one
Budlesford (England), 25.12.1858
Mit zusammengekniffenen Augen und von der Kälte aufgesprungenen Lippen suche ich den Himmel nach Luftschiffen ab. Dem Grau, das er heute zur Schau stellt, scheint die sonst so blendende Sonnenscheibe zwar zu fehlen, doch von irgendwoher strahlt ein Licht und erhellt den wolkenverhangenen Horizont, sodass ich kaum etwas erkennen kann, wenn ich lange nach oben sehe. Irgendwo an meinem Gürtel hängt normalerweise ein passendes Sichtglas, aber ich nehme an, dass ich es in meinem Koffer liegen gelassen habe. Als erbärmlicher Ersatz dient mir nur meine bloße Hand, die Flecken von Ruß auf meiner sowieso schon dreckgeschwärzten Stirn hinterlässt.
Ich lausche. Nein, da ist kein übertönendes Rauschen, wie man es sonst von den gewaltigen Monstren kennt – Fähren und Transportschiffe, manchmal Kriegsschiffe – und auch kein monotones Surren, das die Ankunft einer kleineren Maschine verraten würde.
Allerdings ist es auch relativ laut. Hinter mir muss sich das halbe Dorf versammelt haben, Schaulustige, die sich das Spektakel ansehen wollen. Nicht mich, nicht heute.Ich wende den Blick ab und musterte stattdessen die Menschenmenge. Keiner von ihnen ist gut gekleidet, die meisten scheinen direkt von der Arbeit zu kommen: Bergeleute tragen Helme und Brillen, die nur so vor Staub und Schmutz starren, ich sehe große, metallene Ohrenschützer, ein Gewehr, in dessen Griff zwei taschenuhrähnliche Zifferblätter eingelassen sind, Teleskopbrillen, Lampen, die in abstrusen Konstruktionen an Armschützern und Helmen festgemacht sind. Ein Mann trägt einen Köcher auf dem Rücken wie für Pfeile, doch bei näherem Hinsehen erkenne ich, dass es Schraubenschlüssel sein müssen. Irgendwo erhasche ich den Blick auf eine Art Beatmungsgerät oder Gasmaske, eine stählerne, teilweise stoffüberzogene Kappe mit einem langen Schlauch, das scheinbar noch nicht abgenommen worden ist und den Träger vor der dem Einatmen von Staub bewahrt hat. Und obwohl die gesamte kleine Gesellschaft völlig verdreckt wirkt, tragen sie ihre Kleidung doch irgendwie mit Stolz.
Winzige, offenbar selbst gefertigte Zahnradapparaturen ziehen meinen Blick auf sich, schmale Ketten, an denen Uhren hängen oder auch nur Uhrwerke ohne das Zifferblatt selbst, aus denen unten meist etwas angerostete oder schon verblichene Schrauben und Rädchen hinausragen, rüstungsartige Schienen, die mit vielen kleinen Schnallen verziert sind. Die meisten Schuhe sind Stiefel mit rauer Sohle, die teilweise bis zu den Knien reichen. Manche Frauen tragen enge Halsbänder, um die herum kleine Maschinerieteile angebracht sind, die sich an ihre Haut schmiegen und dort Abdrücke hinterlassen, die vom Staub ganz grau geworden sind. Trotzdem ist die Mehrheit in Hosen gekommen; nur hier und da fällt mir eines dieser typischen Dorfkleider auf – nicht sehr teuer, aber mit vielen Rüschen, über der Brust geschnürt und ungemein auf den Nutzen selbst ausgelegt, mit vielen Taschen für Werkzeuge, Messgeräte und Uhren.
In diesem Moment ertönt ein hohes Pfeifen. Mein Blick fokussiert wieder den Himmel und mit einer Hand taste ich über meinen Schlüsselbeinen nach der Kette mit der Taschenuhr, die mir um den Hals hängt. Mit einem Schnappen klappt sie auf und das Ziffernblatt wird sichtbar. Sieben Minuten vor Zwölf – sie sind pünktlich.
