Kapitel 29 - Ein Schritt nach vorn
Sam saß auf dem Sofa des Aufenthaltsraumes, ihren Laptop auf dem Schoß. Das Gesicht höchst konzentriert verzogen tippte sie etwas ein. Das Klacken der Tasten hallte durch den großen, beheizten Raum.
Sie recherchierte.
Eine äußerst wichtige, notwendige Recherche und ihr lief die Zeit davon. Menschenleben standen auf dem Spiel und sollte sie versagen - dann wäre es aus.
Sam ließ die Maus über den Bildschirm fahren und klickte eines der Suchergebnisse an. Im nächsten Moment tauchte jemand hinter ihr auf und lehnte sich gegen das Sofa, eine Lakritzstange zwischen den Zähnen eingeklemmt. Sam bemerkte ihn nicht sofort.
„Geeignete Weihnachtsgeschenke für renommierte Wissenschaftler?", las Cisco laut vor und biss herzhaft von seiner Süßigkeit ab.
Erschrocken riss Sam ihre Augen auf und klappte ihren Laptop mit einem dumpfen Knall zu.
„Was?", hakte sie nach, so als habe sie seine Frage nicht verstanden. Ihr Gesicht lief feuerrot an.
Cisco hüpfte über die Rückenlehne - mehr schlecht als recht - und landete neben ihr auf dem Sofa. Er strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Komm schon Sam, das muss dir doch nicht peinlich sein", sagte er und legte seinen Arm auf die Rückenlehne hinter ihr. Sam wurde roter.
„I-Ich weiß echt nicht, was du meinst, ich habe nur so aus Spaß-"
Cisco unterbrach sie.
„Hör mal, wenn du ein geeignetes Geschenk für mich suchst, dann kannst du mich einfach fragen. Das ist doch kein Problem", erklärte er lapidar.
Sam hob eine Augenbraue.
„Ähm", murmelte sie, doch fuhr der Kleinere selbstsicher fort.
„Mit PS4-Spielen kannst du nie etwas falsch machen, oh, oder Blu-Rays. Ich steh auf Blu-Rays."
Amüsiert presste die Brünette ihre Lippen zusammen und nickte.
„Okay, das merke ich mir", prustete sie. Danach kaschierte sie ihr Lachen mit einem Hüsteln.
„Sehr schön, ich bin froh, dass wir das geklärt haben", sagte er und tätschelte ihr die Schulter.
Bette saß an der Kaffeetheke und beobachtete die Szene mit hochgezogener Augenbraue.
„Ganz schön eingebildet zu glauben, das Geschenk, nach dem sie sucht, sei für dich", kommentierte sie.
Hastig drehte sich Sam zur Soldatin um und wedelte mit den Händen. Sollte Cisco doch denken, was er wollte, solange er nicht hinter die Wahrheit kam.
„Du sei mal ganz still, du Anzug-Killerin", murmelte er und sah Bette beleidigt an.
Offenbar hatte Cisco die Anzug-Affäre noch nicht verkraftet.
Bette schnaubte belustigt.
Im nächsten Moment ertönte Caitlins Stimme aus den Lautsprechern.
„Leute, es gibt erste Ergebnisse. Kommt bitte in den Cortex", wies sie die Gruppe an. Sam erhob sich rasch und klemmte ihr MacBook unter ihren Arm. Cisco streckte sich ausgiebig und schlenderte dann los. Bette schloss zu Sam auf, ein wissendes Funkeln lag in ihren grünen Augen.
„Ich weiß, für wen du ein Weihnachtsgeschenk gesucht hast", sagte sie mit gesenkter Stimme.
Die Brünette zwang sich, nach vorn zu sehen, während sie ihren Laptop nun fest an ihre Brust drückte, unter der ihr Herz raste.
„Ach so?", hakte sie nach und versuchte dabei so unverfänglich wie möglich zu klingen. Ihre Stimme zitterte leicht.
„Ja, es ist ziemlich offensichtlich", murmelte die Rothaarige und beschleunigte ihre Schritte, ein leichtes Grinsen lag auf ihren vollen Lippen. Empört sah Sam ihr hinterher und legte nun ebenfalls einen Zahn zu.
Als die kleine Gruppe den Cortex erreichte, waren Caitlin, Barry und Dr. Wells bereits anwesend. Automatisch lugte die Brünetten zu ihm. Bette, die neben ihr zum Stehen kam, warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Rasch wandte sich die junge Wissenschaftlerin wieder ab und zwang sich zu Caitlin zu sehen, die die Ergebnisse von Bettes Proben besprechen wollte. Sie hatten sie vom Computer auswerten lassen.
„Und, wie sieht's aus?", fragte die Soldatin, die nun ebenfalls zur Ärztin sah und verschränkte die Arme vor der Brust.
Caitlin drehte sich zum Computer, der auf dem Tisch hinter ihr stand, und öffnete mehrere Bilder von Körperscans sowie Aufzeichnungen von Blutwerten. Sam konnte bereits jetzt anhand des Gesichtsausdrucks der Braunhaarigen erkennen, dass sie keine guten Nachrichten hatte. Sie verzog ihre Lippen und sah wehleidig zu Bette, die wohl ähnliches aus der Gesichtsmimik der Ärztin herausgelesen hatte.
„Du besitzt eine einzigartige Zellstruktur, Bette, soviel ist sicher. Du hast so hohe Nitrogen-Werte, wie ich sie noch nie bei einem Menschen vor dir gesehen habe", begann Caitlin auszuwerten. Sam trat an den Bildschirm heran und beäugte den Körperscan der Soldatin, betrachtete ihre Werte.
Sie verengte ihre Augenbrauen.
„Und weiter?", hakte die Rothaarige ungeduldig nach.
Die Wissenschaftsstudentin ahnte bereits, worauf Caitlin hinauswollte. Mitleidig sah sie zu Bette.
„Die kleinen Schrapnellsplitter in deinem Körper, die die Bombenexplosion hinterlassen hat, haben sich, als dich die Welle Dunkler Materie getroffen hat, mit deinen Zellen verbunden. Sie sind sozusagen nun ein Teil deiner DNA."
Verwirrt schüttelte Bette ihren Kopf.
„Und das bedeutet?"
„Es bedeutet", nahm Harrison das Wort an sich und fuhr ein Stück mit seinem Rollstuhl vor, „dass wir keine Möglichkeit haben, Ihnen Ihre Kräfte zu entziehen. Der DNA-Splicer, den es dafür benötigt, ich befürchte, er wurde noch nicht erfunden."
