Kapitel 23 - Kopfmenschen
Barry sah das Hochhaus hinauf und biss die Zähne zusammen. Schreie ertönten. Die Passanten in seiner Nähe deuteten auf einen Mann, einen Fensterputzer, der am Stahlgerüst hing und sich festzuhalten versuchte.
„Da stürzt gleich jemand ab!", sagte er an sein Team gewandt. Seine Gedanken rasten, ebenso wie sein Herz.
„Dann lauf die Hauswand hinauf und rette ihn, Barry. Du hast es doch schon einmal getan, vor einigen Wochen", drang Sams Stimme aus seinen Kopfhörern.
Der Braunhaarige sah unruhig zum Mann hinauf, der jede Sekunde abzustürzen drohte. Er haderte.
„Ja, aber das war anders. Da bin ich einfach losgerannt, mein Kopf war frei nach dem Stromschlag, der mich aus der Gedankenkontrolle geweckt hat. Ich war viel schneller", erwiderte er.
Seitdem hatte der Speedster versucht die Geschwindigkeit, die sein Anzug zu diesem Zeitpunkt aufgezeichnet hatte, erneut zu erreichen. Er hatte trainiert, jeden Tag, doch war er nie wieder so schnell gewesen wie damals. Er wusste, es lag an seinem Kopf. Er dachte zu viel, doch so war er einfach. Barry konnte es nicht abstellen.
„Barry", sagte Harrison. Ruhe lag in seiner Stimme, Ruhe und Gewissheit. „Du bist schnell genug, du schaffst das. Lauf einfach los", befahl sein Mentor.
Barry trat von einem Bein auf das andere und atmete tief ein und aus.
Als ein lauter Schrei ertönte und als die Stahlkonstruktion am Gebäude abstürzte, rannte der Speedster schließlich los. Mehr ein Reflex als eine bewusste Handlung, doch spielte es keine Rolle.
Er spürte den Betonboden unter seinen Füßen, der ihm so etwas wie Sicherheit gab. Mit dem Gebäude verhielt es sich jedoch anders. Ähnlich wie die Bank damals bestand es größtenteils aus Glas. Würde es brechen, wenn er nicht aufpasste?
Die Hauswand kam näher. Er durfte nicht abbremsen. Der Braunhaarige versuchte, sich an das Gefühl vor einigen Wochen zu erinnern. Er schloss kurz die Augen und sprintete die Hausfassade hinauf. Der Untergrund unter seinen Füßen war glatt. Er hatte Sorge wegzurutschen, doch je höher er rannte, umso sicherer wurde er. Als er den Mann erreichte, umfasste er ihn und drehte um. Das Seil der Konstruktion war gerissen und hing wie bei einem Ladefehler in einem Videospiel in der Luft.
Barry kehrte um.
Nun folgte der schwere Part: Der Lauf nach unten.
Der Boden kam immer näher. Sein Herz raste, pures Adrenalin schoss durch seinen Körper. Barry beschleunigte seine Schritte ein letztes Mal und verzog konzentriert sein Gesicht. Er erreichte den Boden und setzte den Fensterputzer ab.
Dieser sackte erschrocken auf die Knie und fasste sich an die Brust, während der Speedster auch schon wieder los flitzte, in das Gebäude hinein, um sicherzugehen, dass sich niemand mehr darin befand. Aus der Ferne ertönten bereits die Sirenen der Kranken- und Polizeiwagen.
„Gute Arbeit, Barry", sprach Harrison mit einem zufriedenen Lächeln ins Mikrophon und lehnte sich zurück. Unauffällig sah Sam zu ihm, nun, vermutlich nicht so unauffällig wie geplant, denn bemerkte der Dunkelhaarige ihren Blick und drehte seinen Kopf zu ihr. Hastig sah die junge Frau wieder nach vorn und starrte auf den Bildschirm. Es war eine heikle Situation gewesen, ein Mann hatte in Lebensgefahr geschwebt und Barry ihn gerettet und doch hatte Sam nur daran denken können, wie es sich angefühlt hatte an Harrison gelehnt zu schlafen, mit ihrem Kopf auf seiner Schulter. Genau genommen erinnerte sich Sam nur ans Aufwachen, doch allein diese Erinnerung reichte ihr. Diese Erinnerung und sein Duft, den sie dieses Mal nicht wieder vergessen würde.
