(18) Ablenkung
Poppy
Gerade hatten die Sanitäter sie in das Untersuchungszimmer gebracht, als Poppy eine bekannte Stimme auf dem Flur hörte.
„Wer kann mir sagen, wo ich meine Frau finde? Poppy Lawson. Sie wurde gerade eingeliefert.“
„Sie ist in Zimmer 3. Das ist dort hinten. Sie können vor der Tür Platz nehmen und warten.“
„Vielen Dank.“
Sie hörte seine Schritte näher kommen und fand Trost in dem Wissen, dass sie nicht gänzlich allein war. Er war vielleicht nicht ihre richtige Familie, aber immerhin war er es dem Namen nach.
„Miss Lawson, wir werden zuerst den Verband abnehmen und dann sehen, wie wir verfahren“, erklärte Dr. Jenkins ihr. Sie war jung. Wenn Poppy schätzen müsste, würde sie tippen, dass die Ärztin direkt von der Uni kam.
„Okay.“
Die Tür flog auf und Levi kam mit wenigen Schritten zu dem Untersuchungstisch herüber. Sein Haar war völlig zerzaust und er sah besorgt aus. Ihr Herz machte einen kleinen Satz. Gerade als sie den Mund öffnete, um ihn zu fragen, warum er hier war, versuchte die Krankenschwester ihn aus dem Raum zu scheuchen.
„Entschudligen Sie, Sir, Sie dürfen hier nicht drin sein. Ich begleite Sie nach draußen.“
„Keine zehn Pferde kriegen mich hier raus. Ich bleibe an ihrer Seite.“
Dr. Jenkins sah sie fragend an.
„Das ist okay. Er ist mein Mann“, flüstere sie.
„Na dann. Sie können sich dort drüben hinsetzen, Mr. Lawson.“
„Heute nicht, danke. Tut mir leid, Doc.“ Er grinste sie schief an und Poppy musste sich ein Lachen verkneifen. Er wusste, wie er mit Frauen umzugehen hatte.
Sie seufzte. „Sie lösen Kopfschmerzen bei mir aus und wir haben noch nicht mal angefangen. Bleiben Sie, wo Sie sind. Hauptsache, Sie stehen mir nicht im Weg.“
Dann konzentrierte sie sich wieder auf Poppy. „Okay, hören Sie mir zu. Wir machen es, wie ich es erklärt habe. Erstmal kommt der Verband runter. Sie konzentrieren sich weiterhin auf tiefe Atemzüge. Sie kennen das. Hören Sie nicht auf zu atmen.“
„Natürlich atmet sie weiter. Warum sagen Sie ihr überhaupt -“
„Hören Sie mal gut zu, Mr. Lawson.“ Die Krankenschwester packte ihn unsanft am Arm. „Sie hatten sicherlich noch nie auch nur die kleinste Verbrennung. Das Abnehmen des Verbandes wird Scheiße weh tun. Verzeihen Sie den Ausdruck. Sie werden jetzt also entweder die Klappe halten und sich in die Ecke setzen oder sich nützlich machen und ihre Frau ablenken. Verstanden?“
„Ich denke, er hat es verstanden“, fiel Poppy dazwischen. Dann wandte sie sich an Levi. „Du kannst draußen warten. Ich schaffe das schon.“
„Auf keinen Fall. Du wirst meine Hand halten.“ Dann beugte er sich zu ihr herunter und flüsterte ihr ins Ohr. „Zerdrück sie, wenn es sein muss. Sie gehört dir.“
Sie lächelte ihn traurig an. Ihr war klar, dass er nur seine Show abzog. Aber als sie nicht nach seiner Hand griff, nahm er ihre und legte seine eigene hinein, bevor er ihre Finger darum schloss.
„Es geht los“, sagte Dr. Jenkins, während sie die äußeren Schichten des Verbands abwickelte.
„Werden Sie bis drei zählen?“, fragte Levi leise. Was für ein Idiot.
Sie war kein Kind mehr. Sie wusste, wie das lief. Dr. Jenkins würde nie bis drei kommen, aber egal welche Zahl sie nannte, es würde höllisch wehtun.
