Kapitel 38

Als ich aufwache liege ich im Gästebett und neben mir liegt ein mittlerweile halb angezogener Alexander. Ich muss auf dem Sofa eingeschlafen sein, denn ich kann mich nur noch daran erinnern, wie sehr ich geweint habe und dass er immer wieder denselben Satz wiederholt hat.

„Alles wird wieder gut werden, Marie. Du schaffst das." Für diese Worte hätte ich am liebsten mit meinen Fäusten auf seinen Oberkörper geaschlagen, denn selbst in einer derartigen Situation, wusste er mich zu trösten. Er sagt und macht, immer die richtigen Dinge. Ich dagegen bin die reinste Form des Chaos.

Alexander regt sich neben mir, dreht mir sein Gesicht zu und öffnet seine Augen.

„Hey", kommt es verschlafen von ihm.

„Hi", flüstere ich zurück. „Wir liegen im selben Bett."

Er nickt. Das ist alles. Es laut auszusprechen beschert selbst dem alleskönnenden Alexander einen Knoten in der Zunge.

„Stört es dich?"

„Nein. Ich bin froh, dass ich noch nicht alleine aufwachen muss." Ich zwinkere ihm zu, doch der Gedanke daran, dass es die Wahrheit ist, lässt neue Tränen in mir aufsteigen. Darum drehe ich mich auf den Rücken und sehe von ihm weg.

„Weißt du, Marie, es ist in Ordnung."

In Ordnung. Ich wiederhole die Worte noch ein paar Mal, aber nein, nein, nichts ist in Ordnung. Nichts ist aussortiert, ausgesprochen oder ausgemacht. Nur die Tatsache unserer Trennung, die ist in Stein gemeißelt. Ich nicke, obwohl er mit seiner Aussage nicht weiter von der Wahrheit entfernt liegen könnte. Langsam setzte ich mich am Bettrand aufrecht hin, bewege meine Füße, neige meinen Kopf zu beiden Seiten, teste meine Muskeln und Sehnen. Meine Augen fühlen sich geschwollen an, meine Schläfen pochen. Trotz Alexanders Nähe fühle ich mich allein gelassen. Als ich aufstehe, um mich anzuziehen, folgen seine Augen mir. Er sorgt sich, dass kann ich erkennen, auch wenn es nun nicht mehr seine Aufgabe ist, kann er es nicht lassen. Ich muss mich jetzt wieder selbst um mich kümmern, ohne mich dabei auf ihn zu verlassen. Wie mit Fünfzehn. Ich schmecke wie mir bei der Aussicht die Galle hochkommt.

***

Ich sitze in einem Taxi Richtung Down Town. Mein Reisekoffer liegt im Kofferraum, meine Handtasche auf meinem Schoß und eine weitere Sporttasche neben mir. Während des Packens hatte Alex mich lauthals angeschrien, ich bräuchte die Wohnung vorerst nicht zu verlassen, könnte im Gästezimmer wohnen, und es mir dort bequem machen. Er hat immer wieder meine Kleider aus meinen Taschen gerissen, sich verzweifelt die Haare gerauft, hat mich sogar angefleht zu bleiben. Warum, kann ich selbst nicht verstehen. Ich brauche Abstand, Luft und Platz. Viel Platz. Ich kann nicht täglich auf ihn treffen, so tun als wäre nichts gewesen und mich abends von ihm verabschieden, ehe ich in seinem Gästezimmer zu Bett gehe.

Die Sonnenbrille auf meiner Nase verdeckt die geschwollenen Tränensäcke unter meinen Augen, ebenso wie die neuen Tränen, die sich zu sammeln beginnen. Ich bin auf dem Weg zu Emilys Wohnung. Nachdem ich ihr schluchzend von meiner Trennung erzählt habe, hat sie sofort angeboten mich aufzunehmen. Da ich nicht zu Granny will, und auch nicht in mein altes Appartement kann, bleibt mir vorerst nichts anderes übrig. Bei einer Freundin zu wohnen wird mir sicher gut tun. Für heute Abend hat sie sogar Giorgio abgesagt, um mit mir über alles reden zu können, während wir einen großen Becher Schokoladeneis verdrücken. Über dieses klischeehafte Vorhaben möchte ich grinsen, doch es fällt so unheimlich schwer, Freude zu empfinden.

