Kapitel 22 - Zweifel
Die Sonne ging auf und tauchte Central City in ein goldenes Licht. Sams Bett war leer. Die Brünette hatte es die ganze Nacht über gemieden und stattdessen auf ihrem Fenstersims gesessen, mit Decke und Kissen ausgestattet. Von hier aus konnte sie Star Labs sehen; er hatte ihr schon immer ganz besonders gut an ihrer Wohnung gefallen - der Ausblick. Träge blinzelte Sam, als ihr die aufsteigende Sonne ins Gesicht schien. Sie wusste nicht, ob sie geschlafen hatte. Gut möglich, dass sie immer mal wieder eingedöst war, ohne es wirklich zu bemerken. Der Streit mit Josh nagte an ihr, nein, er zerfraß sie regelrecht. Die ganze Nacht hatte sie an nichts Anderes denken können, als an seine Worte. Stimmte es? War sie wirklich nicht so für Riley da, wie sie sein sollte? Fühlte sich die Blondine von ihr im Stich gelassen? Erneut stiegen der jungen Wissenschaftlerin Tränen in die Augen. Nein, das, was sie tat, das war bedeutender. Sie forschte an einem Weg ihrer Freundin zu helfen, ihr wirklich, wahrhaftig zu helfen. Sobald es Mrs. Anderson dank Star Labs wieder besserging, würde sich auch der Rest regeln. Alles wäre wieder gut.
„Morgen, Sammy!", hörte sie Amber aus dem Flur rufen. Es polterte, offensichtlich rannte Amber soeben den Flur entlang. „Ich bin spät dran, muss los, fühl dich gedrückt!", ließ sie sie wissen, ehe auch schon die Wohnungstür zugeschlagen wurde.Sam war froh, denn hätte die Blondine ihr Zimmer betreten und gefragt, wieso sie so traurig aussah, so hätte sie vielleicht angefangen zu weinen und sie hasste es, vor Anderen zu weinen. Ihr Blick wanderte zu ihrem Nachtschrank, auf dem ihr Wecker stand. Er zeigte acht Uhr an. Es war längst Zeit, dass sie sich für die Uni fertig machte, doch würde sie dort Josh begegnen und dafür war sie nicht bereit, wenn sie ehrlich war. Sie wollte ihn heute nicht sehen, nicht nach dem, was er gestern zu ihr und was sie wiederum zu ihm gesagt hatte. Ihr Herz schmerzte. Sam fühlte sich machtlos und nutzlos. Der Streit mit ihrem Freund hatte all ihre Zweifel und Ängste, die Harrison stets so erfolgreich unterdrückt hatte, wieder an die Oberfläche befördert. Sie wollte endlich helfen. Wollte erfolgreich sein.
Träge nahm Sam ihr Handy zur Hand und schrieb eine SMS an Riley, in der sie sie wissen ließ, dass sie sich heute nicht gut fühlte und lieber Zuhause blieb. Bevor sie die Nachricht jedoch abschickte, harrte die junge Frau noch einen Augenblick aus und fügte schließlich noch einen Nachsatz hinzu.
Wollen wir heute Abend telefonieren? Dann kannst du mir von deinem Tag erzählen, hieß es darin.
Schließlich schickte sie die SMS ab und sah wieder aus dem Fenster. Bedrückt verzog die Wissenschaftlerin ihr Gesicht. Dann würde sie den Tag eben vollständig dazu nutzen, um an dem Serum zu arbeiten. Ohnehin mussten sie noch einen Weg finden, es mit Mrs. Andersons Zellen kompatibel zu machen. Einen kurzen Moment betrachtete Sam noch Star Labs, das von der Sonne bestrahlt wurde und fast so aussah wie früher, wenn man die kaputten Stellen an der Fassade außer Acht ließ. Danach erhob sich die Brünette tief seufzend und lief ins Badezimmer, um zu duschen. Vielleicht wurde sie davon wenigstens halbwegs wach, denn kam es ihr so vor, als hätte sie nicht eine Sekunde lang geschlafen.
