Kapitel 21 - Stephen

Als ich am Freitag Abend nach Hause komme, gehe ich sofort in die Küche und hole mir erstmal was zu essen. Währenddessen überlege ich, ob ich nochmal zu Ida gehen soll. Schließlich habe ich meinen Eltern gestern gesagt, wie sehr ich sie liebe, aber ich hatte bis jetzt noch keine Möglichkeit es Ida zu sagen. Sie war an dem Tag nämlich noch länger in der Uni und danach habe ich es schlichtweg vergessen.

Doch ich entscheide mich dafür zu ihr zu gehen und wenigstens einem Menschen an diesem Abend etwas Liebe zu geben.

»Ida?« Ich klopfe an ihrer Zimmertür und stecke meinen Kopf dann vorsichtig in ihr Zimmer.

Sie sitzt gerade auf ihrem Bett, während sie sich etwas anschaut und Schokolade isst. Ich lächele und betrete dann ihr Zimmer.

Ich falle ihr um den Hals, da ich gestern keine Möglichkeit dazu hatte. »Ich liebe dich so sehr, Ida. Und ich hoffe, dass du eines Tages wieder die nervige Schwester bist, die immer alles besser macht, als ich. Ich hoffe wirklich, dass es dir bald wieder gut geht.«

Ich löse mich wieder von ihr, während sie mich überrumpelt ansieht. Wahrscheinlich hat sie sowas nicht von ihrer nervigen kleinen Schwester erwartet. Aber, wenn ich schon dabei bin Liebe zu versprühen, dann auch bei denen, die es wirklich brauchen.

Ich lächele sie an und will schon aus dem Zimmer flüchten, weil sie wahrscheinlich wieder genervt von mir ist, als sie mich jedoch aufhält.

»Maja, können wir reden?« Erwartungsvoll sieht sie mich an.

Will sie etwa darüber reden, was mit ihr passiert ist?

Ich nicke zögerlich, während sie ihren Laptop und die Schokolade vom Bett räumt, damit ich mich auf ihr Bett setzen kann. Ich sehe sie eine Weile an, während sie meinen Blick meidet und auf die Decke sieht. Doch ich kann verstehen, dass sie etwas Zeit braucht.

»Ich...«, fängt sie an. »Ich habe... also vor einigen Wochen habe ich jemanden kennengelernt. Er heißt Stephen.« Sie fährt sich durch die Haare, während ich ihr gespannt zuhöre.

»Er geht ebenfalls auf die gleiche Uni, wie ich. Wir haben sogar eine Vorlesung zusammen.« Sie räuspert sich. »Jedenfalls war er nie zufrieden mit seinen Noten. Dafür hat er die Dozentin verantwortlich gemacht, die wir hatten. Ich war eigentlich immer zufrieden und dachte auch, dass sie einen fair bewertet. Stephen hat auch nicht sonderlich viel für die Uni getan, also fand ich seine Note berechtigt, aber ich habe mich nie getraut es ihm zu sagen.«

Sie zupft an der Decke herum und scheint vollkommen in Gedanken zu sein.

»Vielleicht wollte ich nicht, dass er schlecht von mir denkt. Weil... weil ich irgendwie Gefühle für ihn hatte. Ich fand ihn toll. Und ich habe gehofft, dass er mich auch toll findet, deswegen bin ich immer so glücklich in die Uni gegangen, weil ich mich auf ihn gefreut habe. Aber dann hatten wir Freitag und...«

Tränen rennen ihr Gesicht herunter, während sie versucht sie wegzuwischen. Ich weiß genau, dass Ida stark sein will, aber manchmal müssen wir auch unsere Schwächen zeigen. Und das ist vollkommen in Ordnung, denn genau das macht uns schließlich menschlich.

»Wir hatten wieder die gleiche Vorlesung und Stephen hat sich so sehr mit der Dozentin gestritten, wie noch nie. Und das auch noch nach dem Unterricht, denn er ist danach zu ihr gegangen. Ich habe Stephen danach abgefangen und gefragt, ob alles okay sei. Ich habe genau gemerkt, wie schlecht es ihm ging, doch er hat gesagt, dass alles okay ist. Also habe ich das Thema den restlichen Tag auch nicht mehr angesprochen, denn ich dachte das hätten wir, wenigstens für den Tag, hinter uns.«

Idas Schluchzen bringt mich dazu, näher zu ihr zu rutschen und ihre Hand in meiner zu halten. Ich spüre ihre kalten zitternden Hände und hoffe, dass ich ihr mit der Geste ein wenig helfen kann.

