Kapitel 92 - Der Pakt der Entscheidung

Was bisher geschah ...

Sam fiel einem neuen Meta-Wesen, welches Erinnerungen löschen kann, zum Opfer: Memory Master. Auf ihren Wunsch hin ließ er sie all die Momente mit Harrison Wells vergessen. Während das Team überprüft, wie sie Sams Gedächtnis wiederherstellen können, zeigt sich Sam Eobard gegenüber äußerst reserviert. Sie offenbart ihm, dass sie ihm nicht traue, da er offensichtlich nur eine Rolle spielt und nicht zeigt, wer er wirklich ist.

Als das Team herausfindet, dass Memory Master stets in einer Bar auf seine Opfer lauert, macht sich Eobard im Alleingang auf die Suche nach ihm. Das Meta-Wesen offenbart ihm, dass Sam um diesen Neuanfang gebeten hätte, da Eobard der Auslöser für ihren Kummer und ihr Leid sei. Wenn ihm wirklich etwas an ihr liegt, solle er sie gehen lassen - und zwar endgültig. Noch ehe Eobard etwas erwidern kann, nimmt Memory Master ihm seine Erinnerungen und er findet sich allein vor der Bar wieder.

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In jener Nacht kehrte Eobard in sein Labor zurück wie ein entehrter Ritter, der in einem ebenbürtigen Kampf geschlagen worden war. Seine Haare fielen zu allen Seiten, sein sonst makellos glatter, schwarzer Pullover war zerknittert und bildete somit das Äquivalent einer zerbeulten Rüstung, und an ihm haftete der üble Geruch von Zigarettenrauch und billigem Alkohol.
Er war müde, so unglaublich müde, doch an Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Jasper Woodhill war es gelungen, ihm einen Teil seiner Erinnerungen zu nehmen. Ihm. Was bedeutete, dass Eobards Theorie, als Speedster wäre er womöglich resistenter gegen Jaspers Gedankenkontrolle, nichtig war.
Schweigend fuhr Eobard durch die stillen, dämmrigen Gänge von S.T.A.R. Labs und zog sich in sein Labor zurück. Dort verbrachte er die nächsten Stunden damit, alle wichtigen Erinnerungen der letzten Jahre zu sammeln und zu rekapitulieren, um sicherzustellen, dass Jasper ihm keine seiner wohlgehüteten Schätze gestohlen hatte.
Als er fertig war – seine angespannten Muskeln verlangten nach einem heißen Bad und sein Geist schrie nach Schlaf – war sich Eobard sicher, dass alle Erinnerungen vorhanden waren, bis auf die wenigen Stunden in der Bar, die er mit Jasper verbracht hatte. Zuerst spekulierte er, dass etwas Wichtiges vorgefallen sein musste, das ihn das Meta vergessen lassen wollte. Doch je länger er darüber sinnierte, desto klarer wurde ihm der wahre Hintergrund für Jaspers Verhalten: Er hatte ihm seine Macht und Überlegenheit demonstrieren wollen. Wäre es ihm wirklich darum gegangen, verdeckt zu bleiben, hätte er Eobard genauso gut die ganze Erinnerung an das Treffen sowie die Informationen, die Jasper mit ihm geteilt hatte, entziehen können. Aber Eobard erinnerte sich glasklar an Jaspers Offenbarung, er selbst sei der Ankerpunkt für Sams Erinnerungsverlust.
Seine Schultern sackten herunter und er stützte das Kinn auf seine gefalteten Hände. Jasper hatte auch gesagt, dass Sam ohne ihn besser dran wäre. Und dass er ihr einen Gefallen täte, wenn er sie in Frieden ließ. Hatte Jasper womöglich recht damit? War er selbst der Ursprung für Sams Leid, ihr mangelndes Selbstvertrauen und ihre Ängste? Hätten sie nicht begonnen zusammen zu arbeiten und sich anzunähern, wer weiß, ob Sam dann nicht vielleicht die schlagfertige Frau geworden wäre, die sie ihm nun offenbarte.
Eobards Gedanken rasten, sein Kopf drohte zu platzen. Mit einem gedämpften Stöhnen massierte er sich die Schläfen und schloss die Augen.