Während Sam im Bus saß, der sie zu Star Labs bringen würde, musste sie feststellen, dass die Dusche leider nicht so geholfen hatte, wie sie gehofft hatte. Ihr Körper fühlte sich träge an, ihr Verstand noch träger. Dr. Wells hatte es des Öfteren zu ihr gesagt: Schlafmangel war Gift für Körper und Geist. Gerade spürte Sam die Richtigkeit dieser Aussage am eigenen Leib.
Der Bus ruckelte leicht, als er über eine Bodenschwelle fuhr. Wenige Sekunden danach erreichte er die Haltestelle, die Star Labs am nächsten war, sodass Sam sich erhob und ausstieg. Ihre Umhängetasche geschultert überquerte die junge Frau den großen, leeren Parkplatz der Einrichtung und lief zum Haupteingang. Es war höchst wahrscheinlich, dass weder Cisco, Caitlin noch Dr. Wells um diese Uhrzeit anwesend waren, was ihr gerade gelegen kam, denn konnte sie sich so unbemerkt in ihrem Labor verkriechen ohne Fragen beantworten zu müssen. Zum Beispiel, wieso sie nicht in der Uni war, wo sie doch dem Wissenschaftler versprochen hatte, ihre Ausbildung nicht zu vernachlässigen.
In ihrem Labor angekommen legte Sam zuallererst Jacke und Tasche ab. Danach benötigte sie einen kurzen Moment, um sich zu sammeln. So stand sie augenscheinlich planlos inmitten ihres Labors und starrte ins Leere. Sie war nicht konzentriert, das musste sich schleunigst ändern. Sam schloss ihre Augen, atmete tief ein und aus und nahm schließlich an ihrem Schreibtisch Platz, auf dem der Ordner mit ihren eigenen Recherchen lag sowie ihr Notizbuch, gefüllt mit Ideen und Ansätzen, die ihr, hauptsächlich nach den Spaziergängen mit dem Dunkelhaarigen, hin und wieder kamen. Links neben ihr stand das Mikroskop, das sie für Untersuchungen verwendete sowie ein kleiner Kühlschrank, in dem sich Blut- und Zellproben von Shannon Anderson befanden. Ein letztes Mal ging die Brünette in sich, versuchte unerwünschte Gedanken zu verdrängen und machte sich schließlich an die Arbeit.
Amber war soeben dabei, eine Vermisstenanzeige in die Datenbank aufzunehmen, als Joe an ihrem Schreibtisch vorbeigelaufen kam. Wie es schien, hatte er sich in den letzten zwei Wochen wieder mit Eddie vertragen, denn redeten die beiden Partner wieder miteinander. Zu Ambers Leid, weil die Brünette befürchtete, dass sie nun abgeschrieben war und zurück an ihren Schreibtisch verdonnert wurde.
„Joe?", hielt sie ihren Vorgesetzten deshalb auf, noch ehe er aus ihrer Reichweite verschwinden konnte. Fragend drehte er sich zu ihr herum.
„Was gibt's denn, Mason?", erwiderte er und kam nun direkt vor ihrem Schreibtisch zum Stehen. Nur Mut, dachte sich die Polizistin. Du machst einen guten Job, da kannst du auch für dich einstehen. Fragend zog der West Vater eine Augenbraue nach oben, sodass Amber ihre Lippen öffnete.
„Ich wollte dich fragen, wann ich einen Partner zugeteilt bekomme", offenbarte sie schließlich. Joe klappte die Akte, die er in den Händen hielt, zu. Seine Augenbraue wanderte noch höher, fast bis in seinen Haaransatz. Amber hatte das Gefühl, weitersprechen zu müssen. „Alle auf dem Revier haben einen Partner. Den Fällen wird man in der Regel paarweise zugeteilt. Ich bin nun schon ein paar Monate hier und wollte dich wissen lassen: Ich bin bereit."
„Du bist bereit?", wiederholte der Dunkelhäutige amüsiert. Die Blondine nickte selbstbewusst.
„Ja, das bin ich", stellte sie klar. Joe lachte leise, sodass Amber leicht verärgert ihre Lippen verzog. Es war selten, dass der Polizist lachte, zumindest auf dem Revier, weshalb er nun Eddie auf den Plan rief, der neben seinem Partner zum Stehen kam und ihn interessiert musterte.
