(20) Schmerztabletten

Poppy

Verdammt, das war irgendwie aus den Fugen geraten. Sie hatte Levi nicht so plump von sich stoßen wollen. Sie hatte ihren Schutzschild fallen lassen und ihm von ihren Lesegewohnheiten erzählt. Diese Information hatte sie bisher nicht mal mit Abbi geteilt. Am Ende des Gesprächs hatte sie all ihre Sorgen für einen Moment vergessen und ihm einfach nur eine schnelle Retourkutsche gegeben, ohne daran zu denken, wie diese sich auf das zarte Band auswirken würde, das sich heute zwischen ihnen entwickelt hatte. Sie war ein Idiot.

Als sie beobachtete, wie Levi ohne einen Blick zurück die Treppe zur Wohnebene hinauf stürmte, sammelten sich alle unterdrückten Tränen des Vormittags in ihren Augen.

Sie zwang sich stark zu bleiben bis sie allein war und floh in ihr Zimmer. Dort würde man sie in Ruhe lassen. Als sie ankam und die Tür leise hinter sich schloss, konnte sie die Tränen nicht länger zurück halten. Sie hatte es versaut. Als sie der Ehe zugestimmt hatte, hätte sie nie gedacht, dass sie mit Levi jemals eine ernsthafteste Unterhaltung wie die heutige führen würde. Es gab ihr einen Eindruck davon, was sie von einer echten Beziehung erwarten konnte.

Ein neuer Schwung Tränen tropfte von ihren Wimpern als sie sich unter die Decke verkroch und auf den erlösenden Schlaf wartete, der sie vergessen lassen würde. Wenigstens für einen Moment.

Das Läuten einer Glocke brachte Poppy dazu, ihre geschwollenen Augen zu öffnen. Vermutlich erzählte ihr ganzes Gesicht die Geschichte ihres stundenlangen Weinens. Auf gar keinen Fall würde sie runter gehen und mit ihren angeblichen Schwiegereltern abendessen. Keine Chance. Levi schien sich auch nicht zu bewegen. Falls er überhaupt noch in seinem Zimmer war. Nachdem was sie mitbekommen hatte, war es dort verdächtig still gewesen. Möglicherweise war einfach gegangen als sie endlich etwas Schlaf gefunden hatte.

Leise Fußabdrücke näherten sich ihrer Tür. Poppy ging davon aus, dass Shirley die Treppe hinauf gekommen war, weil keiner von ihnen auf die Dinnerglocke reagiert hatte. Poppy hatte nicht mit ihr gesprochen, seit sie gestern Abend weit nach dem Abendessen nach Hause gekommen waren. Als sie heute Morgen mit Levi das Haus verlassen hatte, waren Shirley und Douglas bereits zu Arbeit aufgebrochen. Das hatte Camila ihr jedenfalls gesagt.

Shirley stoppte vor ihrer Tür und klopfte leise.

„Poppy?“

Sie zögerte. „Ja?“

„Was ist los mit euch beiden? Kommt ihr beide nicht zum Essen? Kale sagte, ihr wart sehr früh Zuhause. Zu früh für einen Schultag.“

Sie schluckte alle Flüche runter, die ihr auf der Zunge lagen. Von allen Tage musste sie ausgerechnet den heutigen auswählen, um sich wie eine richtige Mutter zu verhalten. Langsam ging Poppy zur Tür und ermutigte dabei ihr Hirn, sich zügig eine Ausrede einfallen zu lassen. Aber als sie die Sorge auf Shirley’s Gesicht sah, entschied sie sich, die Wahrheit zu erzählen.

„Ja, das... Ich hatte einen kleinen Unfall in der Schule. Die Krankenschwester hat mich zum Verbandswechsel ins Krankenhaus geschickt.“ Poppy sah keinen Grund ihr die ganze Geschichte zu erzählen und sie damit zu beunruhigen. Aber so wusste Shirley immerhin grob was geschehen war. „Levi hat mich dort abgeholt und ich habe auf dem Heimweg etwas Dummes gesagt. Aber ich schwöre, dass ich ihn damit nicht verletzen wollte. Lass mich mit ihm sprechen. Er muss Hunger haben.“

Sie hatten schließlich noch vor der ersten Stunden die Schule verlassen und wenn er zwischendurch nicht in der Küche gewesen war, hatte er seit dem Frühstück nichts gegessen. Und ein großer Kerl wie er musste nach so einem Tag kurz vor dem Verhungern stehen.

