(4) Guter Tipp
Poppy
Offensichtlich hatten die Lawsons sich nicht nur um Rosie, sondern auch um die Beerdigung gekümmert. Die Särge waren über und über mit Blumen bedeckt und es standen diverse gerahmte Fotos von ihren Eltern in der kleinen Kapelle. Sie sahen glücklich aus und hatten für die Kamera gelacht. Poppy hoffte, dass das die Bilder wären, die sich für die Ewigkeit in ihr Gedächtnis einbrennen würden. Erneut stiegen ihr die Tränen in die Augen. Verdammt.
Während sie versucht hatte, sich auf die Worte des Pfarrers zu konzentrieren, war das Mädchen neben ihr auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht als ob sie Flöhe hätte. Es war eine Sache ein rubinrotes Kleid zu einer Beerdigung zu tragen, das den Busen kaum bedeckte und nicht mal bis zu den Knien reichte. Aber sich in die erste Reihe zu schleichen und sie zu stören, während sie verzweifelt versuchte, sich an dem Gedanken festzuhalten, dass sie es irgendwie überstehen würde, ihr Familie verloren zu haben, war einfach nur grausam.
Sie hatte das Mädchen angestarrt, aber offensichtlich hatte sie davon keine Notiz genommen. Und dann hatte sie den Grund für das merkwürdige Verhalten entdeckt. Der Kerl zu ihrer Rechten hatte seine Hand auf ihren Schoss gelegt und träge Muster auf ihre Beine gezeichnet, während er seine Hand immer höher und höher schob. Sie war außer sich gewesen vor Wut. Wie konnte man nur so respektlos sein?
Gerade als sie den Mund öffnen wollte, um die beiden zurecht zu weisen, traf sie seinen Blick. Ihr Herz klopfte wild als sie realisierte, dass es sich bei dem Kerl um Levi handelte.
Es stellte sich heraus, dass er sich nicht im Geringsten um die Gefühle anderer kümmerte, denn er besaß nicht einmal genug Anstand zu erröten. Wie konnte er es wagen?
Falls sie sich vorher nicht sicher gewesen war, war sie es nun definitiv: er war ein arrogantes Arschloch. Und dieses Verhalten würde sie ihm nie verzeihen.
Als die Gäste sich nach der Trauerfeier und dem anschließenden Begräbnis verabschiedet hatten, fand Poppy sich allein vor den Gräbern ihrer Eltern wieder. Sie fiel auf die Knie, während die Tränen auf ihr Kleid tropfte. Die Kälte stieg ihr in die Knochen. Trotz der langen Ärmel ihres Kleides begann sie zu zittern.
Natürlich wusste sie, dass Kinder ihre Eltern in der Regel überlebten, aber sollte sie denn in aller Ernsthaftigkeit mit 17 Jahren zur Waise werden? Glücklicherweise würde sie in ein paar Tagen volljährig werden, sodass sie sich keine Gedanken um Sozialarbeiter und Jugendämter machen musste. Jedenfalls nicht für sie selbst. Aber sie musste Rosie zu sich holen.
Eine leichte Hand auf ihrer Schulter ließ sie ihren Blick heben.
"Steh auf, Süße", bat Shirley Lawson. "Ich weiß, dass es weh tut. Mir fehlen sie auch so sehr."
Poppy glaubte nicht, dass Mrs. Lawson sich vorstellen konnte, wie es war allein zu sein. Oder vielleicht konnte sie es doch. Ihre Ehe quoll nicht unbedingt über vor Liebe. Und ihre Söhne waren, soweit sie wusste, über die Jahre von zahlreichen Nannies erzogen worden.
Und sie schätzte, dass genau das auch auf Rosie zukam, wenn sie sie bei ihnen ließe. Sie würde in einem schicken Haus leben, aber sie würde nicht geliebt werden. Rosie war die einzige Familie, die Poppy noch hatte und sie hatte die Absicht, das kleine Mädchen wissen zu lassen, dass sie jeden Winkel ihres Herzens besaß.
Poppy erhob sich und blickte in Shirleys besorgtes Gesicht. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt, was gar nicht zu ihrem schicken Auftritt passen wollte.
"Wir müssen über Rosie sprechen."
"Natürlich. Aber glaubst du wirklich, dass jetzt ein guter Zeitpunkt für dieses Gespräch ist?", fragte Shirley sanft.
Poppy ließ ihren Blick zurück zu den Gräbern gleiten und fühlte neue Tränen auf ihren Wangen hinab rollen. Verdammt, was für ein Häufchen Elend sie heute war. Wenn sie ihnen jetzt erzählte, dass das sie sich um Rose kümmern wollte, würden sie denken, dass sie nicht fähig wäre. Sie musste sich aufraffen, wenn sie das durchziehen wollte.