Im nächsten Moment tauchte auch schon Barry vor ihnen auf und zog sich die Maske vom Kopf.
„Wie war ich?", fragte er aufgeregt. Das Adrenalin, das beim Hinaufrennen des Hochhauses durch seinen Körper geflossen war, belebte ihn auch jetzt noch.
„Grandios", kam es von Cisco zurück, der seinem Freund Daumen hoch zeigte.
Sam prustete leise, doch schien dies nicht die Antwort zu sein, nach der der Speedster gesucht hatte.
„Nein, ich meinte, wie schnell? Schneller als sonst?", fragte er nun an Harrison gewandt, der kurz den Monitor überprüfte, woraufhin er wieder zu seinem Schützling sah.
„Geringfügig, aber ja, schneller", antwortete er ehrlich.
Barry nickte, schien jedoch nicht vollkommen zufrieden. Sam fragte sich, wieso er so besessen davon war, schneller zu werden, immer schneller. Reichte es ihm denn nicht, Leben zu retten? Sie starrte auf das Blitzsymbol auf Barrys Brust. Genau genommen erging es ihr ja ähnlich. Auch sie wollte schneller sein, besser, wollte vorankommen, wenn auch metaphorisch gesprochen und nicht wortwörtlich, so wie es beim Speedster der Fall war.
„Lassen wir nun das CCPD den Rest erledigen", schlug Harrison vor.
Das Team nickte.
Sofern es sich nicht um ein Meta-Wesen handelte, war ihre Arbeit getan. Sie halfen, wenn es brenzlig wurde, doch war Star Labs hauptsächlich ein Forschungslabor und kein Polizeirevier. Die Ermittlungen würden sie den Gesetzeshütern überlassen, was Sam nur recht war, denn so konnte sie sich auf die Wissenschaft konzentrieren.
„Joe wird mich vermutlich in einigen Stunden zum Tatort zitieren", erklärte Barry, der nun wieder in seiner Alltagskleidung vor dem Team stand. Dieses Mal hatte Sam tatsächlich nicht mitbekommen, wann er sich umgezogen hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie immer wieder zu Harrison sah und dadurch abgelenkt war.
„So ein Doppelleben ist nicht leicht, was?", fragte Cisco mit seinem kindlichen Grinsen und lehnte sich entspannt in seinen Stuhl zurück.
Sam konnte die Frage nur mit ‚Ja' beantworten, auch wenn sie nicht an sie gerichtet worden war. So gesehen führte auch sie ein Doppelleben.
„Samantha", ertönte Harrisons Stimme neben ihr.
Die junge Frau sah fragend zu ihrem Mentor. Noch immer war sie schweigsam und wirkte abgelenkt. Es entging dem Wissenschaftler nicht. Stets hatte er alles im Blick, hatte auf jeden ein Auge.
„Du solltest für heute nach Hause fahren", befahl er ihr.
Sams Augen weiteten sich.
„Was? Nein, das geht nicht, ich habe heute noch gar nichts geschafft", sagte sie. Cisco, Caitlin und Barry sahen fragend zu ihr. Die Brünette hatte gar nicht bemerkt, wie sie ihre Stimme erhoben hatte.
„Nun, genau genommen kannst du zur Zeit auch nichts tun, damit die Zellkulturen schneller reifen, oder nicht?", fragte der Dunkelhaarige und warf Caitlin einen Blick zu.
Die junge Ärztin sah zu ihrem Mentor und anschließend zu Sam, die aufgewühlt schien. Sie wusste seinen Blick zu deuten.
„Das ist richtig. Sie haben das Retrovirus angenommen, das sie pluripotent werden lässt, Sam. Nun müssen sich die iPS-Zellen kultivieren. Die neue Ladung Fütterzellen kann ich ihnen zuführen, das ist keine Arbeit für Zwei", beruhigte sie ihre Arbeitspartnerin.
Die Wissenschaftlerin sah zu Caitlin.
„Aber wir müssen uns noch ausdenken, wie wir das Serum synthetisieren und vor allem, wie wir es für Mrs. Anderson kompatibel machen", sagte sie.
„Und das werden wir. Aber heute nicht mehr. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen und all unsere Konzentration", antwortete Caitlin ruhig.