Eine sanfte Stimme riss ihn aus seinem Delirium. Kaum merklich schreckte Eobard auf und stellte überrascht fest, dass Sam im Türrahmen stand und ihn musterte. Sie trug einen schwarzen Mantel am Körper und ihre Umhängetasche über der Schulter, so als wäre sie gerade erst eingetroffen. Eobards Blick wanderte zur Wanduhr. Mit einem lautlosen Fluch auf den Lippen stellte er fest, dass es bereits nach sieben Uhr morgens war.
»Guten Morgen«, sagte Sam mit einem gewissen Unterton in der Stimme. »Störe ich?«
Unauffällig strich er sich die Haare aus der Stirn und den Pullover glatt. Sie sollte ihn nicht so sehen. »Du hättest zumindest anklopfen können.«
»Habe ich. Aber du hast nicht reagiert, also wollte ich nachsehen, ob alles in Ordnung ist.« Ohne um Erlaubnis zu fragen schlenderte sie in sein Büro, wobei Eobards Blick ihren Weg verfolgte. Jaspers Hirngespinste spukten in seinen Gedanken und verpassten ihm schmerzvolle Stiche in sein Herz. Wann war er zuletzt so verletzlich gewesen? So angreifbar? Es war erschreckend, wie tief das Meta-Wesen in seine Psyche eingedrungen war und das ohne seine spezielle Macht einzusetzen. Worte allein hatten dafür bereits genügt.
»Hast du hier geschlafen?«, wollte Sam wissen und kam vor seinem Schreibtisch zum Stehen. Mit erhobener Augenbraue musterte sie ihn.
»Da du so viel Wert auf Ehrlichkeit legst: Ja, das habe ich. Was hat mich verraten? Dass ich noch die Klamotten von gestern trage oder meine Augenringe?«
»Alles, ehrlich gesagt. Du siehst, nun ja...«
»Ziemlich beschissen aus?«, vollendete Eobard den Satz und biss sich auf die Unterlippe. Was war das für eine Wortwahl? Dr. Harrison Wells würde diese Worte nie in den Mund nehmen, doch er war zu erschöpft, um seine Rolle überzeugend zu spielen.
Sam schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »So hätte ich es nicht formuliert, aber im Kern trifft es zu.«
»Dann sind wir uns überraschenderweise einig.«
»Lange Nacht gehabt?«, fragte sie weiter.
Eobard seufzte. Sams Neugier war eine Eigenschaft, die er schon immer anziehend gefunden hatte. Doch nun selbst das Opfer ihres Wissensdursts zu sein gefiel ihm heute genauso wenig wie vorher.
»Die hatte ich. Aus diesem Grund werde ich erstmal nach Hause fahren und mich aufs Ohr hauen. Das Team kennt seine Aufgabe, für ein paar Stunden sollten die anderen auch ohne mich auskommen.« Er fuhr um den Schreibtisch herum und steuerte auf die Tür zu, doch Sam stellte sich ihm entschlossen in den Weg.
»Was hältst du von einer Tasse Kaffee?«, fragte sie plötzlich. »Ich hatte ohnehin vor, mir eine zu besorgen und du siehst so aus, als könntest du ebenfalls einen Kaffee vertragen.«
Alles in Eobard schrie danach Sams Vorschlag abzulehnen, nur sein Herz nicht. Es verlangte danach, Zeit allein mit Sam zu verbringen und das Balsam ihrer Anwesenheit in sich aufzusaugen, um zu heilen. Er mochte Samantha Jones' Ankerpunkt sein, wie Jasper es formuliert hatte. Doch was das Gedanken-Meta-Wesen nicht verstand, war, dass Sam auch sein Ankerpunkt war.

Sam führte ihn zielstrebig ins Jitters und bestellte sich einen Kaffee zum Trinken vor Ort, also tat Eobard es ihr gleich. Er war nicht begeistert davon, sich in seinem Zustand in der Öffentlichkeit zu zeigen und womöglich seinen Ruf noch mehr zu gefährden. Doch in dem morgendlichen Treiben Central Citys schien er einfach unterzugehen. Keiner der anderen Café-Besucher warf ihm einen zweiten Blick zu und selbst die Barista nahm kaum Notiz von ihm, als er seinen Vornamen nannte. Er war nur ein Mann, der mit einer schönen Frau einen Kaffee trinken war und nicht mehr. Wenn Eobard ehrlich war, genoss er diese Rolle. Sie brachte Abwechslung in seinen Alltag und ersetzte die komplizierten Variablen seiner Lebensgleichung durch simple Konstanten.