Bedrückt sah Sam zu Boden, anschließend wieder zu Bette. Diese starrte den Wissenschaftler unverständlich an und trat ein paar Schritte zurück. Sam konnte sehen, wie ihre Hoffnung zerschellte. Und sie kannte es, sie kannte dieses Gefühl so gut. In einer anderen Situation, doch blieb der Ausgang derselbe.
„Bette", setzte die Brünette vorsichtig zu Wort an, doch wandte sich die Soldatin auf dem Absatz um und stürmte aus dem Cortex.
Sam wollte ihr nachlaufen, wurde jedoch von Harrison, der seinen Arm vor ihren Körper streckte, aufgehalten.
„Nicht. Gib ihr einen Moment", riet er ihr und sah zu ihr auf. „Sie benötigt etwas Zeit, um die Sache zu verdauen."
Sam verzog ihre Lippen, nickte anschließend jedoch.
Sie hasste es. Hasste das Gefühl der Hilflosigkeit, das Gefühl, absolut nichts tun zu können. Etwas musste es doch geben, irgendetwas.
Es war bereits spät am Abend, als Sam wiederholt vor ihrem Laptop saß, den sie nun schon eine geraume Zeit lang anstarrte. Diesmal recherchierte sie jedoch nicht zu einem Weihnachtsgeschenk für Dr. Wells. Es waren die Werte und Scans von Bette, die sie geöffnet hatte. Caitlin hatte ihr die Dateien auf einem USB-Stick mitgegeben. Sie musterte die Bilder und Linien, die Zahlen und Buchstaben und dachte nach. Grübelte über einen Weg, der Rothaarigen zu helfen, denn stand Aufgeben nicht zur Debatte.
Ihr Blick schweifte aus dem Fenster. Dicke Schneeflocken fielen, wie bereits am Abend zuvor, vom Himmel und tauchten Central City in Weiß. Mit etwas Glück würden sie dieses Jahr wohl weiße Weihnachten bekommen, doch damit alle das Fest der Liebe genießen konnten, auch Bette, musste sie sich etwas einfallen lassen. Etwas, um die Stimmung der Soldatin zu heben, die in den letzten Monaten so viel hatte durchmachen müssen.
Sam seufzte tief und schlug ihr schwarzes Notizbuch auf, in dem sie die Erkenntnisse, die sie beim Verfolgen von Bettes Training erlangt, notiert hatte. Sie nahm ihren Kugelschreiber zur Hand und ließ ihn leise klacken.
„Ey, Sam", ertönte Ambers Stimme direkt hinter ihr. Erschrocken zuckte die junge Frau zusammen und fasste sich an die Brust. Im nächsten Moment drehte sie sich mit ihrem Stuhl herum zu Amber, die neugierig über ihre Schulter lugte.
„Gott, Amber, schleich dich bitte nicht so an", presste sie atemlos hervor.
Die Blondine verzog skeptisch ihr Gesicht.
„Anschleichen? Sammy, man könnte neben dir einen Atomkrieg führen und du würdest nichts davon mitbekommen, wenn du in Gedanken bist", kommentierte sie trocken und lief um ihren Stuhl herum, um sich lässig gegen den Schreibtisch zu lehnen, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Außerdem habe ich dir bereits beim Betreten des Zimmers eine Frage gestellt, aber du hast mich eiskalt ignoriert."
Entschuldigend schürzte Sam ihre Lippen.
„Sorry. Was hast du mich denn gefragt?"
Amber fuhr sich durch ihr kurzes Haar.
„Ob du zu Weihnachten hier bist oder nach Kalifornien fährst", wiederholte sie die von Sam eingangs überhörte Frage zuvorkommend.
Für die Brünette stand es nicht zur Debatte, zu ihren Eltern zurückzufahren. Mit ihrer Mutter war sie nicht im Guten auseinandergegangen und ihr Vater hatte sie nicht unterstützt, zumindest nicht so, wie sie geglaubt hatte er würde es tun. Er hatte sie bitter enttäuscht, somit vermutlich mehr noch, als ihre distanzierte, strenge Mutter.
„Nein, ich bleibe hier, in Central City", ließ sie ihre Freundin mit einem Lächeln wissen, das ihre komplizierte Familiengeschichte verbergen sollte.
„Okay, cool. Ich nämlich auch. Mom und Dad fliegen dieses Jahr nach Thailand", erzählte die Polizistin mit diesem gewissen Unterton in der Stimme, der erahnen ließ, dass sie am liebsten mitgeflogen wäre. Amber hasste den Winter nämlich, dabei passten die Kälte und Härte des Winters zu ihrer Persönlichkeit, wie Sam sie immer wieder, wenn dieses Thema zur Sprache kam, aufzog.
„Ich habe eine grandiose Idee, Sammy", fuhr Amber fort und umfasste die Schultern ihrer zierlicheren Mitbewohnerin. „Du und ich, wir kaufen uns einen Weihnachtsbaum, schmücken ihn, betrinken uns und legen uns darunter. Das klingt doch hammergeil, oder was denkst du?"
Sam öffnete ihre Lippen. Genau genommen hatte sie schon Pläne.
„Ja, schon, aber", begann sie zögerlich. Ihre braunen Augen musterten die Blondine entschuldigend.
Empört richtete sich Amber wieder auf.
„Nein, sag nicht, du hast schon Pläne", entwich es ihr empört.
„Nicht direkt, nur ein kleines Beisammensein im Cortex, mit meinem Team", nuschelte sie zaghaft. „Bevor Joe und Barry dann losmachen, zu sich nach Hause. Wir sind ebenfalls eingeladen, aber Dr. Wells wird den Cortex wohl nicht verlassen und da dachte ich, es wäre schön, wenn er Gesellschaft hat zu Weihnachten."
Beleidigt verschränkte Amber ihre Arme vor der Brust und zog eine Schnute.
„I-Ich dachte du bist bei deinen Eltern, deshalb habe ich dich nicht eingeladen." Sam erhob sich rasch. „Aber jetzt, wo ich weiß, dass du da bist, lade ich dich natürlich auch offiziell dazu ein, uns beizuwohnen, im Cortex und anschließend bei Joe", verkündete sie feierlich und vollführte eine übertriebene Handgeste.
Amber kräuselte nachdenklich ihre Stirn.
„Mit deinen Nerd-Freunden komme ich klar, aber Joe ... keine Ahnung, ob ich Weihnachten mit meinem Boss verbringen will."
„Ach komm schon, Am, das wird lustig. Ich verbringe Weihnachten doch auch mit meinem Boss", animierte Sam ihre Freundin.
Die grünen Augen der Polizistin, die kurz an die Zimmerdecke gestarrt hatten, blickten nun zu ihr.
„Ja, aber im Gegensatz zu dir will ich meinen Boss nicht ausziehen", kommentierte sie trocken.
Sam entglitten ihre Gesichtszüge.
