Kapitel 19 - Tod
Nachdem Rob und ich noch bis zum Ende der Pause geredet haben und die Zeit einfach genossen haben, sind wir dann auch endlich wieder zum Unterricht gegangen. Ich bin froh, dass ich mich überwunden habe und mit ihm gesprochen habe, denn sonst hätte ich seine Sicht vielleicht nie erfahren. Und ist das nicht das wichtigste? Dass man sich immer erst einen Eindruck aus beiden Sichten holt und dann urteilt? Ich denke schon.
Doch ich war einfach blind vor Wut. Ich wollte keine andere Sicht sehen. Und das war ein Fehler, denn manchmal sind die Dinge nicht so, wie wir am Anfang vermuten. Und manchmal kann man die Schuld nicht einfach auf einen anderen Menschen schieben, denn das einzige was dazwischen kommt, ist das Leben. Niemand trägt Schuld daran, wie wir damals den Kontakt verloren haben. Niemand, außer das Leben.
Ich glaube, wenn ich Sam nicht hätte, um mich von Rob abzulenken, dann wäre ich Rob jetzt wahrscheinlich immer noch verfallen. Wahrscheinlich habe ich genau das damals gebraucht: eine Ablenkung. Doch das ist Sam nicht mehr für mich. Ich glaube, jetzt ist er mehr für mich geworden, als eine Ablenkung. Ich weiß nur noch nicht, was.
»Maja«, nehme ich eine Stimme hinter mir wahr.
Ich drehe mich um und sehe Louis aus der Cafeteria kommen. »Hey«, begrüßt er mich. »Ich wollte dich mal fragen, ob du am Wochenende Zeit für den Aufsatz hast? Schließlich müssen wir das ja außerhalb des Unterrichts machen.«
Wieder hat er den Ring an seinem Daumen, den ich faszinierend betrachte. Ich weiß nicht warum, aber ich finde, dass es ihn um einiges attraktiver macht. Und dann auch noch seine leuchtenden Augen und diese schönen Haare. Meine Güte, ich sollte echt aufhören so dämliche Gedanken zu haben.
»Wann genau kannst du denn? Weil am Freitag ist das Fußballspiel und die Jungs zwingen mich mitzukommen, auch wenn unser Team nicht spielt.« Wem erkläre ich das hier eigentlich? Schließlich ist Louis doch selber in unserem Team. Man, bin ich blöd.
»Ich bin morgen auch da. Wenn du willst, können wir danach den Aufsatz weiter schreiben. Oder willst du zum Strand?«
Natürlich wäre der Strand eine tolle Idee, aber ich würde mich irgendwie schlecht fühlen, wenn ich ihm jetzt absage. Schließlich ist er sogar extra auf mich zugekommen und hat mich gefragt, was ich eigentlich für ein großes Wunder halte. Ich frage mich nur, wann er wohl wieder einen blöden Spruch rauslässt und muss kurz an das erste Mal denken, als wir uns gesehen habe. Er hat gesagt ich bin dumm, er hat gesagt ich bin nicht hübsch. Er hat mich direkt verurteilt, ohne mich zu kennen. Und irgendwie tut es immer noch weh, wenn ich daran denke.
Ich will stark sein, ich will nicht von Meinungen anderer beeinflusst werden, aber irgendwie gibt es trotzdem noch Momente, in denen mir die Meinungen von anderen doch nicht so egal sind, wie ich es gerne hätte.
»Okay«, antworte ich. »Dann machen wir das so.«
»Super.« Louis nickt. »Dann bis morgen.«
Ich seufze und sehe ihm hinterher. Plötzlich habe ich doch nicht so ein gutes Gefühl mich mit ihm zu treffen. Und wie wird Sam das bloß finden? Hoffentlich denkt er nicht, dass sich etwas zwischen Louis und mir entwickelt. Vielleicht sollte ich morgen beim Fußballspiel mal wieder mehr mit Sam reden und ihm meine ganze Aufmerksamkeit schenken. Vielleicht sollte ich ihm mal wieder schöne Augen machen. Und da darf meine Mascara auf keinen Fall fehlen.