Beinahe zufrieden nahm Eobard an einem der Tische Platz und sog den wohltuenden Geruch seines dampfenden Kaffees mit einem leisen Seufzen ein. Sam saß ihm gegenüber, ihre klugen, tiefbraunen Augen sogen jede seiner Regungen aufmerksam auf, während sie an ihrem Kaffee nippte.
»Du warst gestern Nacht in der Bar, nicht wahr?«, fragte sie aus heiterem Himmel.
Eobard, noch immer überfordert durch ihre scharfsinnige Offenheit, warf ihr einen langen Blick zu und wägte seine Optionen gründlich ab. Sein vernebelter Geist mochte nicht so schnell arbeiten wie sonst, dennoch kam er schnell zu dem Entschluss, dass Lügen ihre ohnehin brüchige Beziehung nur weiter schädigen würde.
»Und das errätst du, weil ich so aussehe?«
»Das, und weil du wie ein Aschenbecher riechst. Außerdem wirkst du auf mich nicht wie jemand, der sich nach der Arbeit in irgendeiner schäbigen Spelunke herumtreibt, Harrison.«
»Du bist eine aufmerksame Beobachterin, Sam. Das muss ich dir lassen.«
»Ich versuche nur, die Lücken in meinem Kopf zu füllen. Und du lenkst vom Thema ab.«
Er lächelte, teilweise ertappt, teilweise aus Stolz. Eobard hatte nicht geahnt, dass Sam in diesem Spiel so gut war. Sie entpuppte sich als überaus hartnäckige, würdige Gegnerin.
»Hast du mich deshalb gefragt, ob wir einen Kaffee trinken wollen? Um mich auszufragen?«
»Womöglich.« Sie beugte sich zu ihm vor, ein wissbegieriges Funkeln loderte in ihren dunkelbraunen Augen. »Hattest du nicht erst gestern Abend Amber ermahnt, dass niemand aus dem Team einen Alleingang wagen sollte, weil wir noch nicht so weit wären uns Memory Master zu stellen?«
»Das ist korrekt.«
»Dann verstehe ich nicht, wieso du bei dir ein anderes Ergebnis erwartet hast.«
Eobard ließ ein tiefes Seufzen verlauten und trank seelenruhig einen Schluck von seinem Kaffee. Danach lehnte er sich zurück und richtete den Blick gen Decke. »Einigen wir uns darauf, dass es mein Hochmut war, der mich dazu verleitet hat.«
Sam hob eine Augenbraue, dennoch bildete sich der Hauch eines Lächelns auf ihren geschwungenen Lippen. »Hochmut ist eine Sünde, Harrison.«
»Nur eine von vielen, derer ich mich schuldig bekennen muss, fürchte ich.«
Sie lachte. Die Reaktion kam so unerwartet, dass Eobards Herz unweigerlich einen Hüpfer machte. Er richtete den Blick auf Sam, um den seltenen Augenblick in all seiner Schönheit in sich aufzusaugen.
»Endlich mal ein ehrliches Wort. Wobei ich nicht verstehe, wieso du den aalglatten Wissenschaftler zu mimen versuchst, wenn ein bisschen Verdorbenheit durchaus anziehend wirken kann.«
Nun war er es, der eine Augenbraue hob. »Flirtest du etwa gerade mit mir, Samantha?«
»Ich betreibe nur Konversation, das ist alles«, erwiderte sie und nippte unschuldig an ihrem Kaffee. Das eigentümliche Funkeln in ihren Augen jedoch strafte ihren Worten Lügen. Eobard war nun wieder hellwach, was eindeutig nicht am Kaffee lag. Er beugte sich ebenfalls zu ihr vor.
»Da ich mich an unsere gemeinsame Zeit nicht erinnere, würde es mich interessieren, welche Sünden du noch begangen hast«, fuhr Sam fort, ein herausfordernder Unterton ließ ihre zarte Stimme rauer klingen.