Nachdenklich sah Sam zu Boden. Ihr ging fortwährend zu viel im Kopf herum, jetzt sogar mehr als zuvor. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn sie nach Hause fuhr und sich dort ein paar Gedanken machte. Dann könnte sie morgen wieder voll konzentriert mit ihrer Arbeit fortfahren.
„Okay", sagte sie und erhob sich zögerlich. „Ihr habt recht, heute können wir nichts Großes mehr bewirken", stimmte sie ihrem Team zu. Auch, wenn Sam es sich anders wünschte, doch wissenschaftlichen Fortschritt konnte man nicht erzwingen, das hatte Harrison ihr bereits mehr als einmal gesagt.
„Samantha."
Die Brünette sah zu ihrem Mentor.
„Denk an meine Worte. Und versuche bitte noch etwas zu schlafen", bat er sie lächelnd.
Sam musterte den Wissenschaftler schüchtern und senkte ihren Blick. Unweigerlich schweiften ihre Gedanken zurück zum Moment des Aufwachens vor einigen Minuten.
„Okay." Die junge Frau lächelte zaghaft. „Und tut mir nochmal leid, wegen vorhin", wisperte sie nach wie vor peinlich berührt.
Harrisons Mundwinkel zuckten.
„Das ist nun wirklich nichts, wofür du dich entschuldigen musst", erwiderte er und lächelte.
„Dr. Wells?", fragte Sam und sah in die eisblauen Augen ihres Gegenübers. Der Wissenschaftler signalisierte seine Aufmerksamkeit anhand eines teilnahmsvollen Blickes.
„Danke."
Tiefe Aufrichtigkeit schwang in ihrer Stimme mit. Sie war ihm dankbar, mehr als das. Er war für sie da gewesen, als sie gestrauchelt hatte, immer war er da, gerade zur rechten Zeit und fing sie auf.
„Nicht dafür", erwiderte der Wissenschaftler, so wie er es immer tat, wenn sie ihren Dank an ihn richtete.
Sam schenkte ihm ein sanftes Lächeln und verabschiedete sich schließlich von ihrem Team, das die Szene zwischen Harrison und ihr stillschweigend beobachtet hatte. Danach machte sie sich auf den Weg nach Hause. Eine Sache gab es noch, die sie heute erledigen musste.
Schwer atmend lehnte die Soldatin an der Fassade eines Hochhauses. Die Seitenstraße, in die sie sich geflüchtet hatte, war nur spärlich beleuchtet, dennoch war der Name auf der Akte, die sie entwendet hatte, lesbar. Es war ihr eigener Name; Bette Sans Souci. Ihre Akte war es, die sie sich beschafft hatte, nur leider nicht so geräuschlos, wie gehofft.
Bette kniff ihre Augen zusammen und ließ die Akte in ihrer Jacke verschwinden. Sie hoffte, dass es dem Wachmann gut ging, dass er die Explosion überlebt hatte. Sie hatte ihn nicht verletzen wollen.
Die Rothaarige hob ihre Hände und starrte auf ihre Handflächen. Noch immer ertönte das ungleichmäßige Geräusch ihrer schnellen Atmung.
Es hatte einst eine Zeit gegeben, da hatten diese Hände nur Gutes bewirkt. Sie hatten verhindert, dass Bomben explodierten, hatten Menschenleben gerettet. Nun waren diese Hände selbst die Bombe. Alles, was sie berührten, flog in die Luft.
Bette zuckte zusammen, als Polizeisirenen ertönten. Ganz in ihrer Nähe. Mehrere Polizeiwagen fuhren in hoher Geschwindigkeit an ihr vorbei. Die Soldatin schnellte reflexartig los und stieß dabei versehentlich gegen einen Müllcontainer. Sie stützte sich mit den Händen daran ab, riss die Augen auf und gewann Abstand zwischen sich und dem Blechbehältnis.
Bette verharrte, ihre Hände erhoben.
Sie betete, dass er nicht explodierte und somit die Polizisten, die noch ganz in ihrer Nähe waren, höchstwahrscheinlich auf den Weg zum Gebäude, das sie gesprengt hatte, auf sich aufmerksam machte. Ihr Herz raste ohrenbetäubend in ihrer Brust.