„Oder nein, warte, er sollte dich ausziehen, oder? So hast du es lieber", fuhr Amber fort und lachte laut, als die Brünette nach vorn schnellte und ihrer Mitbewohnerin panisch ihre Hand auf den Mund presste, so als habe sie Angst, jemand könne sie hören.
„Sei still, ich war total dicht, als ich das gesagt habe", jammerte Sam. Dass Amber noch immer darauf herumreiten musste.
Prustend schob die Blondine ihre Freundin beiseite.
„Ist ja gut und ja, ich nehme deine Einladung gern an. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, könnte es doch ziemlich lustig werden", kommentierte Amber mit einem unheilvollen Grinsen.
Sam lächelte nervös.
Wenn sie es sich genau überlegte, war es vielleicht ein Fehler gewesen, ihre schlagfertige Mitbewohnerin einzuladen. Sam konnte nur beten, dass sie in Gegenwart von Dr. Wells keine Andeutungen machte.
Als sich Sam am nächsten Morgen auf den Weg machte, knackte der Schnee unter ihren Füßen bei jedem Schritt. Abwesend betrachtete sie das reine Weiß und dachte nach. Diesmal nicht über Bette, auch nicht über Dr. Wells - was eine wahre Seltenheit darstellte. Anbetracht der Tatsache, dass bald Weihnachten und anschließend Neujahr war, reflektierte die Brünette ihr Leben.
Seit geraumer Zeit bestand es aus diversen Baustellen. Immer mehr Trümmer waren hinzugekommen und hatten ihr den Weg versperrt. Es war an der Zeit, dass sie die Steine und Brocken beseitigte und voranschritt. Dr. Wells hatte es ihr immer wieder gesagt - sie durfte nicht stillstehen, musste weitergehen, auch wenn es schmerzhaft war. Doch noch viel schmerzhafter wäre es auf der Stelle zu verharren. Und so hatte Sam beschlossen, die Baustellen noch vor Anbruch des neuen Jahres abzuschließen, nun, zumindest einige von ihnen.
Fest entschlossen lief sie durch den Schnee, auf dem Weg zur Universität. Sie wollte den ersten Schritt wagen - sie wollte Josh und Riley alles beichten. Viel zu lange hatte sie die Sache nun vor sich hergeschoben.
Die Freunde hatten sich vor der Fakultät verabredet. Tief atmete die junge Frau ein und aus, als sie ihre Kommilitonen erblickte. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würden, schließlich hatte sie ihnen eine ziemlich große Sache aus ihrem Leben verschwiegen. Sie rechnete mit Wut, Enttäuschung, doch spielte das keine Rolle. Vor allem Riley hatte endlich ein Recht darauf zu erfahren, woran sie in den letzten Monaten gearbeitet hatte.
„Hey, Leute", grüßte Sam die beiden, als sie sie erreichte. Die Blondine lächelte müde. Josh, der dicht neben der Kleineren stand, nickte der Brünetten zu. Seit ihrem Streit hatten sie nicht mehr darüber geredet, all ihre Aufmerksamkeit galt Riley, der der Tod ihrer Mutter nach wie vor zusetzte. Des Öfteren hatte die Blondine Sam mitten in der Nacht weinend angerufen und die Wissenschaftlerin war für ihre Freundin da gewesen, hatte auf sie Acht gegeben, so, wie Shannon Anderson sie gebeten hatte.
„Hey Sammy", sagte Riley und zog sie in eine sanfte Umarmung. Zwischen Josh und ihr blieb es nur bei einer kurzen Handgeste.
„Also, können wir rein?", fragte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Gebäude.
Jetzt war es soweit.
Sam öffnete ihre Lippen, ihr Herz raste in ihrer Brust. Sie spürte ein beklemmendes Gefühl auf Höhe ihres Herzens.
„Noch nicht", sagte sie zögerlich.
Josh und Riley musterten sie fragend. Sam nahm all ihren Mut zusammen, den sie auf dem Weg zur Universität aufgebaut hatte, ballte ihre Hände zu Fäusten und betrachtete ihre beiden Freunde. Sie hob ihre Hand und deutete in Richtung des kleinen Parks neben dem Fakultätsgebäude.
„Können wir zuerst reden, unter sechs Augen? Ich muss euch etwas Wichtiges erzählen."
Die Drei ließen sich auf einer Bank nieder, inmitten des Parks, der aufgrund der Tatsache, dass die Vorlesungen jede Minute begannen, leer war. Josh nahm zu ihrer Linken Platz, Riley zu ihrer Rechten. Beide musterten sie eindringlich, nicht wissend, was sie ihnen zu sagen hatte. Sam rieb ihre kalten Hände über ihre Knie und sah auf den Schnee vor sich, während sie versuchte, die geeigneten Worte zu finden.
„Sammy, ist alles in Ordnung?", ertönte Rileys leise Stimme neben ihr.
Die Brünette hob ihren Kopf und musterte die himmelblauen Augen ihrer Freundin. Sie hatte abgenommen. Rileys Wangen waren nicht mehr so voll wie früher und auch der rosige Teint war einer geisterhaften Blässe gewichen. Es war ihre Schuld, das wisperte ihr eine leise Stimme nach wie vor zu.
„Es tut mir so leid, Riley", wisperte sie schließlich und verzog wehleidig ihr Gesicht.
Verwirrt blinzelte die Blondine.
„Was? Was meinst du?"
Schluchzend fuhr sich Sam über ihr Gesicht und schüttelte ihren Kopf.
„Es tut mir so, so leid. Ich hätte all das verhindern können, wäre ich nur besser gewesen, klüger. Ich habe es versucht, ich habe es wirklich, wirklich versucht", schoss es aus ihr heraus, obwohl dies nicht die Worte waren, die sie sich zuvor im Kopf zurechtgelegt hatte. Tröstend und perplex zugleich legte Riley ihren Arm auf den Rücken der Wissenschaftlerin und streichelte darüber.
„Sammy, ich verstehe nicht. Was hast du versucht? Was hättest du verhindern können?"
Die Brünette hatte ihr Gesicht in ihrer Hand vergraben und sich nach vorn gebeugt. Sie atmete tief ein und versuchte, sich wieder zu fassen. Hastig blinzelte sie die Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten, fort und lehnte sich wieder zurück.
„Ich habe euch beide belogen", gestand sie. „Die ganze Zeit über habe ich euch darüber belogen, was ich eigentlich mache."
Riley und Josh tauschten einen verwirrten Blick aus.
Danach begann Sam zu erzählen.
Davon, wie sie aufgrund von Ambers Giftgasunfall in Star Labs gelandet war, weil es noch immer privat operierte und nur die Wissenschaftler dort ihr hatten helfen können. Wie sie immer wieder mit dem Labor in Berührung gekommen war und ausgeholfen hatte.