»Nun, da wäre zum Beispiel der Neid, wenn ich mitansehen muss, wie dieser aufgeblasene Gockel von Student an deiner Seite klebt und so tut, als wäre dies sein rechtmäßiger Platz.«
»Meinst du etwa Caleb?«, fragte Sam grinsend. »Auf mich wirkt er sehr aufrichtig und nett. Er ist... anders als du.«
»Habgier«, fuhr Eobard unbeirrt fort, wohlwissend, dass Sam versuchte ihn zu provozieren. »Ganz gleich, wie viel ich bekomme, es ist mir nie genug.«
»Auf mich wirkst du nicht wie der materielle Typ«, kommentierte Sam.
»Ich spreche ja auch nicht von Dingen«, erwiderte Eobard gelassen und musterte Sam lange und intensiv. Ihre Blicke verhakten sich ineinander, verkeilten sich fest wie die zwei Glieder einer dicken Stahlkette. Die anderen Besucher des Cafés schienen sich einfach aufzulösen, in diesem Moment gab es für Eobard nur Sam vor ihm und niemanden sonst. Er griff quer über den Tisch und nahm ihre Hand. Sam zuckte erst zusammen, ließ es dann jedoch überraschenderweise zu. Eobard spürte, wie sich ihre Finger unter seinen allmählich entspannten und er streichelte mit dem Daumen hauchzart über ihren Handrücken.
»Wollust«, sagte er, das Wort kaum mehr als ein Raunen. Seine Hand wanderte höher und umschloss Sams Handgelenk, er zog ihren Arm begehrend zu sich herüber und sie ließ es geschehen. Zufrieden bemerkte Eobard, dass sich ein hauchzarter, roter Schleier über Sams Nase legte und ihre Sommersprossen bedeckte. Gestern, als ihre Unterhaltung in seinem Büro so unglücklich gelaufen war, hatte er doch mit einer Sache recht behalten. Sams Kopf mochte ihre gemeinsamen Momente vergessen haben, ihr Körper jedoch nicht. Er erinnerte sich an all die leidenschaftlichen Berührungen, gestohlenen Küsse und verbotenen Momente. In ihren trüben Augen erkannte er, dass sie sich dieser Tatsache ebenfalls bewusst war. Wieso sonst hätte sie ihn heute morgen aufgesucht, um mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen? Doch nicht nur, um ihn auszufragen. Nein, sie vermisste ihn. Er war sich dem so sicher wie dem Umstand, dass er Luft zum Atmen brauchte. Nach all den unglücklichen Augenblicken, den Niederlagen und den verlorenen Erinnerungen, gehörte sie noch immer ihm allein.
»Welche Sünde noch?«, fragte Sam im Flüsterton.
Eobard öffnete seine Lippen, sprach seinen Gedanken jedoch nicht aus. Zorn, ging es ihm durch den Kopf. Der Zorn gegenüber Flash, der ihm immer mehrere Schritte voraus gewesen war. Ganz gleich, wie schnell Eobard gerannt war, Flash war schneller gewesen und er selbst dazu verdammt, auf ewig ein Schatten des mächtigen Mannes zu sein. Der Zorn darüber, dass er in dieser Zeit gestrandet war und das erschaffen musste, was er am meisten hasste, um zurückzukommen. Und der Zorn über die Tatsache, dass er etwas gefunden hatte, von dem er vorher nie gewusst hatte, es zu wollen: die Liebe.
In diesem intimen, ebenbürtigen Moment mit Sam wurde Eobard schmerzlich bewusst, dass seine Beziehung zu ihr immer zum Scheitern verurteilt wäre. Näherte er sich Sam, bewegte er sich von seinem Ziel, nach Hause zu kommen, weg. Und lief er auf sein Ziel zu, ließ er Sam hinter sich zurück. Es gab keinen Kompromiss, keine Lösung. Es gab nur ein Entweder Oder.
Vielleicht war dies die Strafe für all seine Taten, die er in der Zukunft begangen hatte. Womöglich war er nicht in die Vergangenheit gereist, sondern geradewegs in die Hölle gerannt und Sam war seine persönliche, süße Teufelin, die ihn quälte.
Langsam zog Eobard seine Hand zurück und platzierte sie an seinem Kaffee. Das Getränk war mittlerweile nur noch lauwarm und konnte seine kalten Gedanken nicht vertreiben.