Nichts passierte.
Der Müllcontainer blieb unversehrt.
Mit einem tiefen Seufzen schloss Bette ihre Augen, ließ ihre Hände sinken und ballte sie zur Faust.
Träge schloss Sam ihre Zimmertür. Ihre Hand verweilte auf der Türklinke, während sie ins Leere starrte. Es war richtig gewesen, nach Hause zu fahren. Heute hätte sie wirklich nichts mehr leisten können. Den ganzen Tag schon war sie nicht richtig konzentriert gewesen.
Die Brünette ließ von der Tür ab und lief zu ihrem Fenstersims, auf dem sich noch immer ihr Bettzeug befand. Sie nahm Platz und hüllte sich in ihre Decke ein. Vorsichtig lehnte sich die Wissenschaftlerin gegen den Fensterrahmen und zog schließlich ihr Handy aus ihrer Hosentasche.
Das Display leuchtete der Brünetten entgegen, als sie es entsperrte. Sam hatte vermieden, das Licht in ihrem Zimmer anzuschalten. Die Straßenlaternen auf der Straße direkt vor ihrer Wohnung spendeten ausreichend Licht. Zudem konnte sie so den Sternenhimmel, der Central City überzog, besser betrachten und was am wichtigsten war: So sah sie Star Labs leuchten. Nicht so wie früher, dennoch wurde es leicht beschienen. Irgendwann würde es wieder so erstrahlen wie damals. So hell, dass man es von überall aus sehen konnte.
Sam öffnete einen Kontakt in ihrem Handy und tippte auf das Anrufsymbol. Sie hielt sich ihr Smartphone ans Ohr und wartete ein paar Sekunden. Schließlich nahm jemand ab.
„Sammy?", ertönte eine sanfte Stimme. Es war Riley.
Ein trauriges Lächeln stahl sich auf die Lippen der jungen Wissenschaftlerin.
„Hey, Riles", grüßte sie ihre Freundin leise.
„Geht es dir wieder besser? ", fragte die Blondine, sodass sich Sams Griff um ihr Handy leicht verkrampfte.
Ihr Herz zwickte.
Rileys Mutter lag im Krankenhaus, ihr Zustand wurde zunehmend schlechter und dennoch wollte sie wissen, wie es ihr ging. Und dabei meinte es die Studentin auch noch ehrlich. Wenn sie nach ihrem Befinden fragte, dann war es keine allgemeine Floskel der Höflichkeit, nein, sie fragte aus Interesse.
„Es geht mir wieder besser", antwortete Sam.
Und das war die Wahrheit. Harrisons Worte hatten ihr geholfen, hatten sie beruhigt. Auch das kurze Schläfchen auf seiner Schulter hatte gut getan, obwohl Sam bei dem bloßen Gedanken daran stark erröten musste.
„Das ist gut, dann bist du morgen wieder in der Uni?", fragte sie, woraufhin Sam nickte. Kurz darauf fiel ihr ein, dass Riley sie ja gar nicht sehen konnte.
„Ja, bin ich", fügte die Wissenschaftlerin daher rasch hinzu.
„Das freut mich", erwiderte die Blondine.
Sam umfasste ihr Smartphone etwas fester und presste ihre Lippen zusammen.
„Riley?", fragte sie zögerlich.
„Ja, Sammy?", kam es liebevoll zurück.
„Fühlst du dich von mir im Stich gelassen?"
Sie hatte fragen müssen. Trotz der aufbauenden Worte ihres Mentors war dies die eine Frage, auf die sie eine Antwort benötigte und die konnte sie nur von ihrer Freundin selbst bekommen.
„Was? Wer behauptet denn sowas?", kam es verdutzt zurück.
Sam wollte Josh nicht anschwärzen. Zwar war sie noch immer unendlich wütend auf den Schwarzhaarigen und bitter enttäuscht, doch konnte sie seine Beweggründe nach wie vor verstehen. Zudem wollte sie Riley ganz sicher nicht in die Sache mit hineinziehen.
„Ich frage nur, weil, naja, weil ich weiß, dass ich nicht so oft bei dir bin wie ich sollte und ich will nicht, dass du denkst, dass ich das absichtlich tue. Ich bin für dich da, Riley. Immer. Das weißt du, oder?", fragte Sam und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
„Natürlich weiß ich das, Sammy", antwortete Riley ohne zu zögern.