Die Meta-Wesen ließ sie vorerst weg. Die waren die eine Information, die Sam nicht weitergeben durfte.
Schließlich gelangte sie zu jenem Teil in ihrer Erzählung, in der es darum ging, dass sie in den vergangenen Monaten gemeinsam mit Star Labs an einer fortgeschrittenen Gentherapie geforscht hatte, um Shannon Anderson mehr Zeit zu verschaffen. Zum Zwecke der Veranschaulichung zog Sam die kleine Ampulle, gefüllt mit einem Teil des Serums, das sie gestern Abend aus Star Labs mitgenommen hatte, aus ihrer Jackentasche. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit darin schimmerte im Licht der Sonne.
„Es ist fertiggestellt, das Mittel, an dem ich mit Caitlin die ganzen letzten Monate über gearbeitet habe, nur leider zu spät, viel zu spät. Das hier ist es", schloss Sam ihre fünfzehnminütige Erzählung und schluckte schwer. Ihre Augen fixierten die Ampulle in ihrer Hand. Sie traute sich kaum, aufzusehen.
Es herrschte Stille, für einen langen Moment. Niemand sagte etwas.
„Moment ... was?", meldete sich Josh als erstes zu Wort. Er erhob sich und lief ein paar Schritte, ehe er sich wieder zur Brünetten herumdrehte.
„Du hast die letzten Monate in Star Labs gearbeitet? Für Wells? Deshalb warst du immer weg?"
Betreten senkte Sam ihren Blick. Irgendwie hatte sie geahnt, dass Josh wütend sein würde. Dass er sie nicht verstehen würde.
„Ich verstehe das alles nicht. Wieso hast du denn nichts gesagt, Sammy?", ertönte nun Rileys leise Stimme neben ihr. Sam drehte ihren Kopf zur Blondine und verzog traurig ihr Gesicht. Riley musterte die Ampulle in ihrer Hand.
„Es musste geheimbleiben. Und von dem Mittel habe ich euch nichts erzählt, weil ich erst Resultate erzielen wollte, echte Resultate. Als ich dich vor einigen Tagen angerufen habe und Josh an dein Handy ging, da hatte ich eigentlich vor dir alles zu erzählen, nur" - Sam stoppte.
„Oh Sammy", murmelte die Kleinere. Ihre blauen Augen begannen zu schimmern. „Deswegen warst du so selten in der Uni und danach immer weg, weil du Mom und mir helfen wolltest. Das war das, was du mir damals am Telefon noch nicht erzählen konntest", reimte sie sich alles zusammen.
Traurig nickte die Wissenschaftlerin.
„Ja, das ist richtig und es tut mir so unendlich leid", begann sie vom Neuen sich zu entschuldigen, brach jedoch ab, als Riley ihre dünnen Arme um sie legte und sie in eine feste Umarmung zog.
„Ich kann nicht glauben, dass du das für mich getan hast, dass du das für mich versucht hast", presste sie hervor. Perplex blinzelte Sam, im ersten Augenblick nicht wissend, wie sie nun reagieren sollte. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet, dabei hatte sie sich den Ausgang dieses Gesprächs bestimmt hunderte Male ausgemalt. Zögerlich legte die Brünette ihre Arme um ihre Freundin.
„Aber ich habe versagt, Riley", erinnerte sie die Blonde. „Das Serum wurde viel zu spät fertig."
Sie spürte einen bösen Druck hinter ihren Augäpfeln.
„Du hast nicht versagt, Sammy", schluchzte ihre Freundin in ihr Haar. „Du hast dein Bestes versucht, für mich, für Mom. Du hast alles getan was du konntest und dafür werde ich dir auf ewig dankbar sein", hauchte sie mit brüchiger Stimme und krallte sich in die Winterjacke der Brünetten. „Also sage nicht, dass du versagt hast."
Josh, der neben den beiden Freundinnen stand, blinzelte hastig und wandte dann seinen Blick ab. Seine dunkelbraunen Augen schimmerten traurig, während er unbeholfen seine Hände in seinen Hosentaschen vergrub.
Sam, im ersten Moment noch zu überrumpelt von Rileys liebevoller Reaktion, schlang nun ihre Arme fest um die Kleinere und vergrub ihr Gesicht in ihrer Jacke.
Sie bekam das, womit sie von allem wohl am wenigsten gerechnet hätte.
Vergebung.
Jenes, das sie benötigt hatte, um wirklich aus tiefster Überzeugung weitermachen zu können.
Es hatte einige Minuten gedauert, bis sich die beiden Freundinnen wieder beruhigt hatten. Noch immer saß der Schock sowie die Überraschung über jenes, das Sam offenbart hatte, tief in den Knochen ihrer Kommilitonen. Dennoch meinte Riley ihre Worte ernst. Sie war nicht enttäuscht von ihr, nicht wütend, sondern dankbar. Dankbar für den Versuch, obgleich sie gescheitert war.
Die Blondine rieb sich ein letztes Mal hastig über die Wangen, während sie das Fakultätsgebäude betraten. Sam wusste, ihre Freunde mussten die Neuigkeiten erst verdauen.
Plötzlich hielt Josh sie an ihrem Arm zurück. Er war auf dem Weg hierher hinter ihr gelaufen. Fragend sah die junge Frau über ihre Schulter und musterte seine braunen Augen, in denen sie glaubte Reue zu erkennen.
„Sam, ich", murmelte er und kratzte sich unbeholfen am Nacken. „Ich hatte keine Ahnung."
Die junge Frau drehte sich zu ihm herum und schüttelte behutsam ihren Kopf.
„Konntest du auch nicht."
„Und dennoch, ich hätte niemals diese Dinge zu dir sagen dürfen, Sam. Du bist nicht selbstsüchtig, das warst du noch nie", fuhr er fort und drückte ihren Arm. Es war ein Angebot der Versöhnung, welches die junge Wissenschaftlerin nur zu gern annehmen wollte. Sie wollte nicht länger streiten.
„Danke, Josh", sagte sie mit einem zaghaften Lächeln. „Und mir tut es leid, was ich zu dir gesagt habe, wirklich", erwiderte sie nun und musterte ihren Freund reuevoll.
„Nein, weißt du", raunte er und sah über Sams Schulter zu Riley, die zu ihnen gelaufen kam.
„Leute, wo bleibt ihr denn? Wir sind schon spät dran", ließ sie die beiden wissen.
„Eigentlich hattest du ja recht."
Nun zogen sich die Mundwinkel der Brünetten zu einem breiten Lächeln nach oben.
