger verschränkten sich miteinander, wie automatisch.

Was passierte hier gerade. Küsste mich gerade wirklich Sam – der Sam? Der perfekte vorbildliche Pastorensohn, der sich nie etwas zuschulden kommen ließ? Der Sam, mit dem ich gerade eine Andacht vorbereitet hatte? Der Sam, der so wundervoll bewegende Gebete sprach? Der Sam, der ganz sicher nie und nimmer einen Jungen küssen würde? Der Sam, der es nun gerade doch tat?

Ich lehnte mich ein Stück in seine Richtung, um den Druck unserer Lippen zu erhöhen. Leicht begann er, die seinen gegen meine zu bewegen. Es fühlte sich einfach nur wunderschön an.

Die Gefühle von vorhin – Geborgenheit, Annahme und Liebe – erfüllten mich nun komplett. Mein Inneres fühlte sich ganz warm an. Ich wünschte mir, dass dieser Augenblick niemals enden würde und ich mich für immer so fühlen durfte.

Doch so unverhofft der Kuss begonnen hatte, so jäh wurde er beendet.

Sam schien sich bewusst geworden zu sein, was wir hier taten. Mit einem Ruck löste er die Verbindung unserer Lippen und unserer Hände. Grob stieß er mir vor die Brust, sodass ich nach hinten plumpste. 

Seine sonst so freundlichen braunen Augen starrten mich schockiert an.

“Was machst du da?”, brüllte er plötzlich ganz außer Atem.

“I… ich?”, stotterte ich.

“Ja, du schaust mich immer so an. Du verwirrst mich und jetzt küsst du mich!” Er war in Rage.

“Aber… aber, du hast doch…”

Oder hatte er etwa recht? Hatte ich ihn durch meine sündigen Gedanken und die Blicke, die ich ihm zugeworfen hatte, dazu verleitet, ebenfalls so falsche Begierden zu haben wie ich?

“Das … Ich … Es … es tut Mir leid”, stotterte ich immer noch.

Sam schien sich langsam wieder zu beruhigen. Er atmete ein paar mal tief ein und aus.

“Du solltest jetzt besser gehen”, sagte er dann ernst, “und wir müssen Gott beide um Verzeihung bitten. Das darf nie wieder passieren, hast du mich verstanden?” Eindringlich blickte er mich an.

Ich nickte. Dabei hätte ich ihn sofort wieder geküsst, wenn er es zugelassen hätte. Doch den Gedanken konnte ich in Zukunft wohl vergessen.

Da war ich wieder – das verlorene Schaf.

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