Ein trauriges Lächeln stahl sich auf die Lippen der Brünetten, während eine einzelne Träne über ihre Wange lief.
„Mach dir keine Sorgen um mich, okay? Ich weiß, dass du da bist", fügte ihre Freundin hinzu.
Sam rieb sich über ihre Wange.
„Nein, ich müsste viel öfter bei dir sein und das weiß ich auch", sagte sie leise. „Aber sobald die Zeit gekommen ist, kann ich dir alles erklären, dann wirst du alles verstehen. Nur jetzt gerade kann ich dir noch nicht sagen, wo ich die ganze Zeit immer bin, aber du musst mir vertrauen, ich bin für dich da, in Ordnung? Im Herzen bin ich immer bei dir und auch in Gedanken."
„Sammy", kam es leise zurück. „Mach dir keine Sorgen, das weiß ich doch alles. Du musst mir nichts erklären."
„Doch, muss ich", widersprach sie. „Und das werde ich. Bald. Versprochen", wiederholte die junge Wissenschaftlerin und sah aus ihrem Fenster zu Star Labs.
Harrison hatte ihr die Erlaubnis erteilt, Riley alles zu sagen, doch wollte sich Sam damit zurückhalten, bis sie tatsächlich das Heilmittel gemeinsam mit Caitlin entwickelt hatte. Erst dann durfte sie es erfahren, erst, wenn sie siegreich war.
„Wir stehen das zusammen durch, Riles. Du musst nur noch ein wenig länger durchhalten", bat die Brünette mit belegter Stimme.
Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Sam glaubte ein leises Schluchzen zu hören, sodass sie mitleidig ihr Gesicht verzog.
„Das werde ich", versprach Riley schließlich nach einigen Momenten, die sie wohl benötigt hatte, um sich wieder zu fassen.
Noch immer haftete Sams Blick an Star Labs.
„Alles wird wieder gut", wisperte die junge Frau erneut und lehnte ihre Stirn an die kühle Scheibe ihres Fensters. „Du kannst mit mir reden, wenn du möchtest. Mir erzählen, was in deinem Kopf vorgeht oder wir können auch einfach so quatschen, wenn du willst", schlug sie vor.
„Einfach so quatschen wäre schön", antwortete Riley zaghaft.
Sam lächelte warmherzig und überlegte kurz, worüber sie mit ihrer Freundin reden könnte. Als allererstes kam ihr das Ereignis mir Dr. Wells in den Sinn, doch durfte sie Riley nichts darüber erzählen, denn müsste sie in dem Fall auch alles Andere erklären. So redete Sam stattdessen über die bevorstehende Führung durch Mercury Labs, auf die Riley sich so freute und die ihr selbst noch immer Bauchschmerzen bereitete. Dennoch half es der Blonden und solange sie für den Moment glücklich war, war Sam es auch.
Es war bereits spät, als Sam ihr Handy beiseitelegte und sich kurz ausgiebig streckte. Nur noch wenige Autos fuhren auf der Hauptstraße neben ihrer Wohnung, sodass es ungewohnt ruhig war. Mit schweren Gliedern erhob sich die junge Frau von ihrem Fenstersims und nahm Decke und Kissen an sich, um sie zurück ins Bett zu tragen. Unbeholfen schmiss Sam ihr Bettzeug auf die Matratze und krabbelte schließlich in ihr Bett. Nachdem sie sich in ihre Decke gemurmelt hatte, legte sie sich auf den Rücken und starrte auf das Poster an ihrer Zimmerdecke. Je mehr sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, desto deutlicher konnte sie Harrisons Gesicht erkennen sowie sein erhabenes Lächeln. Obwohl sie mit Riley telefoniert und sie sich ausgesprochen hatten, war sie aufgewühlt. Nicht mehr so wie gestern Abend, doch schlug ihr Herz nach wie vor schmerzhaft in ihrer Brust. In Harrisons Nähe jedoch, da war es anders. Da raste es nicht vor Kummer, sondern vor Nervosität, positiver Nervosität, sofern das irgendeinen Sinn ergab. Und als sie neben ihm gesessen und den Film geschaut hatte - wenn auch nur zur Hälfte - da hatte es sich ganz beruhigt. Deshalb war sie auch neben ihm eingeschlafen. Nicht etwa, weil sie so unendlich müde gewesen war oder weil der Film sie gelangweilt hatte, sondern weil sie plötzlich tiefe Ruhe empfunden hatte. Sam drehte sich auf die Seite und kuschelte ihr Kissen an ihre Brust. Sie starrte ins Leere und versuchte sich an das Gefühl zu erinnern, auf seiner Schulter zu schlafen. An die Ruhe, die Harrison immer ausstrahlte und die Zuversicht. Wenn sie sich dieses Gefühl ins Gedächtnis rufen könnte, dann würde sie vielleicht besser einschlafen können. Und so schloss Sam ihre Augen und dachte daran zurück, während sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen stahl.