„Freunde?", hakte Josh nach und reichte ihr seine Hand. Anstatt diese zu ergreifen zog sie den Sportler in eine freundschaftliche Umarmung.
„Freunde", murmelte sie und ließ von ihm ab, als Riley sie erreichte.
„Kommt ihr?", fragte sie, woraufhin Sam nickte.
„Wir wollten dir Vorsprung gewähren, mit deinen kurzen Beinchen", stichelte sie leise.
Riley streckte ihr die Zunge heraus. Danach setzten sich die drei Studenten in Bewegung, wobei die Blondine in ihrer Mitte lief. Langsam nahm sie sowohl Sams als auch Joshs Hand.
An diesem Tag überschritt Sam die Türschwelle Star Labs zum ersten Mal, seitdem sie begonnen hatte hier zu arbeiten, gänzlich ohne schlechtes Gewissen.
Josh und Riley wussten nun Bescheid. Keine Lügen mehr, nun, zumindest was ihren Arbeitsplatz anbelangte. Von den Meta-Wesen, die in der Stadt ihr Unwesen trieben, durften sie zwar nach wie vor nichts wissen, doch würden ihre Freunde auch nicht danach fragen. Somit musste Sam sie nicht belügen.
Ihr Herz fühlte sich leichter an, als sie in ihr Labor schritt und Jacke sowie Tasche ablegte. Ihr Geist war freier. Die Stimme in ihrem Kopf, die ihr die Schuld an Shannon Andersons Tod geben wollte, war verstummt, das erste Mal, seitdem sie die Hiobsbotschaft erhalten hatte.
Für einen kurzen Moment schloss Sam ihre Augen und genoss das freie Gefühl, das durch ihre Venen sickerte wie warmer Honig. Danach verließ sie ihr Labor und machte sich auf die Suche nach Bette. Nach wie vor wollte sie nicht aufgeben, sie wollte der Soldatin helfen. Und solange sie noch keine Möglichkeit gefunden hatte, ihr ihre Kräfte zu nehmen, da wollte sie ihr eine andere Möglichkeit bieten, um ihr das Leben zu erleichtern. Um ihr ihre Freude zurückzugeben.
An der Zimmertür der Rothaarigen angekommen klopfte Sam zwei Mal und wartete.
„Bette?", fragte sie, als sich niemand meldete. „Ich bin es, Sam."
Kurz herrschte Stille.
„Lass mich in Ruhe", drang schließlich die gedämpfte Stimme der Soldatin durch die hölzerne Tür.
Entgegen des Befehls drückte Sam die Türklinke herunter und trat ein. Wütend sah die Meta-Frau zu ihr auf.
„Sam, ich sagte doch, du sollst", begann sie, wurde jedoch von der entschlossenen Wissenschaftlerin unterbrochen.
„Ja und ich sagte dir, dass ich nicht aufgeben werde", verkündete sie und ballte ihre Hände zu Fäusten.
Bette hielt inne und musterte die braunen Augen ihres Gegenübers, die intensiv schimmerten. Langsam näherte sich Sam ihr.
„Das, was du gestern erfahren hast, das ist beschissen, ja. Aber das ist für mich lange kein Grund, einfach aufzugeben. Ich nehme meine Worte nicht zurück, ich möchte dir helfen, Bette und mir wird etwas einfallen."
Die Soldatin, die bis eben noch auf ihrem Feldbett gelegen hatte, richtete sich nun langsam auf.
„Vielleicht muss ich umdenken, vielleicht wird das alles nicht so laufen, wie geplant, aber ich werde dir helfen, das verspreche ich dir. Ich werde einen Weg finden", erklärte Sam entschlossen und reckte ihr Kinn.
Bette stützte ihre Ellbogen auf ihren Oberschenkeln ab, während sie ziellos in den Raum starrte. Sie verschränkte ihre Finger ineinander.
„Eiling hat auch versprochen, dass er mir helfen wird", murmelte sie leise. Ihre grünen Augen wanderten wieder zur Wissenschaftlerin. „Auch er sagte mir, dass er einen Weg finden würde, mir zu helfen, doch letztlich hat er nur an mir herumexperimentiert, um mich zu einer Waffe zu machen. Er hat mich festgehalten, monatelang und Wissenschaftler auf meine Erforschung angesetzt. Er hat mich wie ein Ding behandelt, das er kontrollieren kann und das ihm gehört", offenbarte die Rothaarige. Hass schwang in ihrer Stimme mit.
Langsam schritt Sam auf sie zu und ließ sich neben ihr auf dem Feldbett nieder. Es knarrte leise.
„Ja, aber du weißt doch, dass ich nicht so wie Eiling und seine Leute bin. Ich werde dich sicher nicht zu einer Waffe machen, Bette und schon gar nicht werde ich dich wie ein Ding behandeln. Gib mir eine Chance, dein Leben zu verbessern, solange, bis wir einen Weg gefunden haben, dir deine Kräfte zu entziehen", redete Sam behutsam auf die Rothaarige ein und wollte sie an der Schulter berühren, doch reagierte Bette und umfasste hastig ihr Handgelenk, um sie davon abzuhalten. Der lederne Handschuh schützte sie vor Körperkontakt.
„Du darfst dich von diesem Rückschlag nicht unterkriegen lassen, du musst weiterrennen", trug Sam die Worte Barrys weiter und lächelte warmherzig. „Lass es uns versuchen, in Ordnung? Vertrau mir."
Plötzlich ertönte ein lautes Geräusch. Es war der Alarm, der dem Team verkündete, dass Flash gebraucht wurde. Bette ließ von Sams Hand ab. Unsicher sah sie zur Rothaarigen.
„Geh schon", murmelte sie.
Die junge Wissenschaftlerin verharrte nach wie vor an Ort und Stelle.
„Nun geh, du wirst zu einer Mission gerufen. Da kneift man nicht", befahl die Soldatin.
Nickend erhob sich Sam vom Feldbett und eilte zur Tür, verweilte jedoch im Türrahmen und sah noch einmal zur Rothaarigen.
„Ich werde mir was für dich einfallen lassen, Bette. Versprochen. Denk drüber nach", sagte sie mit einem Lächeln und rannte anschließend los.
Schnaufend kam Sam im Cortex zum Stehen. Das Team war bereits anwesend, alle bis auf Barry, doch schloss die junge Frau, dass er bereits auf dem Weg zum Geschehen war, denn war der Anzug in der Nische im hinteren Teil des Raumes verschwunden.
„Samantha", grüßte Harrison sie und schob ihr den Stuhl neben sich zurück. Mit pochendem Herzen und beschleunigter Atmung kam sie der stillen Aufforderung nach und setzte sich neben ihn.