„Was ist so lustig?", fragte er. Amber wollte die Frage abwinken, doch kam Joe ihr zuvor. Er hob seine Hand und deutete auf sie.
„Mason denkt, sie sei bereit", erklärte er ihm. „Sie will einen Partner und vermutlich auch einen eigenen Fall, oder?", fragte er nun wieder an sie gewandt.
„Also, wenn ihr einen übrig habt, ja", antwortete sie resolut. Verarschen ließ sie sich ganz sicher nicht. Nun grinste auch Eddie und sah entschuldigend zu ihr.
„Hör zu, Mason", kam es von Joe, der wieder seine ernste Miene aufsetzte. „Du denkst, du bist bereit, ohne Stützräder zu fahren, aber glaub mir, das bist du noch nicht. Es fehlt dir an nötiger Erfahrung."
Amber seufzte.
„Okay, gut möglich, aber dann lasst mich die Erfahrung mit einem eigenen Partner sammeln", schlug sie vor. Eddie musterte sie fragend.
„Joe ist der Beste, von dem du lernen kannst und das willst du einfach so weggeben?", fragte er sie. Amber wusste darauf keine Antwort. Sie wusste, dass Joe der Beste war, doch hatte sie eben auch das Gefühl, dass er sie klein hielt.
„Nicht direkt, aber", versuchte sie daher zu erklären, wurde jedoch vom West Vater unterbrochen.
„Vorerst fährst du noch mit mir Fahrrad, Mason. Steuer nicht gleich die Tour De France an, lerne erstmal, ohne Stützräder zu fahren", legte er ihr ans Herz. Amber wich seinem Blick aus und starrte verärgert auf ihren Schreibtisch. Joe beugte sich leicht zu ihr vor und stützte sich auf der hölzernen Tischplatte ab. „Bei Yamamoto und Snart hast du gute Arbeit geleistet. Überzeug mich davon, dass du weiter so gewissenhaft arbeiten kannst und du bekommst deinen Partner oder einen eigenen Fall, je nachdem, was sich zuerst finden lässt", schlug er ihr vor. Nun war Amber Feuer und Flamme. Sie sah zum Detective auf und nickte.
„Deal", sagte sie entschlossen und entlockte dem West Vater ein Lächeln.
„Sie sind immer so ehrgeizig, wenn sie noch jung sind", kommentierte er an Eddie gewandt.
„Denk nach, Sam", murmelte die Brünette zu sich selbst. „Sei überragend, sei genial, entwickle ein Heilmittel", befahl sie sich, doch herrschte in ihrem Kopf nichts als Leere. Wieso hatte Josh sie ausgerechnet gestern mit Riley konfrontieren müssen? Hätte er nicht ein paar Wochen warten können, bis Caitlin und sie das Serum entwickelt hatten? Sie war aufgewühlt. In ihrer Brust tobte ein Sturm, den sie nicht stoppen konnte. Sam presste ihre Augen zusammen, schlug wütend auf den Tisch und erhob sich in einer schnellen Bewegung. Ihre Hand zwiebelte, während sie durchs Zimmer tigerte. Es ging ihr nicht nur um Star Labs und Harrison Wells und schon gar nicht ging es ihr um sich selbst. Wieso sagte er sowas?
„Verdammt", platzte es verzweifelt aus ihr heraus. Aus purem Reflex trat sie gegen ihren Stuhl, der gegen den Schreibtisch rollte. Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Samantha?", fragte eine ruhige Stimme. Erschrocken drehte sich die Angesprochene zur Tür und erblickte Harrison, der in den Raum gefahren kam und sie teils überrascht, teils besorgt musterte. Rasch drehte sie ihren Kopf weg und wischte sich unauffällig über die Augenwinkel.
„Dr. Wells", sagte sie und versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterbinden. „Was machen Sie denn hier?"
Der Dunkelhaarige näherte sich ihr.
„Dasselbe wollte ich dich gerade fragen", erwiderte er. Noch immer sah sie ihn nicht an, doch konnte sie seinen Blick auf sich spüren.
„Ich - es tut mir leid. Ich habe die Uni heute sausen lassen", gestand sie. Sie wollte ihn nicht belügen. „Ich weiß, dass das so nicht abgemacht war und es tut mir wirklich leid, das wird nicht wieder vorkommen, ich", Sams Stimme zitterte nun wieder stärker, weshalb sie abbrach.