Sam musterte ihn analysierend. »Was ist gestern Abend in der Bar vorgefallen?«, fragte sie geradeheraus. »Du wirkst seitdem total verändert.«
»Und da bist du dir sicher?«, antwortete Eobard resigniert. »Du hast mich vergessen, Sam. Womöglich benehme ich mich immer so.«
»Vielleicht. Du ziehst gerade eine Mauer zwischen uns. Sind deswegen die gemeinsamen Bilder von uns auf meinem Handy im Papierkorb gelandet? Weil du schon einmal eine Mauer errichtet hast, die ich nicht länger erklimmen konnte?«
»Du wolltest etwas von mir, das ich dir nicht geben konnte«, murmelte Eobard. Just kehrte seine Müdigkeit zurück und sein Körper verlangte schreiend nach einem Bett. Er machte Anstalten, sich vom Tisch zu entfernen, aber diesmal war es Sam, die sein Handgelenk griff und ihn festhielt.
»Was genau war das?«
Eobard sah ihr in die Augen. »Die Wahrheit, Sam. Die unumstößliche Gewissheit darüber, wer ich tief in meinem Herzen bin. Aber das, was die junge, brillante Frau, die vor Vernarrtheit blind war, nicht sehen konnte, war, dass die Wahrheit sie zerstören würde. Du, die du gerade vor mir sitzt, hast mich vergessen, Sam. Du bist nicht vernarrt in mich. Deswegen höre mir gut zu: Den Weg der Wahrheit zu beschreiten würde bedeuten, dass es für uns beide kein Zurück mehr gäbe – nie wieder. Und glaub mir, wenn ich dir sage, dass du diesen Pfad nicht beschreiten möchtest. Mit niemandem, nicht einmal mit mir.« Eobard entzog seine Hand aus Sams Griff, doch sie blieb hartnäckig und hielt ihn an seinem Ärmel fest.
»Was hat dieser Jasper zu dir gesagt, Harrison? Ich verlange, dass du es mir erzählst.«
Ein müdes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. »Er sagte, dass ich der Grund für all deinen Kummer und dein Leid bin, weil ich zu egoistisch sei, dich loszulassen. Und wenn ich dich so ansehe, wie du heute selbstbewusst und unerschrocken vor mir sitzt und mir Paroli bietest, glaube ich, dass er recht hat. Du solltest dir gut überlegen, ob du deine Erinnerungen wirklich zurückwillst, Sam. Dies könnte der Neuanfang sein, den du verdient hast.«
Mit diesen Worten löste sich Eobard endgültig von Sam und verließ das Café.

Schweigend verweilte Sam an ihrem Platz, verwirrt durch den Sturm tief in ihrem Innern. Ihr Herz tobte, ihre Gedanken überschlugen sich. Es waren keine klaren Worte, sondern vage Gefühle, mit denen sie nichts anzufangen wusste. So als wäre die Verbindung zwischen Herz und Kopf getrennt. Ihr Körper fühlte Dinge, die ihr Verstand nicht richtig begreifen konnte, was für Sam einer persönlichen Tortur gleichkam. Ihr ganzes Leben hatte sie sich auf ihren Verstand verlassen, was blieb ihr denn noch ohne ihn?
Etwas tropfte auf die hölzerne, runde Tischplatte vor ihr. Mit einem verwirrten Blinzeln verwischte sie den einsamen Wassertropfen auf dem Tisch und zerrieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Danach führte sie ihre Hand an ihre Wange und erfühlte die Tränen, die still und heimlich über ihr Gesicht rannen. Sie weinte, wegen ihm. Und aus irgendeinem Grund stimmte sie das unsagbar wütend.
Ruckartig erhob sich Sam von ihrem Platz. Ihren Kaffee ließ sie einfach zurück, stattdessen stapfte sie aus dem Jitters und begab sich auf die Suche nach Harrison.
Sie fand ihn in der Fußgängerzone. Zielstrebig steuerte er auf seinen schwarzen Sportwagen zu und kramte seinen Schlüssel aus seiner Tasche hervor. In wenigen Schritten war sie bei ihm und zog ihm den Autoschlüssel aus der Hand.
»Sam«, sagte Harrison leise. »Ich möchte mich nicht mehr mit dir streiten, dafür bin ich zu müde.«
»Du bist ein Arschloch«, wetterte sie und erntete mehrere verwirrte Blicke von den Menschen um sie herum, einschließlich Harrison. Seine eisblauen Augen glitten fragend über ihr Gesicht und als sie die Tränenspuren auf ihren Wangen erfassten, weiteten sie sich für einen flüchtigen Augenblick.