„Was ist passiert?", fragte sie an das Team gewandt, während der Duft des Dunkelhaarigen zu ihr herüber wehte. Sie hatte diesen Duft vermisst. Es kam ihr so vor, als hätte sie den Wissenschaftler eine Weile nicht mehr gesehen, dabei war ihr letztes Aufeinandertreffen nicht einmal vierundzwanzig Stunden her.
„Ein Expresszug hat ne Macke und donnert mit zweihundert Sachen aus der Stadt. Die Elektronik muss kaputt sein, er lässt sich ferngesteuert nicht bremsen", klärte Cisco sie auf. Mit geweiteten Augen sah Sam auf den Computerbildschirm vor sich, auf dem der rote Punkt zu erkennen war, der Barry darstellen sollte.
„Oh nein. Habt ihr schon einen Plan?", fragte sie das Team, woraufhin sich Harrison über sein Kinn fuhr.
"Wir arbeiten dran."
„Leute", drang Barrys Stimme aus den Lautsprechern. „Was soll ich tun?"
Harrison beugte sich vor zum Mikro.
„Zuerst solltest du alle Passagiere da rausbringen, Barry. Danach überlegen wir uns, wie du den Zug stoppen kannst", wies der Wissenschaftler seinen Schützling an.
Nervös flatterte Sams Herz, während sie darüber grübelte, wie man einen Zug mit zweihundert Kilometern pro Stunde zum Stoppen bringen konnte.
„So ein Ding hat doch sicherlich eine Notbremse, oder?", fragte sie Cisco, der von ihnen am meisten bewandert war, was technische Fragen anbelangte. Er schnippte.
„Gib mir einen Moment", murmelte er und gab etwas auf seinem Computer ein. Er recherchierte das Modell des Zuges und überflog rasch die Bauanleitung.
Barry düste hin und her. Hin und her. Seine Blitze schossen durch die Zugabteile, die Menschen darin lösten sich augenscheinlich in Luft auf, doch brachte er sie nach draußen, setzte sie sicher im Schnee ab.
Erst, als sich der Speedster sicher war jeden Mann, jede Frau und jedes Kind gerettet zu haben, kam er auf den Schienen zum Stehen. Der Zug düste vor seinen Augen weiter. Barry hob seine Hand an seinen blitzförmigen Kopfhörer, um mit dem Team Kontakt aufzunehmen.
„Und jetzt? Wie halte ich den Zug auf?", fragte er.
„Da ist eine Notbremse im Zugführerabteil, Barry. Ganz vorn. Ein langer Hebel", ertönte Ciscos Stimme.
Der Speedster bewegte seine Lippen, wiederholte die Worte des Ingenieurs, um sich diese einzuprägen, und rannte los.
Im Lokführerabteil kam er schließlich zum Stehen und sah sich um. Und da erblickte er ihn.
„Ich hab ihn!", sagte er laut, um die quietschenden Geräusche des Zuges zu übertönen.
„Okay, gut. Drück ihn nach hinten", folgte die nächste Anweisung.
Der Speedster nickte und tat wie ihm geheißen. Mit aller Macht stemmte er sich gegen den stählernen Hebel und versuchte ihn zu bewegen. Das Quietschen wurde lauter, ohrenbetäubender. Barrys Gesicht lief rot an, machte seinem Anzug Konkurrenz, während er versuchte, den Zug manuell zu bremsen, doch keine Chance.
„Cisco, das funktioniert nicht", presste er hervor.
„Hm. Das habe ich mir irgendwie gedacht", murmelte der Langhaarige trocken.
„Wie, das hast du dir gedacht?", kam es zeitgleich von Barry aus den Lautsprechern sowie aus Sams Mund. Verlegen grinsend fuhr sich der Ingenieur durchs schulterlange Haar.
„Naja, einen Versuch war es trotzdem wert, oder?"
Sam sah wieder auf den Bildschirm. Barrys Punkt bewegte sich auf der Strecke, die der Zug zurücklegte.
„Oh nein", murmelte sie und deutete auf die Karte. „Der Zug donnert gleich in eine Kleinstadt! Wenn er in die Kurve fährt, wird er entgleisen, wir müssen was tun, jetzt!"
„Und was?", wetterte Cisco panisch zurück. Caitlin neben ihnen zog scharf Luft durch die Nase.
Harrison, der in Situationen wie diesen stets einen kühlen Kopf bewahrte, beugte sich vor zum Mikro. Er stützte eine Hand auf dem Pult ab, mit der anderen schob er seine Brille zurecht.
„Barry, hör mir zu. Cisco wird versuchen, die Elektronik des Zuges auszustellen, danach musst du ihn lediglich ausbremsen", sagte er betont und warf dem Langhaarigen einen Blick zu. Dieser nickte hastig und machte sich sofort daran, sich in das System des Hochgeschwindigkeitszuges zu hacken.
„Aber Dr. Wells, wie soll ich einen Zug aufhalten? Ich bin nicht übermenschlich stark", erwiderte Barry unsicher.
„Du musst nicht übermenschlich stark sein, um es zu bewirken, Barry. Deine Schnelligkeit reicht vollkommen aus, sie ist die stärkste Waffe", erklärte der Brillenträger überzeugt. „Ich möchte, dass du dich mehrere hundert Meter vor den Zug begibst und dort hin und her rennst, Barry. So schnell, wie du kannst und in so kurzen Abschnitten, wie es dir möglich ist."
„Und dann?", kam es zurück. Das Quietschen des Zuges wurde durch die Lautsprecher übertragen. Caitlin verkrampfte sich vor Nervosität, Ciscos Finger flogen in Höchstgeschwindigkeit über die Tastatur.
„Du wirst eine Luftwand erzeugen, Barry. Eine Art Kissen, das den Zug ausbremsen wird."
„Dr. Wells, ich glaube nicht, dass ich schon so schnell bin."
Der Wissenschaftler lächelte.
„Doch Barry, das bist du. Ich möchte, dass du deinen Kopf für diesen Moment abschaltest und einfach rennst", befahl der Dunkelhaarige ruhig. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. "Fühle den Wind auf deiner Haut, den Boden unter deinen Füßen. Fühle die Geschwindigkeit, das Adrenalin, die Elektrizität. Spüre die Intensität und renne, Barry, renne immer weiter, halte nicht an."
Sam blickte zu Harrison neben sich, musterte seine eisblauen Augen, die voller Zuversicht leuchteten. Sie sah auf seine Lippen, die sich passend zu seinen Worten bewegten, war wie gebannt, fasziniert.
„Ich hab's!", riss Cisco die junge Frau aus ihrer Trance. Leicht zuckte sie zusammen.