"Morgen", sagte sie mit ihrer verbliebenen Kraft.
"Komm zu uns. Dann kannst du Zeit mit ihr verbringen und danach reden wir."
Als sie zustimmend nickte, zerbrach sie sich bereits den Kopf darüber wie sie die Lawsons von ihren Plänen überzeugen sollte.
Am nächsten Tag war Poppy wie für ein Business Meeting gekleidet. Und das war es ja gewissermaßen auch.
Abbi hatte ihr geholfen die passende Garderobe auszuwählen. Obwohl Poppy sich wohlfühlen wollte, wusste sie, dass sie einen guten Eindruck hinterlassen musste.
Daher hatte sie sich für ein hellbraunes Langarmshirt mit einem taillierten weißen Blazer entschieden, den Abbi in ihrem eigenen Kleiderschrank wieder entdeckt hatte. Das locker sitzende Oberteil hatte sie vorn in den schwarzen Skinnyjeans festgesteckt und dazu passende kamelfarbene Ankleboots ausgewählt. Mit Ausnahme des Concealers, den Abbi gebraucht hatte, um Poppys Augenringe verschwinden zu lassen, entschied sich Poppy gegen Makeup und stattdessen für ihre Brille. Vielleicht würde sie den Blick von ihren noch immer sichtbaren Augenringen lenken.
Bevor sie das kleine Apartment verließen, zog Abbi Poppys Haare schnell in einen unordentlichen Dutt. Da Poppy und ihre Eltern nie ein Auto besessen hatten, bot Abbi ihr an, sie zu den Lawsons zu fahren.
"Alter Schwede, ist das riesig", murmelte sie als sie die Einfahrt entlang fuhr.
"Ich weiß."
"Ich wusste ja, dass sie reich sind. Aber sie müssen geradezu widerlich reich sein."
Poppy zuckte mit den Schultern. "Wahrscheinlich. Ihr Geld ist mir egal. Ich will nur sicher gehen, dass Rosie in einem liebevollen Zuhause aufwächst. In meinem, bestenfalls."
"Das wird schon klappen. Mach dir keine Sorgen, Poppy."
Poppy kletterte aus dem Wagen und Abbi fuhr langsam davon. Bedächtig sah sie ihr nach während sie zur Eingangstür lief. Noch bevor sie klopfen konnte, öffnete eine ältere Frau die Tür. Als ihre Blicke einander begegneten, erkannte Poppy die Haushälterin, die vor langer Zeit das Kindermädchen der Lawson-Jungs gewesen war.
Sie hatte sie ein paar Mal getroffen, als ihre Eltern sie überzeugt hatten, sie zum Dinner zu begleiten. Der Gedanke ließ sie sich wieder einsam fühlen. Aber sie zwang sich, diese Gedanken zu verdrängen. Jetzt war nicht die Zeit dafür.
"Hallo, Camila. Schön, Sie wiederzusehen."
Die ältere Frau lächelte sie an und winkte sie herein. "Kommen Sie rein, Miss Hall."
"Nennen Sie mich doch bitte Poppy."
"Natürlich." Sie griff nach Poppys Händen und drückte sie kurz. "Ich möchte dir mein Beileid aussprechen. Deine Eltern waren so liebe Menschen. Immer freundlich und nett."
Die Tränen stiegen ihr erneut auf und sie blinzelte sie fort. Da müsste Camilas Aufmerksamkeit erregt haben.
"Verzeih mir. Ich wollte dich nicht traurig stimmen. Rose wartet in ihrem Zimmer auf dich. Es ist oben. Soll ich dich begleiten?"
"Ja, bitte. Hast du dich um Rosie gekümmert? Ich weiß, dass du Kale und Levi versorgt hast, als sie kleiner waren."
Camila führte Poppy durch den großen Wohnbereich, vorbei am Esszimmer, die Treppe hinauf. "Ja, habe ich. Sie ist ein entzückendes Ding. Aber die Lawsons haben zusätzlich eine Nachtschwester eingestellt, weil ich auch nicht mehr die Jüngste bin."
"Oh, das wusste ich nicht. Danke, dass du dich um sie kümmerst."
Camila schüttelte ihren Kopf, als wolle sie sagen, nicht dafür.
Als Poppy die letzten Stufen erklomm, versuchte sie sich an den Grundriss des Obergeschosses zu erinnern. Wenn sie nach rechts ging, würde sie auf Kales Zimmer stoßen. An dem angrenzenden, offenen Familienbereich vorbei lag Camilas Zimmer.