„Mir ist durchaus klar, dass sie es bei -“
Sie wurde von einem scharfen Schmerz unterbrochen.
„Verdammt“, murmelte sie.
„Vielen Dank, Mr. Lawson. Das war eine exzellente Ablenkung.“ Die Ärztin hatte die Nerven, ihm zuzuzwinkern. Poppy schnaubte.
Es gab nichts, das sie mehr verabscheute als nicht die Kontrolle zu haben. Und sie hatte hier ganz sicher nicht die Kontrolle. Irgendwie hatte Levi es geschafft, die Regie im ganzen Raum zu übernehmen und sowohl die Ärztin als auch die Schwester um seinen kleinen Finger zu wickeln.
„Könntest du dich vielleicht ein bisschen entspannen, Kleines? Du brichst mir fast die Finger.“
„Darum hast du mich doch vor nicht mal zwei Minuten gebeten, Schatz“, zischte sie.
Aber als sie sich ihm zu wandte, sah sie, dass er nicht länger ihr Gesicht betrachtete. Er blickte auf ihre verbrannte Haut.
„Alles klar, Poppy. Das sieht nicht allzu schlimm aus. Ich hole Dr. Hamilton, damit er einmal drüber schaut. Dann machen wir die Wunden sauber und legen einen neuen Verband an.“
Dr. Jenkins und die Schwester verließen den Raum und es wurde unbehaglich still. Levi ließ unvermittelt ihre Hand los. Sie fühlte sich kalt an und Poppy erschauderte.
„Heilige Scheiße, Poppy. Warum wusste ich das nicht?“
„Vielleicht hättest du es wissen können, wenn du etwas aufmerksamer gewesen wärst. Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass ich jeden zweiten Tag shoppen war, oder doch?“
Er starrte sie an. „Du bist halt ein Mädchen. Woher soll ich mich mit weiblichem Shopping-Verhalten auskennen? In meinen Ohren klingt es nicht ungewöhnlich, dass Mädels wochenlang um das gleiche Paar Schuhe tänzeln, eh sie endlich kaufen.“
„Du bist nicht vorurteilsgeprägt, oder so?“
„Nö. Aber du versuchst, das Thema zu wechseln. Warum hast du mir das nicht gesagt? Wissen meine Eltern Bescheid?“
„Natürlich wissen sie Bescheid. Wie hätte ich es vor ihnen verbergen sollen? Sie bezahlen die Rechnungen.“ Sie ließ den Blick senken.
„Warum hast du es mir dann nicht erzählt?“ Er hob ihr Kinn, aber sie wollte seinem Blick nicht begegnen. Wenn sie Ekel darin sah, wusste sie nicht, wie sie ihre Scheinehe die nächsten fünf Jahre lang aufrecht erhalten sollte. Wie sollte er es echt aussehen lassen, wenn er jedes mal an die hässliche, vernarbte Haut dachte, wenn er sie ansah?
„Poppy?“
Schließlich traf sie seinen Blick. Er sah noch immer besorgt aus, aber sie konnte keinen Ekel erkennen. Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Seine Gesichtszüge entspannten sich als sein Blick auf ihre Lippen fiel. Plötzlich beschleunigte sich ihr Herzschlag und sie hatte Schwierigkeiten zu atmen. Sie wandte sich ab und schluckte schwer.
„Mir war nicht klar, dass du an meiner Krankengeschichte Interesse hast.“
„Welche Ehemann hätte das nicht?“
„Der Scheinehemann, würde ich vermuten. Ich konnte es nicht riskieren. Ich möchte immer noch nicht drüber nachdenken, dass du es jetzt weißt.“
„Warum sagst du das?“, fragte er sanft.
Konnte er nicht ahnen, wie es ihren sorgsam ausgearbeitet Plan durchkreuzen würde? „Wie sollst du so tun als wärst du völlig verliebt in mich, wenn du in Wirklichkeit angeekelt bist?“
„Angeekelt von Haut? Du veräppelst mich doch.“ Er seufzte und nahm ihre Hand in seine. Die Wärme kam zurück und sandte einen weiteren Schauer ihren Rücken hinab. „Ich...“
Gerade als er mit dem fortfahren wollte, das er ihr hatte sagen wollen, öffnete sich die Tür und Dr. Jenkins trat ein. Hinter ihr entdeckte Poppy ein bekanntes Gesicht und die Krankenschwester, sie versucht hatte, Levi in seine Schranken zu verweisen.