„Los Barry", befahl Harrison mit stetiger Stimme und sah auf den Bildschirm. Sam musterte ihn noch einen Augenblick lang, ein Rotschimmer lag auf ihren Wangen. Danach blickte auch sie auf das Display und beobachtete, wie sich Barrys roter Punkt irrsinnig schnell hin und her bewegte, die ganze Zeit.
Barry spürte es. Spürte den Wind, der gegen sein Gesicht schlug, spürte den Boden unter seinen Füßen. Die Geschwindigkeit - er wurde immer schneller und schneller. Fühlte das Adrenalin, es rauschte durch seinen Körper, belebte jede Zelle seines Körpers. Die Elektrizität. Sie kribbelte, vom Scheitel bis zur Sohle hinterließ sie dieses unbeschreibliche Kribbeln. Es wurde zunehmend stärker, so als würde es ihn umhüllen, als würde es aus ihm herausbrechen wollen, doch schmerzte es nicht. Es beschützte ihn, vervollständigte ihn. Barry spürte die Intensität.
Gelbe Blitze zogen durch seine Augen, ließen seine blaugrünen Iriden hell leuchten, während sich allmählich eine majestätische Mauer vor ihm auftürmte. Eine Mauer aus Luft. Sie wurde immer größer, immer besser erkennbar. Der Zug raste auf den Speedster zu, doch verspürte er keine Angst, sondern nur Freiheit. Freiheit und Zuversicht. So rannte er weiter, hielt nicht an, obgleich ihn das Gefährt jeden Moment zu erfassen drohte.
Doch dazu kam es nicht.
„Oh Gott", murmelte Sam gespannt und biss die Zähne zusammen. Der Zug war so nahe, jeden Moment würde er Barry erfassen. Aus purem Reflex griff sie neben sich und hielt sich an Harrisons Arm fest. Dieser sah überrascht zu ihr und schmunzelte, ehe er seinen Blick wieder auf den Bildschirm vor sich richtete.
Unbemerkt hatte sich Bette zum Team dazu gesellt. Sie stand im Türrahmen des Cortex und beobachtete die Szene stillschweigend, die Arme vor der Brust verschränkt. Auch ihr Blick wanderte zum Bildschirm. Der blaue Punkt, der den Zug darstellen sollte, wurde plötzlich langsamer, bis er schließlich gänzlich zum Stehen kam.
„Hat er es", begann Sam leise, wartete jedoch.
„Ich hab's geschafft!", drang Barrys glückliche Stimme aus den Lautsprechern. Das Team atmete erleichtert auf.
„Oh Gott sei Dank", murmelte die Brünette und lehnte sich zurück, während sie den Griff ihrer Hand lockerte. Und da fiel es ihr auf. Erschrocken sah sie zu Harrison, dessen Unterarm sie unbemerkt gegriffen und gedrückt hatte und ließ hastig von ihm ab. „Das tut mir leid, Dr. Wells", entschuldigte sie sich sofort beim Dunkelhaarigen und lief rot an.
Lächelnd nahm er seine Brille ab und säuberte sie an seinem Pullover, während seine blauen Augen zu ihr sahen. Ohne Brille strahlten sie noch viel intensiver.
„Nicht doch, Samantha. Ich bin nun wirklich nicht zerbrechlich, ich halte so eine kleine Impulsreaktion schon aus", beschwichtigte er amüsiert.
Verlegen grinste die junge Frau und fuhr sich durchs braune Haar.
Bette beobachtete die Szene noch einen Moment, solange, bis Barry zurückkam und von allen gelobt und gefeiert wurde. Danach verließ sie den Cortex wieder mit leisen Schritten.
Es waren einige Stunden vergangen. Stunden, in denen wieder Ruhe im Gebäude eingekehrt war. Die Teammitglieder hatten sich zurückgezogen, so auch Bette, wobei die Rothaarige ohnehin lieber die Einsamkeit suchte. Sie saß im Aufenthaltsraum, dem einzigen Zimmer, in dem sie sich nicht wie in einem Labor fühlte. Das große Sofa an der Fensterfront war gemütlich. Bette lehnte sich gegen die Sofalehne und sah auf ihre Hände, die nach wie vor von den Handschuhen, die sie stets trug, bedeckt wurden. Sie hatte beobachtet, wie Sam den Wissenschaftler im Cortex berührt hatte.
Sie wäre nie in der Lage, einen Menschen zu berühren, nicht so. Nicht mehr. Nicht mit bloßen Händen.
Schritte ertönten. Bette, deren Gehör geschult war, sah auf und bemerkte Sam, die soeben den Aufenthaltsraum betrat.
„Ach, da bist du", sagte sie mit einem Lächeln und näherte sich der Soldatin. Diese setzte sich aufrecht hin.
„Was gibt's denn?", fragte die Rothaarige ruhig und musterte die Wissenschaftlerin. Sie nahm neben ihr Platz und faltete ihre Hände.
„Ich wollte unser Gespräch von vorhin nochmal aufnehmen", erklärte Sam. Ermüdet schnaubte Bette und warf ihrem Gegenüber anschließend einen skeptischen Blick zu.
„Du bist ganz schön hartnäckig, weißt du das?"
Die junge Wissenschaftlerin grinste.
„Danke. Also pass auf, ich habe mir Folgendes überlegt", fuhr sie ungeniert fort und beugte sich zur Soldatin vor. „Was wäre, wenn du unserem Team beitrittst und uns hilfst, solange, bis wir einen alternativen Weg gefunden haben, dir deine Kräfte zu entziehen?"
Bettes Augenbraue wanderte fast bis in ihren Haaransatz.
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist", murmelte sie und erhob sich vom Sofa. „Ich bin nicht in der Lage, Züge anzuhalten oder dergleichen."
Überrascht weiteten sich Sams Augen.
„Ach, das hast du gesehen?"
„Ja, zufällig", winkte die Rothaarige ab und lief zur Theke. Sie setzte sich auf einen der Hocker. Sam, unnachgiebig, folgte ihr und setzte sich neben sie.
„Hör mal, du musst keine Züge anhalten. Deine Stärken liegen woanders", redete sie auf die Rothaarige ein und lächelte aufbauend.
„Ach und worin? Sachen in die Luft sprengen? Ich weiß nun wirklich nicht, wie das jemandem helfen soll."
Sam verzog nachdenklich ihre Lippen, schüttelte jedoch daraufhin ihren Kopf, da sie sich nicht unterkriegen lassen wollte. Nicht mehr.
„Wir werden einen Weg finden, wie du deine Kräfte für Gutes verwenden kannst, Bette. Zuerst jedoch musst du lernen, sie zu kontrollieren", erklärte sie und zog ein schwarzes Notizbuch aus ihrer Tasche. Bette beäugte es schnaubend.