Barry stand inmitten eines zerstörten Flures. Die Wände und der Boden waren schwarz eingefärbt. Es sah aus, als hätte jemand einen riesigen Pinsel in ein Tintenfass getunkt und sich damit ausgetobt. Allerlei Forensiker sowie forensische Assistenten tummelten sich auf der Etage, in der gestern Nacht eine Bombe gezündet wurde. Zwischen ihnen ein paar Polizisten, darunter auch Joe und Amber.
Die aufgehende Sonne blendete den Braunhaarigen, sodass er sein Gesicht mit seiner Hand abschirmte, während er sich hinunter beugte und die vermeintliche Stelle, an der die Bombe seiner Einschätzung nach hochgegangen war, untersuchte.
Der West Vater kam zu ihm gelaufen.
„Und? Konntest du schon was finden?", fragte er seinen Adoptivsohn mit gesenkter Stimme.
Barry zog sich seine Gummihandschuhe, die er stets bei seinen Ermittlungen trug, aus und schüttelte nachdenklich den Kopf. Etwas behagte ihm nicht.
„Nein, konnte ich nicht und das ist das, was mich wundert", sagte er. Fragend hob Joe eine Augenbraue. „Ich konnte absolut keine Reste finden. Bomben und Sprengsätze hinterlassen in jedem Fall Spuren von Chemikalien oder Rückstände ihres Materials, aber hier ist nichts dergleichen zu finden", erklärte er. „Es kommt mir so vor, als wäre der Laden hier einfach so in die Luft geflogen."
Joe kräuselte die Stirn.
„Das ist in der Tat seltsam", stimmte er dem Forensiker zu.
Amber kam auf die beiden Männer zugeschritten und deutete hinter sich.
„Da vorn ist ein Aktenraum, dessen Schloss wohl aufgesprengt wurde. Vermutlich war der Täter deshalb hier", trug sie die Worte Eddies an ihren Vorgesetzten weiter. Joe nickte ernst und wies Barry anhand eines Blickes an, ihm zu folgen.
Als die Drei den Raum erreichten, wartete der blonde Polizist, Iris' frischgebackener Freund, auf sie. Barry zwang sich zu einem Lächeln, wirklich ernst meinte er es jedoch nicht.
„Wir gehen davon aus, dass eine dieser Akten entwendet wurde", erklärte Eddie und deutete auf die dutzenden Aktenschränke. „Nur wird es vermutlich ewig dauern, die zu durchsuchen um herauszufinden, welche Akte genau entwendet wurde."
Nicht, wenn man der schnellste Mann der Welt war, dachte sich Barry. Joe, der einen kurzen Blick über seine Schulter zu ihm warf, schien genau dasselbe zu denken.
„Dann sollten wir sofort anfangen, die Schränke zu durchsuchen", sagte derweil Amber, ehrgeizig wie eh und je und begann sich ihre Gummihandschuhe überzuziehen. Ihr Vorgesetzter hielt sie mit einer kurzen Handgeste auf.
„Mason", sagte er. Die Blondine hielt inne. „Fahr doch bitte schon einmal mit Eddie aufs Revier zurück, unseren Zeugen verhören. Ein Wachmann, der den Angreifer identifizieren kann, das ist im Moment am wichtigsten", wies er seine Untergebene an.
Amber zog ihre Handschuhe wieder aus. Sie schien zu überlegen, abzuwägen, welche Aufgabe die bessere war. Sie kam zu dem Schluss, dass das Zeugenverhör wesentlich spannender war als das stundenlange Durchsuchen von Aktenschränken und lächelte daher voller Tatendrang.