„Samantha", sagte der Dunkelhaarige sanft und kam direkt neben ihr zum Stehen. „Ist alles in Ordnung?", fragte er sie besorgt, während er zu ihr aufsah. Stumm nickte die junge Frau. Offensichtlich glaubte Harrison ihr jedoch nicht, denn beugte er sich nach Links und zog ihren Stuhl zu sich heran. „Komm, setz dich", bot er ihr freundlich an. Sam verharrte an Ort und Stelle und versuchte sich zu fassen, ehe sie schließlich zögerlich Platz nahm. Ihre Augen schimmerten traurig, was dem aufmerksamen Wissenschaftler nicht entging. „Was ist denn los?", hakte er sanft nach und umfasste ihre Schulter. Diese Berührung sorgte dafür, dass große Risse durch Sams mental aufgebaute Mauer zogen und sie bröckeln ließen. Sie spürte, wie sich eine Träne aus ihren Augenwinkeln lösen wollte, weshalb sie hastig blinzelte. „Samantha." Behutsam drückte Harrison ihren Oberarm.
„Ich versage, Dr. Wells", gestand sie. Der Wissenschaftler verzog leicht sein Gesicht, unterbrach sie jedoch nicht, sondern ließ sie ausreden. „Ich versage als Wissenschaftlerin und als Freundin. Ich will in beidem herausragend sein, nur weiß ich nicht, wie ich das anstellen soll. Es ist zu viel und ich bekomme nichts davon richtig auf die Reihe", offenbarte sie ihm ihre Zweifel. Der Dunkelhaarige schüttelte seinen Kopf.
„Du versagst nicht, nicht im geringsten", widersprach er ihr und fuhr noch ein Stück näher an sie heran, sodass seine Knie leicht ihre berührten.
„Aber Josh, er"
„Einer deiner Freunde?", hakte Harrison nach, um gänzlich zu verstehen.
Sam nickte.
„Er sagte mir, dass ich nicht für Riley da sei, dass ich sie im Stich lasse und vielleicht hat er recht. Vielleicht bin ich wirklich egoistisch", sagte Sam mit zittriger Stimme.
„Samantha", warf der Wissenschaftler ruhig ein und schüttelte lächelnd seinen Kopf. „Nichts von dem, was du tust, tust du für dich selbst." Mit tränengefüllten Augen sah sie ihr Gegenüber an. „Alles, woran du hier arbeitest, ist für Andere. Ich habe dich in all den Wochen, in denen du nun hier bist, nicht ein einziges Mal egoistisch handeln sehen, ich glaube sogar, nein ich bin fest davon überzeugt, dass du das gar nicht kannst. Du bist der selbstloseste Mensch, der mir bisher untergekommen ist, also lasse dir von niemandem, auch nicht von einem Freund, weis machen, du seist egoistisch."
„Wieso fühlt es sich dann so an, als ob ich Riley im Stich lasse?", wisperte Sam und verzog ihr Gesicht.
„Du lässt sie nicht im Stich", erwiderte Harrison ruhig. Seine Hand streichelte ihren Oberarm abwärts zu ihrem Unterarm. Trotz ihres Kummers, der ihre Wahrnehmung trübte, spürte sie das gewaltige Kribbeln in ihrem Bauch. Wieder musste sie an Joshs Worte denken. Daran, dass sie springen würde, wenn Harrison Wells sie um Hilfe bat und vermutlich hatte er recht. „Du tust dein Bestes, um ihr zu helfen, das darfst du niemals vergessen. Du arbeitest wie verrückt, für sie und für ihre Mutter."
Traurig senkte die Brünette ihren Blick.
„Ja schon, nur verstehe ich Josh ja auch. Er hat eben keine Ahnung", murmelte sie betrübt.
„Dann sag ihm die Wahrheit", schlug Harrison vor. Sams Kopf schnellte nach oben, verwirrt sah sie den Wissenschaftler an.
„Was? Aber das mit Star Labs sollte doch geheim bleiben", erinnerte sie ihn. Harrison schenkte ihr ein warmes Lächeln.