„Das trägst du immer mit dir herum, oder?"
„Nur manchmal", entgegnete Sam mit einem neckischen Grinsen und schlug ihr Büchlein auf. „Ich hatte da jedenfalls einen Gedanken. Ist es dir schon mal passiert, dass Dinge nicht in die Luft geflogen sind, obwohl du sie mit bloßen Händen berührt hast?", hakte die junge Frau interessiert nach und musterte die waldgrünen Augen ihres Gegenübers.
Bette überlegte und dachte daran zurück, wie sie die Akte aus dem Schrank genommen hatte.
„Ja, manchmal."
„Und wann ist es wiederum besonders brenzlig?", fragte Sam weiter.
„Wenn ich aufgewühlt bin", kam es zurück.
Enthusiastisch schnippte die Wissenschaftlerin mit den Fingern. Das war die Erkenntnis, nach der sie gesucht hatte. Bette zog ihre Augenbrauen zusammen. Noch immer blickte sie Sams Enthusiasmus mit gewisser Skepsis entgegen.
„Deine Fähigkeit", sagte die junge Frau und lächelte, „sie ist mit deinen Gefühlen verbunden." Sam rutschte von ihrem Stuhl und lief zwei Schritte nach rechtes. Sie streckte demonstrativ ihre Hände nach vorn. „Wenn du aufgewühlt bist oder verängstigt, dann werden sie ausgelöst. Wenn du aber hingegen ruhig bleibst, dann glaube ich, dass du gefahrenlos etwas oder jemanden berühren kannst."
Bette drehte sich auf dem Hocker herum, um Sam beobachten zu können. Sie schwieg nach wie vor, reden war auch gar nicht nötig, denn plapperte die Brünette soeben weiter.
„Wir hatten mal so einen ähnlichen Fall. Larry Jordan, ein Meta-Wesen, das elektromagnetische Wellen kontrollieren kann, hat sich durchs ganze Telefonnetz gebeamt, ohne es zu wollen. Weil er verängstigt war, haben seine Fähigkeiten verrückt gespielt", offenbarte Sam mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen.
Zögerlich erhob sich Bette von ihrem Hocker und lief auf die junge Frau zu.
„Meinst du?", hakte sie nach und musterte das Gesicht Sams, betrachtete ihre Sommersprossen sowie ihre braunen Augen. Sie wirkte zuversichtlich.
„Ja, ich bin mir sicher, Bette. Daran muss es liegen."
Sam streckte ihr ihre Hand entgegen.
„Komm, testen wir es."
Bette verzog ihr Gesicht.
„Bitte was?"
„Na meine Theorie. Ich bin mir sicher, also los, zieh deinen Handschuh aus und berühre mich", schlug sie vor.
Die Brünette hatte es satt herumzusitzen und nichts zu tun. Sie hatte es satt zu versagen. Es war an der Zeit, dass sie wieder zu rennen begann, nach vorn, anstatt auf der Stelle zu verharren. Dr. Wells hatte recht gehabt, sie musste es wagen, den Sprung.
„Sam, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist", tat Bette ihre Bedenken kund, jedoch schüttelte die Wissenschaftlerin nur ihren Kopf.
„Doch, ist es. Du brauchst mal ein Erfolgserlebnis und ich auch, also los."
Bette zögerte.
„Komm schon, Sergeant, oder kneifst du etwa?", reizte sie die Rothaarige mit einem Grinsen.
Die Meta-Frau schnaubte leise, ehe sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen stahl. Danach zog sie sich langsam den Handschuh aus.
Sam hatte es beobachtet. Hatte beobachtet, wie Harrisons Zuversicht und Vertrauen Barry dazu bewegt hatten, über sich hinauszuwachsen und seine Zweifel zu bekämpfen. Wie seine selbstsicheren Worte dazu geführt hatten, dass der Speedster seinem Rat gefolgt und seine Fähigkeiten beherrscht hatte. Und Sam wusste, sie konnte es auch, so wie er es stets bei seinem Team tat konnte auch sie Bette helfen, ihr den richtigen Weg zeigen. Sie unterstützen.
„Und du bist dir sicher?", fragte Bette nach und beäugte die junge Wissenschaftlerin skeptisch. Sam schenkte ihr ein warmes Lächeln.
„Ja. Vertrau mir, vertrau dir selbst, Bette. Kontrolliere deine Angst, beherrsche deine Fähigkeiten und mir wird nichts passieren", sagte sie und hielt ihr ihren Arm entgegen.
Die Rothaarige musterte Sams Gesicht und blickte schließlich auf ihren Arm. Langsam näherte sich ihre Hand an. Die Soldatin ging in sich, versuchte sich zu beruhigen und ihre Angst vor sich selbst zu bekämpfen, so wie es ihr die Jüngere gesagt hatte.
Ihre Finger berührten den Stoff von Sams gestreiftem Pulli.
Sie sah zu ihr auf, ein braunes Augenpaar sah ihr entgegen. Die Brünette hatte keine Angst. Sie strahlte Ruhe aus. Und Zuversicht.
Langsam umschlossen die Finger der Soldatin Sams Handgelenk.
„Es funktioniert", wisperte sie. Normalerweise spürte sie nun schon etwas. Spürte, wie die Oberfläche, die sie berührte, explodieren würde, sobald sie sie losließ. Spürte die Energie durch ihre Finger fließen. Diesmal blieb das explosive Gefühl jedoch aus. Es fühlte sich ganz normal an, Sam zu berühren.
Die junge Wissenschaftlerin lächelte so breit, dass ihre Grübchen zum Vorschein kamen.
„Siehst du?", sagte sie freudig und umfasste Bettes Unterarm. „Fühlt sich gut an, oder nicht?"
Nun kam auch Bette nicht umhin als zu lächeln. Das erste, echte Lächeln seit Tagen.
„Samantha!", ertönte plötzlich Harrisons alarmierte Stimme neben ihnen. Der Wissenschaftler kam soeben in den Aufenthaltsraum gefahren, seine Augen geweitet, während er die beiden Frauen musterte. „Was soll das? Geh weg von ihr!", befahl er laut.
Sam drehte ihren Kopf zu ihm, wollte ihm versichern, dass alles in Ordnung war, dass von Bette keine Gefahr ausging.
Bette jedoch war erschrocken zusammengezuckt und stolperte einen Schritt zurück. Ihre Hand glitt vom Pullover der Brünetten. Der Stoff verfärbte sich Lila.
„Samantha!", wetterte Harrison und beugte sich in seinem Rollstuhl vor, während die Studentin perplex auf ihren Arm starrte.
Es war wie auf dem Flugplatz.
Drei.
Zwei.
Eins.
Ein ohrenbetäubender Knall ertönte.
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