»Wieso glaubst du, die Entscheidung, wann wir uns streiten und wann nicht, liege ausschließlich bei dir? Wieso glaubst du ein recht zu haben, zu entscheiden, wann wir uns annähern und wann wieder trennen? Ich mag nichts mehr über uns wissen, das ist wahr, aber mein Herz sagt mir, dass du diese Scheiße schon diverse Male abgezogen hast.« Sie klopfte sich auf die Brust, das Gesicht wütend verzogen, während weitere verräterische Tränen über ihre Wangen liefen. »Denkst du wirklich, ich könnte einen Neuanfang wagen, wenn diese verwirrenden Gefühle vorhanden sind? Wenn mein Körper so reagiert, wie er es eben in deiner Gegenwart tut? Wenn dem so ist, bist du ein Idiot, Harrison. Als ob der Kopf der einzige entscheidende Part eines Menschen ist. Der Körper spielt ebenfalls eine fundamentale Rolle. Das Herz.«
»Das ist mir bewusst, Samantha«, erwiderte er im scharfen Ton. »Hältst du mich für so ignorant? Ginge es allein um den Kopf, dann hätte ich längst dafür gesorgt, dass du bei Mercury Labs arbeitest und dort deinen Karrierepfad beschreitest. Ich hätte alles dafür getan, dass wir uns nicht mehr sehen und endlich den Schlussstrich gezogen, der nötig gewesen wäre. Wäre mein Verstand stärker als mein Herz, dann hätte ich dich an jenem Abend nie geküsst. An dem Abend, an dem ich dich beinahe verloren habe...«
Sie starrten einander einen langen Augenblick an. Zorn, Trauer, Liebe und Leidenschaft bildeten einen verwirrenden Sturm in Sams Innern, während sich ihr Blick mit Harrisons verhakte. Wiederholt strich sie sich über die Wangen, wütend darüber, dass ihr Körper so viel von ihrer Gefühlswelt preisgab. Mittlerweile war ihre Haut von der Geste ganz wund, ihre Wangen brannten unter den salzigen Bahnen ihrer Tränen.
Als Sam ihren Blick flüchtig von Harrison löste, wurde ihr bewusst, dass sie von mehreren Menschen angestarrt wurden. Ihr Gespräch musste, ohne dass sie es bemerkt hatten, an Lautstärke und Intensität dazugewonnen haben und wenn sie an ihre Recherche über Harrison Wells zurückdachte, war er kein unbekanntes Gesicht in der Stadt. Ganz im Gegenteil.
Sam gab ein gereiztes Zungenschnalzen von sich und schloss die Distanz zu Harrison auf. Sie hielt ihm den Autoschlüssel entgegen, zögerlich griff er danach. »Fahr uns irgendwo hin, wo wir ungestört sind«, wies sie ihn an. »Wir sind noch nicht miteinander fertig. Diese Entscheidung treffe diesmal ich.«
Ohne sich nochmals zu ihm umzudrehen lief Sam zum Auto, umfasste den Griff der Tür und wartete darauf, dass Harrison ihr folgte. Nach wenigen Sekunden des Zögerns gehorchte er ihr und öffnete den Wagen.

Schweigend saßen sie nebeneinander im Wagen, während Harrison das Fahrzeug geübt über die Straßen lenkte. Sam nutzte die Minuten, um herunterzukommen und sich ihre nächsten Schritte genau zu überlegen. Während sie dabei war, tief im Morast ihrer Gedanken zu versinken, fragte sie sich just, ob dies nicht der große Fehler von ihnen beiden war. Ob sie schlicht zu viel über die Dinge nachdachten, ja sie regelrecht zerdachten. Sowohl Harrison als auch sie schienen beide Kopfmenschen zu sein. Wäre es da nicht sinnvoll, einmal dem Herzen die Vorherrschaft zu überlassen und es eine so folgenschwere Entscheidung wie diese treffen zu lassen?
