(19) Leseliste
Levi
Sobald Poppys Papierkram erledigt war, begleitete Levi sie aus dem Untersuchungszimmer.
"Na los, meine Hübsche."
Der Wartebereich der Notaufnahme war voll, also legte er auf dem Weg zum Ausgang die Hand auf ihren Rücken um sie im Gedränge nicht zu verlieren. Die Sonne schien hell auf sie herab, als sie das Krankenhaus verließen. Obwohl es noch gut zwei Stunden dauern würde, eh sie am höchsten über ihnen stand, strahlte der Asphaltboden bereits jetzt die gespeicherte Hitze ab.
Levi sah Poppy aus dem Augenwinkel an. Nach all dem, was er heute gehört hatte, wollte er ihr unzählige Fragen stellen. Doch er wusste, dass sie sich abschotten würde, wenn er genau diesen Moment dazu wählte. Also entschied er sich vorerst den Mund zu halten.
Aber eins war sicher: Er hatte ein Mädchen mit dem Herz einer Löwin und der Stärke tausender Männer geheiratet. Er hatte noch immer nicht heraus gefunden, warum Poppy Andrea nicht erzählt hatte, dass sie schikaniert worden war und ihre Verletzungen daraus resultierten.
Und er hatte seinen eigenen Augen nicht trauen können, als er gesehen hatte, wie sie ihre Zähne zusammen biss und nicht mehr als ein leises Stöhnen über ihre Lippen kam, als die Krankenschwester ihre Wunden gereinigt hatte. Selbst Erika hatte sie beeindruckt angesehen als nicht eine einzige Träne ihre Wange hinab lief. Poppy war wirklich ein tapferer Krieger.
Obwohl sie ihre Familie verloren hatte, hatte sie die Kraft gefunden für Rose weiter zu kämpfen. Er war tief beeindruckt von ihrer Bereitschaft, ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit für das Leben eines anderen zu riskieren. Doch wie stand es um ihre seelische Verfassung? Was hatte sie im Haus sehen und miterleben müssen? Levi nahm sich vor, seine Eltern dazu zu befragen. Sie wussten sicherlich mehr.
Als sie den Porsche erreichten, öffnete Levi die Beifahrertür und wartete geduldig darauf, dass Poppy einstieg. Langsam ließ sie sich auf den Sitz sinken. Gerade als er dabei war die Tür zu schließen, streckte sie ihre Hand aus um ihn aufzuhalten. Sie sah jedoch nicht zu ihm auf und blieb weiterhin stumm. Es schien als wäre sie tief in ihren eigenen Gedanken versunken.
"Was ist los, Mrs. Lawson?", fragte Levi vorsichtig. Er war unsicher, ob jetzt der richtige Moment für diesen Scherz war. Mit Schrecken stellte er fest, dass seine Stimme rauer klang als beabsichtigt.
Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Er war sich nicht sicher, ob der Name oder der Klang seiner Stimme der eigentliche Auslöser für diese Reaktion war.
"Ich...Danke, dass du dir diese Verlobungsgeschichte ausgedacht hast. Mir hat sie gut gefallen."
Er räusperte sich und zwang sich zu einem Lächeln. "Natürlich hat sie das. Sie passt zu dir."
"Ach ja?"
"Ja. Ich war letztens in deinem Zimmer um dich nach der Sommer-Hausarbeit in Mathe zu fragen. Du warst nicht da, aber dein Laptop war offen und ich habe die Liste der Bücher gesehen, die du dieses Jahr gelesen hast."
Sie errötete. "Oh je..."
Er konnte das leichte Lachen nicht unterdrücken. "Ich hatte keine Ahnung, was das für Bücher sind. Aber als ich sie später gegoogelt habe, ist mir klar geworden, dass du eine Schwäche für alles romantische hast."
"Ich weiß nicht, was ich sagen soll."
"Dabei hab ich noch nicht Mal erzählt, dass ich deine neusten Eintrag gesucht und gelesen habe. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das Buch auf Wattpad gefunden hatte." Er lächelte sie an.
Und heilige Scheiße, darin waren nicht zu wenig heiße Szenen vorgekommen. Es hatte ihn beinahe in den Wahnsinn getrieben zu wissen, dass sie nebenan in ihrem Bett lag und erotische Geschichten, wie die zufällig von ihm ausgewählte, las.
"Ohh..."
Er grinste in sich hinein als er um den Wagen herum ging und auf den Fahrersitz glitt. "Ich verstehe dein Interesse an historischen Romanen und den Geschichten um taube Protagonisten. Und ich kann mir sogar ein bisschen vorstellen, warum junge Frauen auf Werwölfe stehen. Aber was zur Hölle hat es mit den ganzen boyxboy Büchern auf sich?"
Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. "Was hast du getan? Die ganze Liste gegoogelt?"
Er lächelte sie schuldbewusst an. "Sicher."
Ein Stöhnen verließ ihre Lippen. "Warum hast du das gemacht?"
"Ich wollte wissen, worauf ich mich eingelassen habe."
Sie ließ den Kopf in ihre Hände fallen, sodass er ihr Gesicht nicht länger sehen konnte. "Ich kann dir nie mehr in die Augen schauen", murmelte sie durch ihre Finger.
"Wenn das das Einzige ist, was ich über dich herausfinde und nicht auf Anhieb verstehen kann, wird unsere Ehe ein Kinderspiel."