»Ich wollte gerade nach Hause gehen, als... als ich Stephen draußen gesehen habe. Zuerst wollte ich zu ihm gehen und habe auch nach ihm gerufen, aber er hat mich nicht gehört. Und dann..« Ida schaut gedankenverloren auf ihre Decke und kommt aus dem weinen nicht mehr heraus.

»Dann war da auch noch meine Dozentin. Er ist von hinten auf sie zugelaufen und dann ging alles ganz schnell. Er hat ein Messer gezückt... und... und es ihr einfach so in den Rücken gerammt. So unfassbar oft und so schnell«, schluchzt Ida. »Ich konnte nicht mehr zusehen und habe vor meine Füße gekotzt, während andere sofort Hilfe geholt haben.«

Geschockt sehe ich zu Ida, denn das wäre das Letzte, was ich erwartet hätte. Das kann unmöglich wahr sein.

»Sie ist gestorben«, schluchzt sie. »Ich habe gesehen, wie sie gestorben ist... ich habe das ganze Blut gesehen und ihre Schreie gehört und ich kann nicht so tun, als wenn nichts passiert wäre. Und egal, wie oft ich bis jetzt zur Uni gegangen bin, ich kann einfach nicht in diese Vorlesung gehen, die sie immer gehalten hat und der neuen Dozentin zuhören. Es geht einfach nicht, denn ich habe so viele Erinnerungen, die mich jedes mal einholen, wenn ich den Raum betrete.«

»Oh mein Gott, Ida. Es tut mir so unfassbar leid, dass das alles passiert ist und du es auch noch mitansehen musstest.« Ich kann nicht verhindern, dass sich einzelne Tränen aus meinen Augen schleichen.

»Und ich habe nicht mal etwas getan! Ich stand da wie ein Haufen Elend und konnte es nicht glauben. Ich habe mich geschämt. Schließlich habe ich diesen kranken Typen irgendwie gemocht! Und ich kann nicht glauben, dass man sich so sehr in Menschen täuschen kann.«

Zum ersten Mal seitdem ich in ihrem Zimmer sitze, sieht sie mir in die Augen. »Bin ich jetzt ein schlechter Mensch?«

»Was?! Ida, nein! Auf keinen Fall, bitte hör auf sowas zu denken. Du bist kein schlechter Mensch, sondern der Typ, der eine unschuldige Frau umgebracht hat. Damit hast du überhaupt nichts zu tun!«, versuche ich ihr einzureden, denn ich kann nicht glauben, dass sie sowas tatsächlich in Betracht zieht.

»Aber ich hätte doch merken sollen, wie krank er ist. Ich habe so viel Zeit mit ihm verbracht und manchmal ist mir auch aufgefallen, wie schnell er wütend wird, aber ich habe es nie ernst genommen.«

Ich ziehe meine Schwester zu mir und halte sie so feste, wie ich nur kann. »Sowas kann doch niemand ahnen, Ida! Vertrau mir, du hast absolut keine Schuld an dem ganzen Vorfall.«

Wir lösen uns voneinander und Ida sieht mich niedergeschlagen an.

»Was ist denn jetzt eigentlich mit Stephen passiert?«, hake ich nach und hoffe, dass ich Ida damit nicht bedränge.

»Er sitzt im Gefängnis«, erklärt sie. »Schließlich gab es genug Zeugen vor der Uni und außerdem hat er seine Tat auch gestanden.«

»Wow«, gebe ich erstaunt von mir. »Ich habe wirklich nichts davon mitbekommen.«

Vielleicht sollte ich doch mal öfter in die Nachrichten schauen, aber selbst dann hätte ich nicht gewusst, dass es etwas mit Idas Verhalten zu tun hat.

»Mom und Dad haben es allerdings schon mitbekommen. Wir saßen Abends im Wohnzimmer, als die Nachrichten kamen. Sie waren beide geschockt, während ich kein einziges Wort herausgebracht habe. Natürlich kannten sie Stephen noch nicht und wussten daher auch nicht, dass ich ihn kannte. Man hört sowas zwar immer in den Nachrichten, aber man denkt nie, dass man sowas mal mit eigenen Augen erleben wird. Und ich konnte einfach nicht darüber reden, also bin ich in mein Zimmer gelaufen und habe mich abgeschottet«, gesteht sie.

»Das muss bestimmt sehr schwer für dich gewesen sein«, stelle ich fest und schaue besorgt zu ihr.

»Ja.« Sie nickt. »Aber es tut gut, es einfach rauszulassen. Danke, Maja, dass du immer wieder nach mir gesehen hast. Auf dich kann man sich wirklich verlassen.«

Ich lächele. »Das ist doch selbstverständlich.«

Und dann nehme ich sie wieder in den Arm, denn ich habe das Gefühl, dass nicht nur Ida das gebrauchen kann, sondern ich auch.

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