***
In der großen Pause sitze ich im Oberstufenraum und warte bis sich alle aus meiner Clique versammelt haben, denn schließlich hat Rob ihnen so einiges zu erklären. Ich bin mir sicher, dass sie damals genauso enttäuscht von ihm waren, wie ich, und deswegen freue ich mich auf die Zeit, die mich nach all dem Chaos erwartet. Auch wenn ich Rob gesagt habe, dass er ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählen muss, da es etwas sehr persönliches ist, will er es dennoch machen, denn schließlich waren es auch seine Freunde.
Und während sich alle, Stück für Stück, versammeln und Rob dann anfängt es ihnen zu erklären, kann ich nicht anders, als lächelnd zu ihm zu schauen. Ich bin so unfassbar stolz auf ihn. Dass er das alles geschafft hat und bereits darüber reden kann, denn so ein Thema ist nicht einfach. Jeder wird irgendwann mit dem Tod konfrontiert, die einen früher und die anderen später.
Ich denke, das ist etwas, was uns alle gleich macht. Der Verlust von Menschen, die alles für uns waren. Und egal wie schmerzhaft es klingen mag, irgendwann verlieren wir alle unsere Eltern. Manche bei der Geburt, manche ein paar Jahre später, manche bei einem Streit, manche beim Auseinanderleben, manche im Kopf und einige haben unfassbares Glück und können die Zeit mit den Eltern sehr lange schätzen. Auch wenn es seltene Fälle gibt, in denen die Kinder zuerst sterben, werden sie wahrscheinlich im Laufe des Lebens trotzdem mit dem Tod konfrontiert. Vielleicht vom Tod der Großeltern. Vielleicht sind die Großeltern aber auch schon gestorben, bevor man jemals das Licht der Welt erblickt hat. Vielleicht hatten die eigenen Großeltern nie die Chance zu erfahren, was für tolle Enkel sie bekommen habe. Und irgendwie macht mich das traurig.
Genau wie der Gedanke, dass ich nie erfahren werde, wie meine Großeltern waren. Ich würde gerne zu ihnen fahren, Kekse essen und Tee trinken, während sie mir von ihrem Leben erzählen. Während sie mir sagen, wer ihre erste große Liebe war. Was ihre erste Erfahrung mit dem Tod war. Wie sie damals in der Schule waren. Und wie sehr sie das Leben genossen haben. Ich möchte, dass sie mich anstrahlen, mit Tränen in den Augen und mir sagen, dass ich noch so viele schöne Dinge erleben werde. Dass das Leben so unfassbar toll ist. Doch das kann ich nicht, denn auch meine Großeltern sind gestorben, bevor ich zur Welt kam.
Die Mutter meines Vaters war die einzige, die mich je zu Gesicht bekommen hat, jedoch kann ich mich nicht daran erinnern. Und genau da fängt das Vergessen bereits an, ohne dass ich einen Einfluss darauf habe. Denn ich habe vergessen, wie sie war. Ich war zu jung, um zu realisieren, wie kostbar die Zeit doch ist. Wie dringend ich diesen Moment hätte abspeichern sollen. Doch der Moment wurde vergessen, einfach so. Er war wie Sand in meiner Hand, der mir irgendwann aus meinen Fingern gerinnt ist.
Ich sehe zu Lina, die schluchzend die Hand vors Gesicht hält. Ich lege meinen Arm um sie, während sie sich fallen lassen kann. Wir beide kannten Robs Vater sehr gut, er war ein toller Mann. Und in mir schmerzt der Gedanke, dass man sich nicht für immer an ihn erinnern wird. Dass man sich nicht für immer an uns erinnern wird. An meine Freunde, an meine Familie. Irgendwann wenn wir alle gestorben sind, wird niemand wissen, dass es eine Maja auf der Welt gab, die ihr Leben abgöttisch geliebt hat.
Doch jeder muss sich irgendwann damit auseinandersetzen. Es ist ein Teil des Lebens, den man akzeptieren muss. Vielleicht werde ich irgendwann auch von allen Menschen vergessen. Vielleicht vergesse ich ja sogar jemanden. Aber das Risiko gehört zum Leben dazu, denn schließlich ist das Leben am Ende immer tödlich.
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