Sie schnaubte, aber sprach kein Wort.
Es war ihm völlig egal, was sie für Bücher las. Nein, es war ihm egal, zu welchem Genre sie gehörten. Seinetwegen konnte sie von einhörnerjagenden Zwergen lesen, die sich zu Serienmördern hingezogen fühlten, bei jeder Tasse Kaffee die Vergangenheit änderten und ständig Kinderlieder sangen.
Er hatte lediglich das Bedürfnis verspürt, einen Teil von ihr kennenzulernen und das Durchgehen ihrer Leseliste hatte sich als guter Anfang angeboten. Aufgrund ihrer Bücherwahl würde er nicht weniger von ihr halten.
"Es war eine ziemlich lange Liste", sagte er um die Stille zu füllen.
"Stimmt. Ich hatte nicht viel zu tun, bis..." Sie räusperte sich. "Bis vor kurzem. Ich hatte alle Zeit der Welt diverse Bücher von meiner zu-lesen-Liste abzuarbeiten."
"Ich verstehe. Aber trotzdem, erzähl mir mehr. Woher kommt die boyxboy Leidenschaft?"
"Ich hab das Gefühl, dass du mich das nie vergessen lassen wirst, oder?"
Verdammt richtig. Er würde es zu seinen Gunsten nutzen. Aber zuerst wollte er alles darüber wissen.
"Nie. Spuck's aus, Aphrodite."
Sie verdrehte die Augen.
"Wir bleiben hier, bis ich die Antwort kenne."
"Das ist peinlich. Aber wenn du's genau wissen willst, ich bin irgendwie da rein gerutscht."
Levi nickte anerkennend. Dann startete er den Motor und lenkte den Wagen vom Parkplatz.
"Wie rutscht man noch mal in das Gay Romance Genre?", fragte er mit ehrlichen Interesse.
Sie seufzte. "Es gab im Internet eine Umfrage über die Genres, die gerne gelesen werden. Als ich die Antworten las, hab ich mich gefragt, warum so viele Frauen Gay Romance mögen. Ich war erst eingeschüchtert von der Idee, fast schon angewidert, aber als ich das erste boyxboy Buch gelesen habe, hat es mich gefesselt."
"Aber was ist es, was dich daran so fesselt? Die Intimität zwischen zwei Kerlen?"
"Nein. Es gibt einfach eine ganz neue Dimension Drama. Für Heteropaare gibt es nur endlich viele Probleme, die ihnen begegnen können."
"Er mag sie, aber sie hasst ihn. Andersrum. Einer ist zu jung, der andere zu alt. Sowas?"
"Ja. Kinder kriegen, verheiratet oder geschieden sein, den Einen gefunden und verloren haben, sich in einen Freund oder Mitbewohner oder Nachbarn verlieben. Arrangierte Ehen. Manchmal eine Kombination aus diesen Dingen. Es ist irgendwann eintönig."
"Okay, aber was ist bei Gay Romance anders?"
"Da gibt es eine ganze Palette mehr Probleme."
Er bog in ihre Straße und wünschte sich, das Gespräch noch eine Weile weiterführen zu können. "Wie das Coming Out?"
"Ja, das auch. Die Charaktere könnten alle Sorgen haben, die wir eben genannt haben. Aber in der Regel weiß einer der Protagonisten noch nicht, dass er homo- oder bisexuell ist. Oder sie haben Angst, es in die Welt hinaus zu posaunen, wie du sagst. Sie müssen erst ihre eigenen Sexualität akzeptieren und sich damit wohl fühlen. Sie auf ihren Wegen zu begleiten ist eine emotionale Achterbahnfahrt."
Levi fuhr den Porsche in die Tiefgarage und schaltete den Motor ab. Er konnte nachvollziehen, warum dieses Geschichten sie ansprachen. Er hatte bisher nicht übermäßig viele Bücher gelesen, aber er konnte sich vorstellen, dass die Autoren bestimmter Genres nach einer Weile nur noch Schema X bedienen konnten.
"Klingt konsequent", sagte er schließlich an Poppy gewandt.
"Nicht, dass ich deine Zustimmung bräuchte, oder so", erwiderte sie sarkastisch.
Ein für ihn nicht identifizierbarer Schmerz brannte ihm in der Brust. Er schluckte angestrengt, obwohl er wusste, dass sie es nicht so meinte. Aber es erinnerte ihn daran, warum sie Zeit miteinander verbrachten. Sie brauchte nichts von ihm, außer der Unterschrift auf der Eheurkunde. Und die hatte sie bereits bekommen. Mehr Interaktion war ihrerseits scheinbar nicht erwünscht. Er würde sich damit irgendwie arrangieren müssen.
"Stimmt."
"Entschuldige", sagte sie leise und griff nach seiner Hand. "Ich wollte nicht unhöflich sein."
"Aber du hast recht. Du brauchst für nichts meine Zustimmung und du schuldest mir auch keine Erklärungen. Ich wollte dich nur besser kennenlernen. Tut mir leid, dass ich dich so verhört habe, obwohl es mich nichts angeht", sage er, den Blick stur nach vorne gewandt.
So sehr er die Wärme ihrer Berührung genoss, entzog er sich ihrer Hand und steuerte geradewegs auf sein Zimmer zu.
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