„Ach, Poppy, ich bin mir sicher, dass es nicht so schlimm ist, wie du denkst. Diese Beziehung ist neu für ihn. Vielleicht hat er einfach nur seine eigenen Sorgen, die gar nichts mit dir zu tun haben.“

„Ich hoffe auf jeden Fall, dass du recht hast. Obwohl die Wahrscheinlichkeit eher gering ist. Ich gehe mich entschuldigen und schicke ihn euch runter.“

„Was ist mit dir?“

Die Schultern in einer entschuldigenden Geste hebend entschied sie sich für eine kleine Lüge. Sie hatte keine Geduld, sich Shirley heute zu erklären. „Die Schmerztabletten verringern den Appetit. Und ich bin wirklich müde. Tut mir leid.“

Shirleys Blick flog über Poppys Körper, als ob sie nach Hinweisen suchte, die ihr die Wahrheit verrieten. Wenn sie bei der Durchsicht der Krankenhausunterlagen und Rechnungen aufmerksam gewesen wäre, hätte sie die Lüge unverzüglich erkannt. Aber scheinbar war sie keine besonders gründliche Rechnungsprüferin. Oder Poppy tat ihr Unrecht und sie überging die Lüge großzügig. Jedenfalls nickte Shirley zustimmend.

„Schlaf gut, Poppy. Hoffentlich fühlst du dich morgen besser. Wenn nicht, bleibst du einfach noch einen Tag Zuhause. Ich kann dir eine Entschuldigung schreiben, wenn du magst.“

Als Shirley das Obergeschoss verließ, betrat Poppy den Flur, um ihr Versprechen einzulösen. Sie klopfte an Levis Tür.

„Kein Hunger.“

Sie seufzte. „Natürlich hast du Hunger. Hör auf so stur zu sein und iss mit der Familie. Sie warten schon.“

„Ich hab gesagt, dass ich keinen Hunger habe.“

„Und ich sage Blödsinn. Und jetzt beweg dich“, schrie sie beinahe vor Ungeduld. Verflogen war ihr Vorsatz, sich bei ihm zu entschuldigen. Es war ja nicht so, als hätte sie sein Zimmer verwüstet, seine kostbare Xbox verschenkt und ihn vor seinem Schwimmteam bloßgestellt. Sie hatte lediglich einen unpassenden Kommentar abgegeben, verdammt noch mal. 

„Okay. Aber weißt du was? Du kannst einem richtig auf den Sack gehen.“

Okay? Hieß das, er würde zu seiner Familie gehen? Perfekt. Sie rannte in ihr Zimmer und schloss die Tür. Es dauerte nicht länger als drei Wimpernschläge bis Levi zu ihrer Tür stampfte.

„Poppy? Wo bist du?“, grollte er. „Du hast gerade gesagt, sie warten auf uns.“

„Ich habe nur gesagt, dass sie warten. Ich meinte, sie warten auf dich.“

„Aber sie warten auf uns. Komm schon.“

„Geh vor.“

„Poppy, mach die Tür auf, bevor ich sie eintrete.“

Sie grinste. „Das könntest du nicht mal, wenn du es wolltest.“

„Guck genau hin“, knurrte er, als er zur Demonstration gegen die Tür hämmerte. Sie wackelte gefährlich und für einen Moment befürchtete Poppy, Levi hätte sie mit seinem Stoß aus den Angeln gehoben.

Sie schrie erschrocken auf. „Lass das, Levi. Ich bin erschöpft von allem, was passiert ist. Ich werde mich hinlegen und versuchen, etwas zu schlafen.“

Durch die Tür hindurch hörte sie sein Seufzen. „Hör mal, Poppy. Wenn es wegen der Unterhaltung im Wagen ist, tut es mir leid, dass ich so davon gestürmt bin.“

Was? Er dachte, sie wäre sauer auf ihn. „Ich...“

Was sollte sie ihm sagen? Sie öffnete die Tür und sah ihn an. Seinen rechten Arm hatte er gegen den Türrahmen gelehnt und sein Kopf hing trostlos runter. Er sah so erschöpft aus wie sie sich fühlte.

Sie öffnete ihren Mund, doch die Worte kamen nicht heraus. Sie schluckte und versuchte es erneut. „Ich bin nicht böse auf dich. Ich war doch diejenige mit der dummen Antwort. Ich sollte mich bei dir entschuldigen. Und es tut mir wirklich leid“, flüsterte sie. „Und jetzt geh bitte etwas essen. Du musst am Verhungern sein.“

Er nahm ihre Hand. „Du doch auch. Komm mit. Bitte.“

„Ich bin wirklich kaputt und möchte nur noch ins Bett.“

„Alles klar. Träum schön, Schlafmütze.“

Sie sah ihm nach als er die Treppe herunter ging. Dann schloss sie ihre Zimmertür.