„Das ist richtig, ja, aber sie sind deine engsten Freunde, oder nicht? Wenn es dir in deiner jetzigen Situation hilft, kannst du sie einweihen. Du hast meine Erlaubnis."
Sam wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Perplex und zeitgleich zutiefst dankbar sah sie in Harrisons eisblaue Augen, denn lieferte er ihr soeben einen Ausweg. Und auch, wenn sie noch nicht wusste, ob sie Josh nach dem, was er zu ihr gesagt hatte, überhaupt noch einweihen wollte und vor allem ob sie Riley bereits jetzt, wo das Heilmittel noch rein hypothetisch war, einweihen sollte, lächelte Sam zaghaft zurück.
„Danke, Dr. Wells", wisperte sie und sah auf ihren Arm, den er noch immer sanft umschlossen hielt. Sam spürte, wie sich ihre Wangen langsam rot verfärbten, da sie wieder begann ihr Umfeld wahrzunehmen und somit auch den Umstand, dass er sie berührte. Der Wissenschaftler musterte ihr müdes Gesicht und sah anschließend zu ihrem Schreibtisch, auf dem ein heilloses Durcheinander herrschte, was ihr jetzt äußerst unangenehm war. Langsam ließ er von ihrem Arm ab.
„Du solltest dich etwas ausruhen, Samantha", riet er ihr und blickte wieder in ihre Augen. „Du siehst müde aus."
Rasch schüttelte die junge Frau ihren Kopf.
„Ich fahre noch nicht nach Hause", sagte sie resolut. Es war gerade mal Nachmittag.
„Dann mach wenigstens eine Pause. So wirst du nicht effektiv arbeiten können, du wärst nur halb bei der Sache und das willst du doch nicht."
Leise knirschte die junge Frau mit den Zähnen. Er hatte recht, schon wieder. Harrison schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und fuhr ein Stück mit seinem Rollstuhl zurück. Sam spürte ein seltsames Gefühl in sich aufkeimen. Die Angst davor, wieder allein mit ihren Gedanken zu sein. Es ging ihr besser, doch nur, weil er in ihrer Nähe war und die Ruhe, die er ausstrahlte, wie durch Magie stets auch auf sie überging.
„Machen Sie auch eine Pause, Dr. Wells?", fragte sie ihn daher, die Worte waren einfach über ihre Lippen gedrungen. Am liebsten hätte Sam sie umgehend zurückgenommen. Der Dunkelhaarige schien kurz zu überlegen, derweil er sie eingehend musterte, so als wolle er ihre Gedanken lesen. Instinktiv senkte die Wissenschaftlerin ihren Blick.
„Ein wenig Ablenkung täte uns beiden sicherlich gut", sagte er nachdenklich.
„Zum Spazierengehen bin ich nur leider viel zu müde", gestand sie mit einem schiefen Lächeln und sah zu ihm auf.
„Es gibt mehrere Wege, sich zu entspannen und seinen Geist zu befreien, oder hältst du mich für so langweilig?", erwiderte er gespielt entrüstet und entlockte Sam tatsächlich das erste Lachen an diesem Tag. Zufrieden lächelte Harrison und wandte sich mit seinem Rollstuhl herum. „Komm, Sam, folge mir."
Mentor und Schülerin begaben sich in den Cortex, sodass sich Sam fragte, was er vor hatte. Etwa eine andere Aufgabe, die sie ablenken sollte? Abwartend sah sie zu ihm, als sie am Computerpult zum Stehen kamen. Harrison bemerkte ihren Blick und sah zu ihr auf.
„Neugierig?", zog er sie auf, sodass die Brünette nicht umhin kam als zu grinsen. Immer wieder schaffte er es, sie aufzuheitern.
„Ja, schon. Was wollen wir hier? Etwa ein neues Meta-Wesen?", fragte sie und nahm neben ihm Platz, als er auf den Stuhl deutete.
„Um Himmelswillen, nein. Du sollst dich doch ausruhen, oder bedeutet Meta-Wesen Jagd etwa Entspannung für dich?"
„Zumindest ist es Ablenkung", erwiderte sie. Jetzt war es Harrison, der lachte. Sam spürte, wie ihr Herz unweigerlich bei diesem Laut zu hüpfen begann.