Da ist es, das Luftschiff. Es ist eine kleine Maschine, aber ich muss trotzdem grinsen. Es gibt nichts, das ich mehr liebe als Luftschiffe, und wenn ich mit dieser Wahnsinnstour hier fertig bin, werde ich das Geld haben, mir eines zu kaufen. Mir meine Freiheit zu erkaufen. Wenn wir mit dieser Wahnsinnstour fertig sind, sind wir reich.
„Sie kommen!" Die sonst so trällernde, hohe Stimme des Professors hat einen nervösen Unterton bekommen, doch dieses leicht nach einem Verrückten Klingende hat sich darin gehalten. Eine Hand packt meine Schulter und zerrt mich herum. „Mena, sie kommen!"
Der Professor ist ein schmächtiger, fast schon ungewöhnlich dürrer Mann; ich gehe davon aus, dass er einfach manchmal das Essen vergisst, weil er mit irgendetwas anderem gerade ungemein beschäftigt ist. Sein Körperbau und das mangelnde Gewicht werden allerdings durch die Apparaturen ausgeglichen, die jeden Fleck seiner Haut bedecken und sicher als Ausrüstung für die gesamte Menschenmenge hätte dienen können. Sogar aus seinen Ohren quellen dünne Röhren und ein Trichter, der Kopf ist mit einem Helm geschützt und der obligatorischen Brille, die ich auch in ähnlicher Ausführung besitze, nur dass er gleich mehrere Sichtgeräte besitzt, die zum Teil auch an seinem Gürtel baumeln oder auf dem Helm, oder – wie jetzt gerade – auf seiner Nase saßen. Der einzige Teil, der unbedeckt geblieben ist, ist sein Mund. „Es ist so weit", verkündet er fast pathetisch. „Ich sehe sie. Es ist eine Frau – bestimmt Lady Zephiditys – und ein Mann ... schau, wie sie aussteigen!" Verzückt schraubt er an seinen Armaturen herum; ich jedenfalls kann überhaupt nichts erkennen. Vielleicht vergrößert er irgendetwas.
Auch die Menschenmenge lenkt ihre Aufmerksamkeit auf das Luftschiff, das an einem Anlegeturm, am einzigen Anlegeturm (ein Wunder, dass Budlesford überhaupt einen besitzt!), gehalten hat. Kleine Gondeln befördern die Passagiere, offenbar tatsächlich zwei an der Zahl, nach unten.Der Professor zieht aus den vielen Uhren und Geräten, die an seiner linken Seite hängen, eines heraus und quietscht mit einem kurzen Blick darauf „Pünktlich, pünktlich!" (es scheint ihn nicht zu stören, dass es sich dabei um ein Messapparatur für den Rußgehalt der Luft handelt), bevor er mir wieder die Hand auf die Schulter legt, wobei er schon fast nach oben greifen muss. „Gleich werden sie hier sein." Er sieht mich an, soweit ich das unter der Brille erkennen kann, und lässt zerstreut filterartige Gläser in deren Rahmen hinein- und andere herausschnappen. „Mena, sei so lieb und schalte die Dampfkraft an, wenn ich dir ein Zeichen gebe." Mit einem Mal kann er sich wieder kaum halten und wirft wie durch eine plötzliche Eingebung die Arme mit einem gequälten Scheppern aller daran festgemachter Maschinen in die Luft. „Endlich ist er da, der große Tag!" Seine Worte verhallen ein wenig, weil er in dem Moment, in dem er anfängt zu sprechen, schon wieder aufspringt und sich in Richtung seines Meisterwerkes bewegt.
Ich nicke etwas resigniert, obwohl ich zugeben muss, dass auch mein Herz schneller zu schlagen begonnen hat, als das Luftschiff am Himmel aufgetaucht ist. Ich richte meinen Blick auf das monströse Gebilde, das der Professor so innig liebt, und setze mich in Bewegung.
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