AKT V

Es war einmal eine Mary Sue, die fiel in ein tiefes brennendes Loch. Stumme Tränen glitten über ihre Wangen, als ihr einziger Freund ihre Hände löste und ihr den Todesstoß gab. Ihr Leben war kurz gewesen, höchstens ein paar Minuten lang und genauso kurz und langweilig würde auch ihr Tod sein, wenn sie in den Fluten des Vergessens ertrank.

Bitte rette mich, denkt Mary verzweifelt, bitte, bitte rette mich. Und sie wird gerettet, verdammt noch mal, auch wenn sie eine Dramaqueen ist, denn es war einmal ein hartnäckiger Prinz mit kupferroten Haaren und lächerlich großen Ohren, der immer zur Hilfe eilte, wenn Mary ihn brauchte. Ha! Überraschung!

„Schnuffel!", ruft Mary entzückt. Ihr Prinz (er hat jetzt zwei schicke Engelsflügel) nimmt sie an der Schulter und zieht sie hoch ins Freie. Gern geschehen, Mary!
„Nein! Das geht nicht!", gröhlt der Abgrund und ein furchteinflößendes harpienähnliches Monster mit modrigen Klauenhänden taucht aus seinen Tiefen und schnappt nach Marys Fußgelenken.

„Das geht sehr wohl", krächze ich und platziere mich keck am dünnen Rand des Abgrunds, „denn es war einmal eine flauschige blaue Eule, die das Medium des Erzählers war und dann selbst zum Erzähler wurde! Schon bemerkt?"

Demonstrativ rolle ich mit den Augen. „Mir ist es jedenfalls nicht sofort aufgefallen. Als du Mary und mir die Macht des Erzählens gabst, war dir nicht bewusst, dass du einen Fehler gemacht hast. Du gabst uns alle Macht über den Verlauf der Geschichte und wurdest dadurch selbst zur Figur! Die Frage ist, wenn wir alle Figuren sind, wer ist dann der Erzähler?"

Das Monster im Abgrund faucht und zischt mich an. Ich bin der Erzähler, einzig und alleine ich, das Monster im Abgrund, Herrscher über Sprache und Ordnung!

Das kümmert mich, die blaue Eule, kein bisschen. Ich öffne den Schnabel und verkünde: „Es war einmal ein Erzähler, der sich von gesellschaftlichen Erwartungen erdrücken ließ und so hohe Forderungen an seine Freunde stellte, dass er sie zu zerquetschen drohte. Doch dann tat er einen dummen Fehler und kam seiner Aufgabe als Erzähler nicht mehr nach, wo es doch seine Berufung war! Stattdessen nutzte er schamlos seine Freunde aus, weil er sich über sie erhaben fühlte, weil er blind vor Stolz und Vorurteil war und ehe er sich versah, waren seine Freunde mächtiger als er. Sie verbannten ihn für alle Ewigkeit in die Gestalt eines lila Hasen, sodass er-"

„Nein! ", schreit das Erzählermonster.

„- bis zum Ende aller Tage-"

„Nein!"

„- eine einfache Figur bleiben würde!"

„Nein!", wütet das Monster, „Du kannst nicht-"

Doch, die flauschige blaue Eule kann, sogar sehr gut. Die Harpiengestalt, die eben noch der Erzähler gewesen ist, schrumpft in sich zusammen. Lila Fellbüschel wuchern über ihren Körper und aus ihrem spitzen Maul ragen zwei übergroße Schneidezähne. Der Abgrund schließt sich unter ihr. Die Felsen färben sich grün, werden spitzer und dünner und schließlich stehen sie wieder auf der Wiese mit dem einsamen Felsen, auf dem ich es mir bequem mache. Mein Gefiedert glänzt in der Sonne. Gebieterisch neige ich den Kopf. Mary kräuselt die Nase.

„Was ist das denn für ein komischer Geruch?", fragt sie irritiert.

„Vanille", antwortet Prinz Kunibert.

„Dein Prinz riecht immer so", erkläre ich, „Der alte Erzähler vergaß nur immer, dass es noch andere Sinne als das Sehen und Hören gibt."

„Ich bin immer noch da!", zeterte der lila Hase und hüpft mit ausgestreckten Krallen am Stein auf und ab. „Ich werde euch kriegen, ich werde euch vernichten!"

„Bild dir nichts ein!", seufze ich, „Du bleibst hier auf dieser Wiese und wir gehen zurück in Marys Zimmer. Deine Geschichte ist vorbei."

Sprachlos bleibt der lila Hase zurück und die Helden betreten den Pflastersteinweg, der sich in Treppenform vor ihnen aufbaut. Mary und Kunibert haben überglücklich die Arme verschränkt und ich schwirre anmutig über ihren Köpfen umher. Es ist praktisch der Erzähler zu sein! Man sieht immer gut aus, egal was man tut.

Je höher wir steigen, desto durchscheinender wird das Blau des Himmels und schließlich treten wir aus der Atmosphäre der Wiese in die ewige Nacht des Weltraums. Der Weg führt uns vorbei an pinken Schafen, die unkontrolliert und schwerelos durchs All kreiseln. Als sie die drei Wanderer erblicken, blöken sie erfreut und machen Kaugummiblasen.

„Ich fürchte, ich muss hier ein wenig aufräumen. Wenn ich nur an die vielen Plottlücken denke...", meine ich verlegen und halte dem Paar die Türe auf, die jetzt zur einen Hälfte zartrosa und zur anderen Hälfte kupfergrün gestrichen ist.

„Ach, eigentlich finde ich es schön so", sagt Mary verträumt und winkt ihren Schafen zum Abschied. Kunibert, der bereits ins Zimmer stolziert ist, stößt einen Ausruf der Verwunderung aus: „Verehrteste, du lebst ja in einem Schloss!"

„Tu ich das?", fragt Mary und erntet ein freundliches Zwinkern von mir. Sie jauchzt, packt die blaue Eule und gibt mir einen Kuss auf den flauschigen Kopf bevor ich sie aufhalten kann. „Du bist der beste Erzähler von allen, Schnuffel!"

„Natürlich, natürlich", schuhue ich und plustere verlegen meine Federn auf. „Und jetzt husch, lauf zu deinem Prinzen, Macciata. Wenn du dir einen Wecker stellst, schaffst du es morgen vielleicht sogar in die Schule!"

„Vielleicht", sagt Mary verschmitzt und drückt ihren Freund ein letztes Mal. Dann folgt sie Kunibert und stößt ebenfalls einen spitzen Schrei aus.

„Eine Mall! Jetzt kann ich shoppen bis ich umfalle!", höre ich sie noch rufen, dann tapse ich zurück über den Pflastersteinweg. Wohin, das weiß ich noch nicht genau. Mal gucken, was so erzählt werden will.

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