„Ich tendiere eher zu einer Art Ablenkung, wie sie auch normale Menschen genießen", erklärte er und öffnete eine Datei auf dem Computer, die Sam neugierig beäugte.
„Terminator, Transformers, Fluch der Karibik", las sie laut vor. „Dr. Wells, das sind Filme", bemerkte sie verwirrt.
„Korrekt", kam es zurück. Mit hochgezogener Augenbraue musterte Sam ihren Mentor.
„Cisco hat sie auf den Rechner gespielt. Er sieht sie sich an, wenn er länger arbeitet. Ich glaube er denkt, dass ich nichts davon wüsste, doch wie du weißt, entgeht mir nichts", erklärte der Dunkelhaarige selbstsicher. Sam kicherte.
„Nun ja, die Filmauswahl ist definitiv sehr", murmelte sie und legte leicht ihren Kopf schief, während sie die Titel nochmals überflog, „interessant." Dennoch, sie traf ihren Geschmack.
„Dann such einen aus", schlug der Wissenschaftler vor und deutete auf den Bildschirm.
„Was?", hakte sie verwirrt nach. „Aber die gehen alle um die zwei Stunden und ich muss weiterarbeiten ", erklärte sie ihm.
„Und das kannst du, sobald du dich etwas ausgeruht und beruhigt hast, Samantha. Es würde nichts bringen, vorschnell zurück an die Arbeit zu gehen."
Die Brünette verzog grüblerisch ihre Lippen.
„Vertrau mir, es wird dir guttun", versprach er ihr. Sam musterte ihn schüchtern und beugte sich anschließend vor, um einen Titel auszuwählen. Wenn sie ehrlich war hatte sie, als er von Ablenkung gesprochen hatte, nicht damit gerechnet, dass sie sich wie zwei Freunde einen Film ansehen würden, doch je länger sie darüber nachdachte, umso mehr gefiel ihr der Gedanke. Vielleicht hatte er recht, vielleicht brauchte sie die Pause wirklich. „Und, für welchen hast du dich entschieden?", fragte Harrison neugierig, als die Brünette sich wieder in ihren Stuhl zurücklehnte.
„Fluch der Karibik", antwortete sie. Ihr Mentor nickte kurz.
„Den habe ich tatsächlich nie gesehen", ließ er verlauten, woraufhin Sams Kopf zu ihm schnellte. Mit ungläubigem Blick besah sie sein markantes Gesicht.
„Dr. Wells, das geht gar nicht. Das ist Kulturgut", sagte sie und entlockte ihm ein amüsiertes Schnauben.
„Schande über mich", entgegnete er und lehnte sich zurück. „Aber das ändern wir ja jetzt. Versuche, etwas abzuschalten, Samantha und später arbeitest du weiter an eurer Studie", schlug er vor. Sam nickte zögerlich und lehnte sich ebenfalls zurück.
„Ich versuche es."
Die Samantha Jones, die er nun schon seit mehreren Wochen persönlich kennenlernen durfte, war ganz anders als jene Frau, deren Autobiographie er mehrfach gelesen hatte. Es war nicht verwunderlich, denn war die Brünette zur jetzigen Zeit noch jung und unerfahren. Sie musste sich erst noch entwickeln und am wichtigsten: Sie musste ihr Selbstvertrauen aufbauen. Samantha zweifelte an sich und stand sich, wie Harrison zunehmend deutlicher bemerkte, selbst im Wege. Sie verwendete ihren Kopf gegen sich, nicht für sich. Sie zerdachte die Dinge und orientierte sich zu sehr an ihren Mitmenschen. Sie war ein selbstloser, gutherziger Mensch, dies stand außer Frage. Dennoch musste er sie dorthin führen, wo sie eines Tages stehen musste; an die Spitze. Er musste ihr volles Potential entfalten.