Ganz im Gegensatz zu dem, was sie Shirley erzählt hatte, knurrte ihr Magen vor Hunger. Dennoch konnte sie nicht die erforderliche Willenskraft aufbringen, sich zum Essen zu ihrer falschen Familie zu gesellen und sich den Fragen über den Vorfall in der Schule zu stellen. Wenn sie jetzt ins Bett ginge, würde sie innerhalb einer halben Stunde schlafen und am nächsten Morgen konnte sie dann vielleicht genug Selbstkontrolle aufbringen um Levi und seiner Familie entgegenzutreten. Und echte Unterhaltungen zu führen. Sie ging ins angrenzende Bad und schloss die Tür auf Levis Seite zu. Poppy entschloss sich für ein T-Shirt zum Schlafen. In diesem Haus wusste nun eh jeder, dass sie Verbrennungen erlitten hatte. Bis auf Kale. Aber ihn würde man sicherlich beim Dinner darüber informieren. Mit T-Shirt und Panties bekleidet, kletterte Poppy auf ihr Bett und streckte sich unter dem Laken aus.

Sie musste in dem Moment eingeschlafen sein als ihr Kopf auf das Kissen sank, denn sie konnte sich an nichts danach erinnern als ein Klopfen an ihrer Tür sie unsanft aus dem Schlaf riss.

Wer auch immer es war, wartete nicht auf eine Antwort. Die Uhr auf dem Nachttisch verriet ihr, dass eine Stunde vergangen war. Die Tafel war sicherlich inzwischen aufgehoben.

„Hey Poppy“, vernahm sie eine weiche, männliche Stimme. Eine, die nicht zu Levi gehörte.

Sie drehte ihren Kopf und sah Kale langsam ihr Zimmer durchqueren. Er balancierte ein Tablett in den Händen.

„Kale. Was machst du denn?“

„Hey, Schätzchen. Du konntest vielleicht Mom und ihn hinter’s Licht führen“, er spuckte die Worte fast, „aber mir machst du nichts vor. Ich konnte deinen Magen praktisch bis unten ins Esszimmer knurren hören.“

Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein. Wie ich schon deiner Mom gesagt habe, die Tabletten verringern den Appetit.“

„Das ist eine Lüge, Schätzchen. Du hast eine andere Sorte verschrieben bekommen, weil das die Nebenwirkungen der alten Medikamente war und du das echt nicht gebrauchen kannst. Die neuen sind unter Ärzten für gesteigerten Appetit und daras resultierende Gewichtszunahme bekannt.“

„Du hast scheinbar deine Hausaufgaben gemacht. Weder Shirley noch Levi scheinen das zu wissen.“

Er verdrehte die Augen. „Deren Problem.“ Dann verzogen sich seine Lippen zu einem kleinen Lächeln. „Jetzt iss endlich. Du musst genauso verhungert sein, wie dieser Trottel. Er hat nicht viel gefehlt und er hätte die Schüsseln ausgeleckt.“

Kale setzte sich auf die Matratze und stellte das Tablett auf seinen Schoß. Neugierig beäugte Poppy das Essen und griff nach der Gabel. „Glaube ich gerne. Er hat den ganzen Tag nichts gegessen.“

Kurz bevor ihre Finger die Gabel berührten, griff Kale danach und wackelte mit den Augenbrauen.

„Was willst du?“, flüsterte er.

Poppy wusste nicht, was sie davon halten sollte. In seiner Nähe fühlte sie sich anders. Er war das einzige Mitglied dieser Familie, das tatsächlich auf die Menschen um ihn herum achtete. Aber sie wusste langsam nicht mehr, wie sie angemessen auf sein ständiges Geflirte eingehen sollte. Sie wusste, dass er es nicht ernst meinen konnte, aber belangloses flirten hatte nie zu ihren Stärken gehört.

Sie war zu hungrig um auch nur einen weiteren Gedanken ans Essen zu verschwenden, also zuckte sie mit den Schultern. Das Licht ihrer Nachttischlampe war zu schwach um sie erkennen zu lassen, was Kale ihr auf den Teller geladen hatte.

„Oh, du lässt mich wählen? Hier, probier das. Ich fand es himmlisch.“

Er spießte etwa Dunkles auf und hielt die Gabel vor ihr Gesicht. Als sie ihren Mund öffnete, blieb sein Blick daran hängen. Poppy spürte, wie die Hitze in ihre Wangen stieg. Doch was er dann sagte, verhinderte, dass sie sich auf das Wiedererwachen ihrer Geschmacksknospen konzentrieren konnte.

„Wenn du errötest, bist du noch schöner als sonst schon“, sagte er leiser. „Wenn ich dein Mann wäre, könnten mich keine zehn Pferde von dir fern halten. Nachts würde ich dich mit Küssen bedecken und tagsüber bis zum abwinken verwöhnen. Oder andersrum.“

Ihre Blicke trafen sich und Poppy schluckte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Du hast da etwas.“ Er zeigte auf ihren Mundwinkel und streckte die Hand aus.