„Wird gemacht, Chief", erwiderte sie und sah zu Eddie. Anschließend machten sich die beiden auf den Weg.
Joe überprüfte, ob Barry und er nun allein im Raum waren, schloss die Tür und nickte seinem Schützling zu.
Barry verstand. Er raste durchs Zimmer und begann die Aktenschränke zu durchsuchen, einen nach dem anderen.
Beim fünften wurde er schließlich fündig. Ein leerer Ordner mitsamt Aktennummer am oberen Rand, jedoch, anders als bei den anderen, keine Akte darin.
„Hier, hab's gefunden", murmelte Barry und nahm die Hülle heraus. „Da drin war die fehlende Akte."
An diesem Morgen betrat Sam das Fakultätsgebäude für Naturwissenschaften so tief in Gedanken, dass sie einen ihrer Kommilitonen anrempelte, den sie glatt übersehen hatte.
„Scheiße, tut mir total Leid", entschuldigte sie sich sofort. Ihr Gegenüber winkte lässig ab und so ging Sam wieder ihres Weges.
Die Brünette haderte innerlich. Sie grübelte darüber, ob sie Josh einweihen und ihren Streit somit beiseitelegen sollte. Die Erlaubnis von Dr. Wells hatte sie. Er hatte ihr erlaubt, ihre Freunde einzuweihen. Josh würde sie endlich verstehen, würde verstehen, wieso sie immer weg war. Es würde ihr Leben um einiges erleichtern.
Rasch sah Sam auf, als sie jemanden vor sich bemerkte. Sie wollte sicher nicht noch jemanden auf dem Flur um walzen.
Zwei dunkelbraune Augen musterten sie.
„Morgen", grüßte sie Josh, ihre Stimme klang kühler, als eigentlich beabsichtigt.
„Hi", kam es einsilbig zurück.
Da waren sie wieder, die Vorwürfe. Sie schwangen in seinem Blick mit, in seiner Stimme, ja selbst in dem einzelnen Wort, das er zur Begrüßung an sie gerichtet hatte.
„Hattest gestern wohl wieder einen Notfall, was?", fragte er nun sarkastisch und umfasste die Gurte seines Rucksacks.
Sam öffnete ihre Lippen, fest vorhabend, Josh nun endlich aufzuklären. Ihn einzuweihen in ihr Geheimnis. Ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie unter Harrison Wells' Leitung an einem Mittel forschte, um Shannon Anderson zu helfen.
Plötzlich jedoch meldete sich ihr Kopf zu Wort.
„Ich glaube, in Wahrheit geht es dir immer nur um dich und deine Karriere. Seitdem Star Labs in die Luft geflogen ist, bist du unausstehlich. Was anderes als dieses beschissene Labor interessiert dich doch nicht, oh, außer vielleicht Harrison Wells, aber der hat's ja mal ordentlich verkackt."
Sam hielt inne und musterte Josh.
Was würde er denken, wenn sie ihm von Dr. Wells erzählte sowie davon, dass sie in den letzten Wochen so beschäftigt gewesen war, weil sie in Star Labs ausgeholfen hatte? Was würde er sagen?
„Würde er dich um Hilfe bitten, dann würdest du sofort springen. Du kennst diesen Mann nicht einmal und doch stehst du immer hinter ihm, mit allem, was du hast, so, wie es eigentlich Riley verdient hätte."
Die Brünette sah an ihrem Freund vorbei und schnaubte leise. Ihre Hand umfasste den Gurt ihrer braunen Umhängetasche.
Selbst wenn sie ihm alles erklärte, verstehen würde er es dennoch nicht. Es wäre sinnlos.
„Denk doch, was du willst, aber du hast keine Ahnung, Joshua", sagte sie mit gesenkter Stimme, anstatt ihn aufzuklären. Kurz warf sie ihm einen wütenden Blick zu und lief dann an ihm vorbei. Dr. Wells hatte recht. Er war nicht dazu befugt, sie als egoistisch zu bezeichnen. Sie tat, was sie konnte, für Riley. Und sie würde nicht damit aufhören, alles zu versuchen, um ihrer Freundin zu helfen.
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