Kapitel 4
Im Esszimmer der Blacks wird es scheinbar nie leise. Die außerordentlich gelöste Stimmung der Familie beeindruckt mich. Keine starren Sitten oder veraltete Etikette. Zwar wird das Essen von einem Dienstmädchen serviert, jedoch hat man nicht das Gefühl, Teil einer gehobenen Gesellschaft zu sein. Wir könnten genauso gut auf dem Sofa sitzen, Pizza essen und fernsehen. Man hätte es glatt mit einem Abend bei Freunden verwechseln können.
Genau das habe ich mir gewünscht, ein Abend ohne Zwischenfälle, ohne Intrigen, ohne Abscheu, ein einfaches Familienessen. Etwas das ich lange Zeit nach dem Verschwinden meines Vaters nicht mehr kannte und dank Steve wieder lieben und schätzen gelernt habe. Er hat uns an einen Tisch gebracht. Ich werde ihm niemals für all das Danken können, was er für unsere verbliebene Familie getan hat. Er ist der beste Vater den ich mir vorstellen kann.
Ein trauriges Lächeln legt sich auf meine Gesichtszüge. Alexander muss den Umschwung meiner Gefühle gespürt haben, denn er greift unter dem Tisch nach meiner Hand. Er drückt sie fest, streichelt mit dem Daumen über die Knöchel. Ich sehe nach oben und direkt in seine hellbraunen Augen, die mich jedes Mal zu verschlingen versuchen, sie brennen und ich kann die Sorge in ihnen lesen. Am liebsten würde ich ihn küssen, ins Bett schleifen und dort nie wieder herauslassen, doch ich kann mich beherrschen.
Andrea befragt mich zu meinem Job, meinen Hobbies, allem was sie im Entferntesten mit mir teilen könnte. Sie selbst ist eine, wollen wir es so ausdrücken, ‚Hausfrau'. Zwar muss sie keinerlei Arbeiten in diesem riesigen Haus wirklich selbst erledigen, doch sie kümmert sich leidenschaftlich gerne um die Dekoration und den Garten. Lucas dagegen arbeitet in der Firma seines Vaters. Er hat den Familienbetrieb mit dreißig, mehr oder minder, übernommen, auch wenn er die Führung immer noch mit dem Familienoberhaupt teilt.
Theresa steht kurz vor ihren SAT Prüfungen und möchte statt ein College zu besuchen, lieber ein soziales Jahr einlegen. Andrea und Lucas sind natürlich strikt dagegen, für sie geht die Erfahrung mit dem College über alles.
„Lex hat sein Studium abgebrochen, trotzdem ist aus ihm etwas geworden. Ich bin mir sicher, er würde mich in seiner Firma aufnehmen, wenn ich anderweitig auf der Straße landen würde", nuschelt sie vor sich hin, was mehr einem hilflosem betteln gleich, als einer Rüge.
„Tessa! Ich hatte einen Plan, ich habe das College nur geschmissen, weil es keinen besseren Zeitpunkt dafür gegeben hätte. Hätte ich gewusst, dass Du deswegen solch einen Aufstand machen würdest, hätte ich es durchgezogen."
Wütend starrt er sie an, doch in seinen Augen liegt Bekümmerung und Liebe für sie. Theresa hingegen kann über ihre momentane Wut nicht hinwegsehen.
„Warst Du auf einem College, Marie?" Ich weiß genau was sie beabsichtigt.
„Ja, ich war auf einer Universität. Ich hab sogar einen Abschluss", zwinkere ich ihr verschwörerisch zu.
Das leise Kichern von Andrea brandet in ein lautstarkes Lachen der gesamten Familie. Leider konnte ich Theresa nicht ganz so unterstützen wie sie es sich erhofft hat, doch sie nimmt es sportlich und lacht ebenfalls.
„Dann versprecht mir wenigstens eine Sache", bettelt Theresa jetzt.
„Tessa", warnt sie Alexander.
„Ich gehe aufs College, doch sollte ich mich entscheiden letztendlich doch nicht weitermachen zu wollen, dann werdet ihr mich nicht davon abhalten. Bitte Mum, bitte Dad."