Als seine Finger ihren Mund berührten, hörte Poppy ein Knurren aus dem Flur. Peinlich berührt sah sie herüber, um zu sehen, wer sie in diesem intimen Moment beobachtet hatte.

„Trau dich nicht, sie noch mal anzufassen, du Penner.“

Kale stellte das Tablett zur Seite und sprang vom Bett. Er hielt die Hände vor die Brust und zwinkerte Poppy an, bevor er sich an Levi vorbei schob.

„Sie gehört nur dir“, hörte Poppy ihn im Flur sagen. „Noch.“

Entsetzt riss sie die Augen auf. Levi ballte seine Hände zu Fäusten. Er schloss die Augen und stieß seinen Atem aus.

„Ist das, wie es laufen wird?“

„Wie was laufen wird?“

„Unsere Ehe. Wirst du mich anlügen und mit anderen Männern flirten, wenn ich nicht daneben stehe?“

Wut kochte in Poppy hoch. Sie breitete sich in ihrem ganzen Körper aus und suchte ein Ventil. „Ich habe nicht geflirtet. Kale hat mir etwas zu essen gebracht.“

„Du hast dich von ihm füttern lassen.“

„Ich...“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. „Ja, das habe ich.“

„Wenn du deine Bedürfnisse befriedigen lässt, sei wenigstens diskret.“

Erneut stieg ihr die Hitze ins Gesicht. „,Wovon sprichst du überhaupt?“

„Ich will nicht, dass du mit Kale rummachst“, knurrte er. „Das ist erniedrigend.“

Unterstellte er ihr allen Ernstes, dass sie versuchte seinen Bruder anzugraben? Zur Hölle mit ihm.

„Weißt du, was erniedrigend ist? Wenn dein Ehemann, derjenige, der sich um dich sorgen sollte, so mit dir spricht. Ich habe nichts falsch gemacht. Es ist nicht meine Schuld, dass Kale sich mit meinen Medikamenten auskennt und du nicht.“

„Du hättest mich bitten können, dir etwas zu essen zu holen. Genau genommen hättest du mich erst gar nicht anlügen sollen. Ich weiß, dass du neue Schmerzmittel nimmst, aber ich habe dich nicht mit der Nase darauf gestoßen. Ich dachte, du hättest deine Gründe hier bleiben zu wollen.“ Er lachte bitter. „Hattest du ja auch.“

Poppy nahm seine Beschuldigungen nicht wahr. Etwas anderes hatte sich ihn ihrem Kopf festgesetzt. „Warte mal. Du wusstest, dass ich gelogen habe?“

Er zuckte teilnahmslos mit den Schultern. „Ich bin heute ins Büro meiner Eltern gegangen und habe mir deine medizinischen Unterlagen durchgelesen.“

„Das sind vertrauliche Dokumente. Du kannst sie dir nicht einfach nehmen, nur weil du neugierig bist.“

„Und wie ich das kann. Du bist meine Frau. Aber da du mir nicht vertraust und es mir nicht selbst erzählst, musste ich mir die Informationen anders holen.“

„Warum fragst du nicht einfach?“

„Woher soll ich wissen, was ich fragen soll, wenn du gar keine Informationen raus rückst? Ich wusste doch bis heute nicht mal, dass du in dem verdammten Feuer überhaupt verletzt wurdest.“

„Statt dich über mich lustig zu machen, hättest du mich einfach fragen können, warum ich immer lange Klamotten trage.“

„Du hättest mir auch einfach den Grund nennen können. Gleich nachdem du mir für meine unsensiblen Witze das Knie zwischen die Beine gerammt hättest.“

Poppy stieß ein ersticktes Lachen aus. „Du hättest gewollt, dass ich das tue?“

„Ich hätte gern die Wahrheit gewusst. So wie ich es heute erfahren habe, war es verstörend. Ich war auf dem Weg ins Krankenhaus krank vor Sorge.“

„Du hast dir Sorgen gemacht?“

„Poppy... Natürlich.“ Er seufzte. „Es tut mir leid, dass ich deine Unterlagen gelesen habe. Ich dachte, wenn du es mir selbst hättest sagen wollen, hättest du es getan.“

„Ich wusste nicht, dass dich das interessiert.“

„Tut es.“

Sie lächelte ihn an und nahm seine Hand in ihre. „Ich habe heute gemerkt, dass ich mich wirklich gern mit dir unterhalte.“

„Das freut mich. Mir geht’s genauso.“ Er stand auf. „Es ist spät. Und ich schätze nach all dem bist du wirklich müde.“

„Ja, bin ich.“

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