Harrison fuhr sie in ein Industriegebiet, das am heutigen Sonntag einer Geisterstadt glich. Die Fabriken und Läden waren geschlossen, nur vereinzelt parkten Fahrzeuge auf den Seitenstreifen und sie erblickten keine andere Menschenseele weit und breit. Da der Wissenschaftler jemand zu sein schien, der stets auf Nummer sicher ging, steuerte er den Wagen in die hintere Ecke eines vollkommen leeren Parkplatzes. Statt auf Asphalt und Beton blickten sie nun auf das angrenzende Waldgebiet.
Er schaltete den Motor aus und somit erstarb auch das letzte Geräusch, sodass sich eine erwartungsvolle Stille im Fahrzeug ausbreitete und sie umhüllte wie ein dichter Schleier. Sam spürte seinen Blick auf sich ruhen. Und sie spürte regelrecht, wie er nach den geeigneten Worten suchte.
Sie schloss die Augen und erlaubte sich ein letztes Mal, ihre Gedanken schweifen zu lassen. Als sie ihre Lider wider aufschlug, hatte sie eine Entscheidung getroffen. Harrison sah zu ihr und setzte zum Sprechen an, aber sie ließ ihn nicht gewähren. Sie beugte sich zu ihm herüber und presste ihre Lippen auf seine, um jedes zurechtgelegte Wort zu ersticken.
Verwirrung. Das war die erste Emotion, die Harrison ihr mit seiner Körpersprache vermittelte. Sam spürte, wie sich sein Oberkörper unter ihr versteifte und auch seine Lippen schienen sich gegen ihre zu wehren. Aber sie ließ sich nicht verunsichern. Hartnäckig verstärkte sie den Druck ihrer Lippen, ja forderte diesen Kuss regelrecht ein, während sie seine Wangen mit ihren Fingern umschloss und sich ihre Fingernägel sacht in seine Haut gruben.
Ihr Herz sendete mehrere, unmissverständliche Stromschläge durch ihre Brust und allein dieser fast einseitige Kuss trieb ihren Körper an seine Grenzen. Sie spürte die Erregung, die sich als brennendes Knäuel zwischen ihren Brüsten sammelte und von dort hinunter zwischen ihre Beine strahlte. Und sie spürte die Liebe. Die verzehrende, gewaltsame Liebe, so mächtig, dass sie ganze Wälder niederbrennen könnte.
Verlorene Erinnerungen hin oder her, sie war diesem Mann eindeutig mit Haut und Haar verfallen. Ihr Herz erinnerte sich daran, ebenso wie ihr Körper. Und Herzerinnerungen vermochte nicht einmal ein Meta-Wesen zu löschen.
»Sam«, raunte Harrison und löste sich gerade so weit, wie sie ihm gestattete. Sie hielt sein Gesicht noch immer zwischen ihren Händen. Sein heißer Atem streifte ihre Lippen und seine blauen Augen, nun glasig statt klar, tasteten über ihr Gesicht. »Was hast du vor?«
»Ich überprüfe eine Theorie«, sagte sie selbstsicher. »Wir stecken offensichtlich in einer Sackgasse. Wie ich unsere Situation verstanden habe, tun wir uns gegenseitig immer wieder weh, trennen uns und kommen wieder zusammen und das Spiel wiederholt sich.«
»Richtig«, pflichtete Harrison ihr schwer atmend bei.
»Also ist es an der Zeit, eine endgültige Entscheidung zu treffen, Harrison. Tor A oder Tor B, wir bleiben nicht länger zwischen beiden Türen stehen und warten, sondern entscheiden uns für eine.«
»Was befindet sich hinter beiden Toren?«, fragte er.
Sam lächelte, froh darüber, dass er sich ihren Vorschlag anhörte. »Ich hole meine Erinnerungen nicht zurück und verlasse S.T.A.R. Labs. Du sagtest vorhin, dass in Mercury Labs ebenfalls eine vielversprechende Position auf mich wartet. Wenn wir uns nicht mehr sehen, werden auch die Herzerinnerungen irgendwann vergehen.«
Sie erkannte in seinem Blick, dass ihm diese Option aus tiefster Seele missfiel. Trotzdem widersprach er ihr nicht, sondern nickte langsam. »Und Tor B?«
»Ich hole mir meine Erinnerungen von Memory Master wieder. Wir kommen wieder zusammen – aber diesmal richtig. Keine halben Sachen mehr, keine Geheimnisse oder Manipulation. Wir stürzen uns beide kopfüber in diese Beziehung hinein und sagen einander die volle Wahrheit.«
»Das sind in der Tat zwei Extreme«, murmelte Harrison.
»Ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir uns in der Zwischenzone lange Zeit wohlgefühlt haben. Sie war wie eine Komfortzone, ein Vakuum. Aber du als Wissenschaftler müsstest doch am besten wissen, dass im Vakuum nichts wachsen kann, Harrison.« Sam umfasste sein Kinn und drehte seinen Kopf zu sich. Dann legte sie ihre Lippen hungrig auf seine.
Harrison gab einen Laut von sich, eine Mischung aus Weigerung und Hingabe. Er verlor sich für einen Moment in dem Kuss, indem er seine Hand in ihr Haar wandern ließ und sie dichter zu sich zog. Danach schob er sie bestimmt von sich weg.
»Denkst du wirklich, dies ist der richtige Weg, um eine endgültige, so wichtige Entscheidung zu treffen, Sam? Wir haben uns schon oft in körperlichen Dingen verloren, anstatt ein dringend benötigtes Gespräch zu führen. Das hast du mir zurecht vorgeworfen.«
»Das mag sein, aber auf meinen Verstand kann ich im Augenblick nicht zählen, mir bleiben nur mein Körper und mein Herz«, hauchte sie und schnallte sich ab. Mit einem Zischen zog sich der Gurt zurück und gab sie frei. Sam nutzte ihre neue Beweglichkeit, um über die Mittelkonsole zu klettern und auf Harrisons Schoß Platz zu nehmen. Trotz seiner Einsprüche konnte sie unter sich spüren, wie sehr er sie wollte. Der Verstand konnte lügen, Körper und Herz konnten es nicht.
»Sex wird die Dinge verkomplizieren«, murmelte Harrison, während Sam ihm die Brille von der Nase zog und sie achtlos neben sie auf den Beifahrersitz warf. »Das hier ist womöglich ein Fehler.«
»Das ist mir im Augenblick total egal.«
Harrison hob eine Augenbraue, sein forschender Blick tastete über ihr Gesicht.
»Du sagtest vorhin, dass du voller Makel bist«, erklärte sie und presste ihren Oberkörper gegen seinen, während sie mit der Hand an der unteren Seite des Sitzes nach den Bedienelementen suchte. Sie spürte, wie sein Herz wild gegen ihres hämmerte und sich seine Mitte weiter versteifte. »Was lässt dich denken, dass ich rein und unschuldig bin, Harrison? Auch ich habe meine Laster zu tragen, auch ich bin voller Fehler.«
Als sie das Bedienelement fand, betätigte sie den Knopf und ließ die Sitzlehne nach hinten fahren. Ein überraschtes Keuchen wich aus Harrisons Kehle, was Sam verklärt grinsen ließ. Sie lag nunmehr auf ihm und nutzte die neue, bequemere Position, um sich der Länge nach an ihn zu schmiegen.
»Ich bin noch immer verwirrt«, fuhr Sam fort. »Im Grunde kenne ich dich nicht und empfinde doch so viel für dich, dass ich Angst habe, darunter begraben zu werden. Also schalte ich meinen Verstand jetzt aus und lasse mein Herz entscheiden und ich wünsche mir, dass du dasselbe tust.« Sie beugte sich über ihn, nur wenige Millimeter trennten ihre Gesichter voneinander. Ihr Finger fuhr über seinen Kehlkopf, der schwerfällig auf und ab hüpfte, hinunter zu seinem Schlüsselbein. »Zeig mir, wer du bist, Harrison«, flüsterte sie. »Zeig mir die eine Wahrheit, die du bisher vor mir verborgen hast. Nicht mit Worten, Worte sind im Moment egal. Zeig es mir mit Taten, lass es mich spüren. Und dann entscheiden wir uns für Tor A oder Tor B.«
Sam hatte die Worte kaum zu Ende gesprochen, als Harrisons Hand hinauf zu ihrem Hals schnellte und ihn sacht aber bestimmt umschloss. Mit wilden, blauen Augen besah er sie, ehe er sie ruppig zu sich herunterzog und seine Lippen ausgehungert auf ihre presste.
Sie lächelte in sich hinein, wohlwissend, dass es ihr soeben gelungen war, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Die Frage jedoch war – könnte sie den Mann darunter ebenso lieben?

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