Während der Wissenschaftler den Film verfolgte, den die junge Frau ausgesucht hatte, dachte er über Wege nach, wie er sie am effektivsten in die gewünschte Richtung führen konnte. Plötzlich bemerkte er eine leichte Bewegung aus seinem Augenwinkel und blickte zur Brünetten. Ein breites Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen, als er beobachtete, wie Sam zunehmend neben ihm wegnickte, denn schwankte ihr Kopf wiederholt leicht zur Seite und auch ihre Augen fielen immer wieder zu. Er hatte ihr angesehen, dass sie die Nacht über nicht geschlafen hatte.
Er sah wieder zum Bildschirm, hielt jedoch inne, als er ein Gewicht auf seiner Schulter spürte. Der Wissenschaftler sah erneut zu Sam, die ihren Kopf auf seine Schulter gelegt hatte. Völlig unbeabsichtigt, das war ihm klar. Vermutlich wusste sie es nicht einmal. Schweigend betrachtete er ihr haselnussbraunes Haar und entschied sich dagegen, die junge Frau zu wecken. Sie brauchte den Schlaf und wenn seine Schulter dafür herhalten musste, dann war es eben so. Am wichtigsten war, dass sie sich später ausgeruht ihrer Forschung widmen konnte, um daran zu wachsen. Mit jedem Tag ein wenig mehr, mit jedem Meta-Wesen schneller, solange, bis sie zu der Frau in seinen Büchern geworden war.
Schnellen Schrittes lief eine Frau einen Flur entlang, auf dem Weg zum Aktenraum. Ihre roten Haare wippten leicht bei jedem ihrer strammen Schritte. Leise wie eine Katze und in schwarz gekleidet erreichte Bette Sans Souci ihr Ziel. Sie rüttelte am Türknauf.
Verschlossen.
Die junge Frau sah sich um. Es herrschte Stille. Niemand außer ihr war hier. Die Wachleute liefen ihre Patrouille in diesem Moment auf einer anderen Etage. Wenn sie schnell war, war sie weg, noch ehe jemand etwas bemerkte. Bette drehte sich wieder herum zur Tür. Sie hob ihre Hand und legte sie ans Türschloss. Die Rothaarige schloss ihre Augen und trat anschließend einen Schritt beiseite. Ein Knall ertönte. Das Türschloss flog inmitten einer kleinen Explosion auf. Das Geräusch hallte durch den Flur, während die Rothaarige im Aktenraum verschwand. Darin angekommen lief die junge Frau zielstrebig zu einem der Aktenschränke. Bette durchforstete die Schublade nach einer Akte. Als sie sie fand, schlug ihr Herz schneller. Hastig zog sie eine kleine Lampe aus ihrer Tasche, öffnete den Hefter und beleuchtete die aufgeschlagenen Seiten. Rasch überflog sie den Text. Die Rothaarige suchte nach etwas Bestimmten, nach einem Namen. Nach dem Namen des Mannes, der sie zu dem gemacht hatte, was sie nun war. Ein Monster. Eine tickende Zeitbombe. Bette nahm die Akte an sich. Zeit zu gehen, dachte sich die Rothaarige und nahm ihren Rucksack, den sie kurzzeitig abgestellt hatte, wieder zur Hand. Plötzlich schien das Licht einer Taschenlampe in den Raum.
„Scheiße", fluchte Bette leise und duckte sich.
„Ich bin jetzt im fünfzehnten Stock. Von hier ist das Geräusch gekommen", sprach eine männliche Stimme in ein Funkgerät. Bette verharrte, rührte sich nicht. „Was zum", hörte sie den Mann murmeln. Er stand nun direkt vor der Tür. Ihre grünen Augen wanderten zum anderen Ausgang, ihrem einzigen Fluchtweg. „Hier hat jemand die Tür aufgesprengt!", sagte der Wachmann. Ihr Stichwort. Bette hastete aus ihrem Versteck und rannte zur Tür. Das Licht der Taschenlampe schien auf ihren Rücken. „Sie da! Stehenbleiben, sofort!" Die Rothaarige rannte den Flur entlang, die Akte in ihrer Hand haltend. Sie steckte sie beim Sprinten in ihre Jacke. „Keine Bewegung!", ertönte es plötzlich hinter ihr. Wie angewurzelt blieb die Rothaarige stehen und hob ihre Hände. Sie sah über ihre Schulter zum Wachmann und verzog ihr Gesicht. Er durfte sie nicht reizen, durfte sie nicht aufwühlen.