„Poppy, das ist Dr. Hamilton. Sie kennen einander sicherlich.“ Ihr Lächeln wirkte freundlich.
„Hallo, Miss Hall. Schön Sie zu sehen. Nicht unter diesen Umständen zwar, aber man nimmt, was man kriegen kann, nicht wahr?“ Er lächelte sie ebenfalls an.
„Hi, Dr. Hamilton. Dr. Jenkins und ich -“
„Genau genommen ist es jetzt Lawson. Poppy Lawson“, unterbrach Levi sie.
Ihr Gesicht brannte vor Scham. „Das ist nicht so wichtig, Levi“, flüsterte sie.
„Doch ist es“, widersprach er, nicht im Geringsten beschämt, dass er sie vor Dr. Hamilton unterbrochen hatte.
„Verstehe ich das richtig? Sie haben geheiratet? Herzlichen Glückwunsch“, sagte der ältere Mann.
„Danke.“
„Wie kommt’s, dass Sie mir das nicht erzählt haben? Wir hätten endlos über Blumensträuße und Kleider plaudern können, während Sie hier waren.“ Er zwinkerte.
„So gern ich Ihnen abnehmen möchte, dass Sie das ernst meinen, kommen Sie mir irgendwie nicht wie ein Hochzeitsplaner vor, Dr. H.“
„Da könnten Sie recht haben. Aber ich bin immer dankbar für Themen, die meine Patienten ihre Umgebung vergessen lassen.“
„Ich weiß, was Sie meinen. Ich...Wir...“ Sie sah Levi hilfesuchend an.
„Nach all dem, was diesen Sommer passiert ist, habe ich gemerkt, dass ich nicht ohne Poppy leben kann. Als sie meinen Antrag angenommen hat, habe ich dafür gesorgt, dass sie keine Zeit hat, es sich anders zu überlegen. Deswegen habe ich sie gedrängt, mich so schnell wie möglich zu heiraten. Zum Glück hat sie ihre Meinung bis zum Ablegen der Eheversprechen nicht geändert.“
Dr. Hamilton lachte laut auf. „Das ist die richtige Einstellung, Kumpel. Aber ich wünschte mir trotzdem, Sie wären zu dieser Zeit an ihrer Seite gewesen. Aber wie sagt man so schön: besser spät als nie. Richtig?“
„Genau. Sie wird mich niemals loswerden.“
„Jetzt da wir das geklärt haben, lassen Sie mich mal Ihren Arm sehen, Mrs. Poppy Lawson.“ Er zwinkerte und Poppy fühlte ihr Gesicht warm werden. Dann spürte sie Levis heißen Atem an ihrem Ohr.
„Ich hoffe, du errötest wegen mit und nicht etwa seinetwegen“, flüsterte er so leise, dass nur sie es hören konnte. Sofern es überhaupt möglich war, errötete sie noch stärker.
„Sie haben wieder mal Glück gehabt, Poppy. Auch wenn die Haut aufgerissen ist, hat das einen nicht allzu großen Schaden verursacht. Die Stellen werden genauso gut heilen wie der Rest Ihrer Haut.“
„Das nennen Sie gut?“, witzelte sie halbherzig.
Dr. Hamilton warf ihr einen herausfordernden Blick zu.
„Ich habe nur einen Witz gemacht. Ich schwör’s.“
„Besser ist es. Sie wissen, wie viel Glück Sie hatten. Erika spült die Verletzungen und dann verbindet sie den Arm neu. Kommen Sie die nächsten zwei Wochen je zwei mal pro Woche zur Kontrolle. Danach können wir es vermutlich ein bisschen leichter angehen lassen.“
„Alles klar. Vielen Dank, Dr. Hamilton“, sagte Levi und hielt ihm seine Hand entgegen als wären sie alte Bekannte.
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