Die erste Tür auf der linken Seite der Treppe musste in Levis Spielzimmer führen. Sie bogen links im die Ecke. Hinter der ersten Tür auf der linken Seite befand sich ein weiteres Zimmer von Levi, sein Schlafzimmer. Wenn sie richtig lag, verband ein kleines Badezimmer seine beiden Räume miteinander. Camila ging an beiden Türen vorbei und stieg drei kleine Stufen hoch. Sanft öffnete sie die Tür zu einem Zimmer, dass vermutlich derzeit Rosies Reich war.
Poppy blieb im Türrahmen stehen und bewunderte den Raum. Es war das niedlichste Kinderzimmer, das sie je gesehen hatte. Neben der Tür, durch die Camila das Zimmer betreten hatte, stand eine Kommode mit Rosenknospen als Griffe und einer weichen Wickelunterlagen mit einem rosafarbenen Bezug.
Die Wand dahinter war mit großen Rosenblüten in dem zartesten Pastellfarben bemalt. Gegenüber der Tür lag ein großer Langflorteppich, neben dem diverse Körbe mit Babyspielzeug standen. Poppy fragte sich, wohin die beiden Türen neben dem Spielbereich führten.
Als sie ihren Kopf nach links drehte, entdeckte sie ein weißes Babybett. Auf dem Laken mit Blumenmuster stand groß Roses Name. Über dem Bett hingen drei gerahmte Bilder mit einem Kaninchen, einem Fuchs und einem Waschbären, die jeweils einen Blumenkranz auf dem Kopf trugen.
Über dem Kopfende hing eine feines Mobile mit rosa- und goldfarbenen Rosenblüten. Neben dem Bett stand unter einem rosa Mückennetz ein moderner Schaukelstuhl.
Das Zimmer war alles, was ein Mädchen sich nur erträumen konnte. Erneut spürte Poppy die Tränen in ihre Augen steigen. Es war mehr, als sie jemals für Rosie hätte tun können.
Was wäre, wenn sie ein besseres Leben führen würde, wenn sie hier bliebe? Sie würde sich nie Gedanken um Geld machen müssen, nie für ein Auto jobben müssen, oder unendlich viele Nachtschichten für ihre Studiengebühren übernehmen müssen. Poppy konnte damit für sich selbst leben, aber wer war sie, Rosie diesen Reichtum hier wegzunehmen?
Aber würde eine sorglose Jugend eine Kindheit ohne liebevolle Eltern oder wenigstens eine liebende Schwester aufwiegen?
Poppy war unsicher aber dennoch fest entschlossen diese Gedanken vorerst beiseite zu schieben, als eine junge Frau aus einer der Türen kam. Hinter der Tür verbarg sich allem Anschein nach ein kleines Badezimmer.
Die junge Frau trug ein winziges Bündel auf dem Arm und lächelte Poppy aufmunternd an.
"Hi, ich bin Dakota, die Nachtschwester. Shirley bat mich heute auf Abruf zu bleiben, damit wir uns kennenlernen."
"Hallo, Dakota. Ich bin..."
"Miss Hall, ich weiß. Wollen Sie sie halten?", fragte sie mit einer Kopfbewegung zu dem Baby, das auf ihrem Arm schlief.
Poppy nickte stumm. Dann räusperte sie sich. "Nenn mich einfach Poppy."
"Klaro. Tut mir leid, dass Rose gerade schläft. Soll ich sie wecken?"
"Um Gottes Willen, nein. Mom sagte immer, man solle schlafende Babys nicht wecken." Ihre Stimme brach und sie zwang sich zu einem Lächeln. "Ich muss ihr damit wohl vertrauen."
Dakota lächelte aufmunternd. "Guter Tipp."
"Warum setzt du dich nicht in den Schaukelstuhl und kuschelst mit ihr? Ich gebe euch ein bisschen Zweisamkeit. Wenn du Fragen hast, ruf einfach. Ich bin nebenan", sagte Dakota und deutete auf die zweite Tür.
"Vielen Dank, Dakota."
"Sehr gerne."
Poppy spürte eine kleine Hand auf ihrer Schulter. "Ich gehe wieder runter. Du kommst einfach nach, wenn du fertig bist. Ich begleite ich dich dann in Mr. Lawsons Büro. Shirley sagte, du sollst dir wirklich alle Zeit der Welt lassen. Sie haben alle anderen Termine für heute abgesagt."
Poppy nickte und ging mit Rosie zu dem Schaukelstuhl hinüber. Vorsichtig ließ sie sich in den Sitz sinken. Als sie bequem saß und Rosie sicher auf ihrem Arm lag, spürte sie Rosies leichte Atemzüge und das noch leichtere Schlagen ihres kleinen Herzens. Eingelullt von den beruhigenden Geräuschen ließ sie ihren Kopf zurück fallen und schloss die Augen.
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