„Bitte", flehte sie mit erhobener Stimme. „Ich will nicht, dass jemand zu Schaden kommt."
„Runter auf den Boden und stellen Sie den Rucksack ab!", befahl der Ergrauende, die Pistole nach wie vor auf sie gerichtet. Bette zögerte. „Na los!", drängte er. Die Soldatin umfasste ihren Rucksack. Als ihre Finger den Stoff der Tasche berührten spürte sie es. Spürte, wie sie die Kontrolle verlor. Er begann Lila zu leuchten. Verängstigt sah Bette zum Wachmann.
„Gehen Sie in Deckung!", rief sie ihm zu, während sie den Rucksack wegwarf. Danach rannte sie los und keine Sekunde später - ein ohrenbetäubender Knall.
In dem Moment, in dem ein Ruf auf dem Notfallkanal der Polizei abgesetzt wurde, ertönte auch der Alarm in Star Labs. Sam zuckte zusammen und wachte auf. Sie lag auf etwas, nein, sie lag auf jemandem. Schlaftrunken und verwirrt drehte sie ihren Kopf, wobei ihre Stirn zaghaft gegen ein Kinn stieß. Ihr Kopf ruhte auf einem schwarzen, weichen Pulli und ein anziehender Duft stieg ihr in die Nase. Sie sah hinauf zu Harrison, der wiederum amüsiert zu ihr hinuntersah. Nun begriff sie. Hastig und mit aufgerissenen Augen setzte sich Sam wieder aufrecht hin und blickte zutiefst verlegen in das Gesicht ihres Mentors.
„Dr. Wells", japste sie, während das Geräusch des Alarms weiterhin im Hintergrund ertönte. Sie war auf seiner Schulter eingeschlafen. „Oh Gott, das tut mir so Leid! Wieso haben Sie mich nicht geweckt?", fragte sie ihren Mentor verzweifelt, den Alarm für einen Moment ignorierend. Das, was sie gerade getan hatte, das war in Sams Augen noch viel alarmierender. Harrison hingegen schien die Sache locker zu sehen, denn schnaubte er nur und schaltete den Alarm auf lautlos. Danach betätigte er den Knopf, der eine Nachricht an Barrys Handy sendete.
„Nun ja, du hast so friedlich geschlafen, da wollte ich dich nicht wecken. Du hast den Schlaf offensichtlich bitter nötig gehabt, also habe ich den Film alleine weitergeschaut und dir die nötige Erholung gewährt", erklärte er ihr ruhig. Mit tiefroten Wangen starrte Sam ihn an. „Jetzt schau doch nicht so, Samantha", lachte Harrison leise, während Caitlin und Cisco auch schon in den Cortex geeilt kamen. „Das bleibt unser Geheimnis", fügte er zwinkernd hinzu.
„Was bleibt euer Geheimnis?", fragte Cisco neugierig nach, der neben Sam Platz nahm und sich darauf vorbereitete, Barry zu helfen, sollte er Hilfe benötigen.
„Nichts, kein Geheimnis! Lasst uns Leben retten", winkte Sam hastig ab und zwang sich, auf den Bildschirm vor sich zu sehen. Sie spürte Harrisons Blick auf sich und ihr Herz, das wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Einen Wimpernschlag später stand der Speedster auch schon in voller Montur im Cortex.
„Eine Explosion in der Seymour Street, Barry", ließ Caitlin den Braunhaarigen derweil wissen. Er nickte und düste los. Der Windstoß, den er dabei verursachte, schlug Sam ins Gesicht, kühlte sie jedoch nicht im Geringsten ab. Sie hatte beim Einschlafen ihren Kopf auf Harrisons Schulter gelegt, ohne es zu bemerken. Wie peinlich. Und dann roch er auch noch so wahnsinnig gut. Sam kniff ihre Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren.
„Der fünfzehnte Stock ist in die Luft geflogen, da oben brennt es!", verkündete Barry soeben durch die Lautsprecher. Sam rieb ihre Hände über ihre Knie. Noch wusste sie nicht, dass diese Explosion der Beginn von etwas war, etwas Großem. Etwas, das ihr Leben in den nächsten Monaten komplett verändern sollte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top