Der Wagen hält vor der genannten Adresse. Ich drücke dem Fahrer ein paar Scheine in die Hand und steige aus. Über den Rücksitz ziehe ich mir die Sporttasche heran, schleife sie aus dem Wagen. Neben mir wird mein Koffer abgestellt, dann dauert es nur noch wenige Sekunden und ich stehe allein auf einer fremden New Yorker Straße. Die wenigen Stufen bis zur Eingangstüre, nehme ich in kleinen Etappen, da mein Gepäck sich gegen mich zu wehren scheint. Für einen Zuschauer biete ich sicher ein wahres Spektakel, aber darüber möchte ich jetzt nicht nachdenken. Am liebsten wäre es mir sogar, wenn ich überhaupt nicht mehr nachdenken müsste. Für einen Abend die Dauerschleife in meinem Kopf abstellen könnte.

Ich drücke auf die unterste Klingel, freue mich darüber, dass Emily im Erdgeschoss wohnt, ich daher keine weiteren Treppen erklimmen muss. Dass Surren des Türöffners bringt wieder neue Bewegung in mich. Emily kommt mir im Hausgang entgegen. Noch ehe ich sie erreiche, laufen abermals die Tränen. Die starke Marie ist endgültig verschwunden und an ihren Platz ist eine gefühlsgeladene, junge Frau getreten, mit der ich mich noch nicht anfreunden kann.

„Lass uns erst einmal reingehen." Meint sie sanft und nimmt mir eine der Taschen ab.

Ich folge ihr durch den gefliesten Flur. In ihrer Wohnung stelle ich meine Habseligkeiten neben die Tür und blicke mich etwas um. Ems Wohnung ist Schlicht und ich fühle mich bei ihr, wie Zuhause in Deutschland. Kein Prunk, keine weite Flächen, nur Gemütlichkeit und Wärme. Ich folge ihr auf einer kleinen Tour durch ihre Wohnung. Meine Kleidung wird vorerst im Koffer verweilen müssen, da mein Schlafplatz, die Couch, schließlich keinen eigenen Schrank besitzt, aber das ist in Ordnung. Trotz der deprimieren Situation sprüht sie vor Übermut, weil ich bei ihr übernachten werde. Sie ist eine Freundin, die man auch in Hundertjahren nicht hergeben würde.

Morgen werde ich im Internet nach den ersten Wohnungsangeboten Ausschau halten, doch für den Moment kann ich mich damit nicht beschäftigen. Sicher werden mich meine Eltern unterstützen, gerade Steve wird sich das nicht nehmen lassen, aber diesen Neuanfang, den werde ich alleine schaffen, um wieder zu der Frau zu werden, die ich vor Alexander war. Eine Naturgewalt. Doch eine Sache möchte ich nicht verändern. Meine Sicht auf all meine Beziehungen. Zu Freunden, meiner Familie und einem zukünftigen Partner. Danke Alexander weiß ich nun, dass ich auch dann eine starke Frau sein kann, wenn ich Gefühle zu lasse und anderen mein Herz öffne.

Emily ist noch immer in einen Monolog über ihre Wohnung vertieft, doch ich kann ihr schon lange nicht mehr folgen, weil mich meine eigenen Gedanken beanspruchen. Als sie meine Abwesenheit bemerkt, verschwindet sie mit einem liebevollen Lächeln auf den Lippen.

Ein Faden an meiner Bluse erregt meine Aufmerksamkeit. Als ich das lose Stück entfernen möchte, entdecke ich meine letzte Erinnerung an Alexander. Der silberne Ring glänzt noch immer an meinem Finger. Vorsichtig streife ich ihn ab, schließe ihn in meine Faust ein, denke über die letzten Monate nach, über alles, was passiert ist, seit ich in New York angekommen bin.

Das erste Aufeinandertreffen mit dem Sahneschnittchen, das so abgehoben wirkte. Mein erster Abend in seinem Club, mit Maske, die Nachrichten die er mir dort geschickt hat. Der Schreibtisch im ersten Stock, auf dem er mich beinahe zum ersten Höhepunkt gebracht hätte. Das ständige hin und her zwischen uns. Unsere ersten Küsse, und unser erster Kontaktabbruch. Ich denke daran zurück, wie sehr es mich damals zurückgeworfen hat, wie sehr ich mich nach ihm gesehnt habe. Sein Flug nach Deutschland, um bei mir und meiner Familie sein zu können. Unser gemeinsamer Besuch in seinem neuen Club und alles was danach gekommen ist. Der unfassbar heiße Sex mit James, der mich so sehr aufgewühlt hat, dass ich nun allein in Emilys Wohnung sitze. Mir kommt es vor, als liegt das schon Jahre zurück, dabei sind erst wenige Monate vergangen. Ich lehne meinen Kopf auf die Lehne des Sofas, schließe die Augen und schaffe es endlich, meine Gedanken schweifen zu lassen.

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