Alexanders Eltern sehen sich an und scheinen einen inneren Dialog zu führen, bei dem wir ihnen nicht folgen können. Andrea nickt leicht, während sich Lucas zu seiner Tochter umdreht und mit dunkler Stimme antwortet.
„In Ordnung, wir werden dich nicht zwingen, aber wir verlangen im ersten Jahr deinen besten Einsatz-„
„DANKE DADDY", ruft Theresa nun, springt auf und wirft dabei ihren Stuhl zu Boden. Strahlend rennt sie auf ihren Vater zu, schließt ihn in ihre Arme, wobei sie immer wieder - wie bei einem Mantra - wiederholt. „Danke, danke, danke, danke..." Andrea dagegen kichert wieder jugendlich und küsst ihr jüngstes Kind auf die Stirn.
***
„Es war wirklich sehr schön, dass du es einrichten konntest, Marie. Ich freue mich sehr für Alexander. Hoffentlich sehen wir dich ganz bald wieder", flüsterte mir Andrea verschwörerisch zu. Ich musste über ihren eindringlichen, jedoch freundlich Ton grinsen.
„Wir sehen uns sicher bald wieder", versprach ich und wende mich Lucas zu.
Der ergreift meine ausgestreckte Hand und schüttelt sie kräftig. Theresa dagegen nimmt mich in den Arm, lässt mich kaum mehr aus ihrem festen Griff entgleiten.
„Bitte besuch uns ganz bald wieder. Es war schön mit dir."
„Danke, es war auch schön mit Euch, aber du kannst auch jeder Zeit uns besuchen kommen."
Dieser Vorschlag sichert mir ihr freudiges Strahlen und ihre Freundschaft. Vor der Tür nimmt Alexander - ganz selbstverständlich - wieder meine Hand. So selbstverständlich wie es sich für ihn anfühlt, ist es für mich jedoch nicht. Es ist ungewohnt, schön, doch ungewohnt, trotzdem sehe ich ihm glücklich entgegen.
An seinem Auto angekommen öffnet er mir die Beifahrertür und hilft mir beim Einsteigen. Kurz bevor er die Tür geräuschlos schließen will, drückt er mir noch einen Kuss auf die Lippen und meint: „Das wollte ich schon die ganze Zeit tun."
Dann grinst er und geht um den Wagen. Neben mir nimmt er Platz. Er startet Motor, Heizung und Sitzheizung, bevor er vom Anwesen seiner Eltern fährt.
„Das heute Abend hat mir sehr gut gefallen...Lex", das Letzte spreche ich mit ein kleinwenig Sarkasmus aus. Lächelnd beugt er sich zu mir, gibt mir einen weiteren Kuss, ehe er mir antwortet.
„Mir hat es auch sehr gut gefallen, Kätzchen. Es war schön dich mit meiner Familie zu sehen und dabei zuzusehen wie gut ihr miteinander auskommt."
Er gibt mir einen weiteren Kuss. Gleichzeitig legt er seine Hand auf meinen Oberschenkel. Sofort legt sich eine Gänsehaut auf meine Haut und ich möchte ihn ein weiteres Mal küssen, doch er entzieht sich mir und sieht wieder auf die Straße.
„Sie mögen dich", meint er leise, seine Augen weiterhin auf den Verkehr gerichtet.
Die Straßen sind von Schnee bedeckt und wirken wie mit Puderzucker bestäubt.
„Ich mag sie auch sehr. Ich habe deiner Schwestern angeboten dich mal zu besuchen", erkläre ich nüchtern.
Ich habe Angst davor wie er reagieren könnte, trotzdem sehe ich ihm herausfordernd in die Augen, bereit einen Streit auszutragen. Doch Alexander grinst wiederholt und nickt anschließend. Die restliche Fahrt nach Hause ist ein angenehmes Schweigen zwischen uns Beiden. Sein Daumen fährt weiterhin über die Innenseite meines Schenkels, sodass kleine Schauer durch mich hindurchfahren.
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