Kapitel 18

Durch den kleinen Spalt in der Tür, sehe ich in sein Büro. Alexander ist weg. Nichts weist daraufhin, dass er die letzten Stunden hier gewesen ist. Meine Schultern scheinen tonnenschwer zu sein und ich lasse den Kopf hängen. Die Enttäuschung kann ich nicht mehr leugnen. Den Schwelbrand in meiner Brust löscht so schnell nichts, nicht mal die Tränen, die ich jetzt nicht mehr zurückhalten kann. Müde lasse ich mich auf den Schreibtischstuhl sinken, der hinter Alexanders Schreibtisch steht. Verdammt nochmal, wo ist Alexander nur?

Auf seinem sonst so aufgeräumten Tisch liegt eine Akte. Ein paar Seiten, die aus der Mappe hervorragen, erregen meine Aufmerksamkeit. Ich ziehe mich an der Tischplatte näher heran, ehe ich den Hefter öffne. Es ist der Selbe, den ich schon am Vorabend auf dem Beifahrersitz entdeckt habe. Ein loser Zettel fliegt heraus und mir in den Schoß. Ich sehe ihn mir genauer an. Der Schock lähmt mich, als ich die ersten Sätze lese. In dem Hefter findet sich eine Sammlung aller Daten meines Vaters. Alles detailliert zusammengefasst.

Sogar all die Adressen die er hatte, seit er meine Mutter und mich verlassen hat. Der Scheißkerl ist ganz schön rumgekommen. Ich vermute, dass er das der neuen Frau an seiner Seite zu verdanken hat. Laut Unterlagen ist er seit sechs Jahren mit dieser Frau verheiratet. Seit sechs Jahren. Mum und ich waren noch in unserer Trauerphase, während er eine andere gevögelt und geheiratet hat. Vor Wut zittern meine Hände. Der Hefter in meinen Fingern wird ebenfalls durchgeschüttelt und ich kann nur schwer entziffern, was als nächstes kommt. Sein Job. Na, das ist ja interessant. Irgendjemand hat handschriftlich notiert, dass mein Vater keinem offiziellen Job nachgeht.

Während wir uns also in den ersten Jahren ohne ihn kaum über Wasser halten konnten, lebte er in Saus und Braus. Beim folgenden Punkt, brennen mir beinahe die Sicherungen durch. Seine momentane Frau - eine nette, alte Dame mit gutem Einkommen - betrügt er. Er hat uns ganz sicher vermisst Marie, höhnt meine innere Stimme, während ich nur schnauben kann. Aber sicher doch. Uns und seine jetzige Ehefrau hat er ganz schrecklich vermisst.

Ich ertrage es nicht noch mehr zu lesen und knalle die Unterlagen wieder zurück auf den Schreibtisch. Dieses miese Schwein hat uns sitzenlassen, hat eine andere Frau geheiratet, sich von dieser aushalten lassen und betrügt sie jetzt mit einer Dritten. Verzweifelt raufe ich mir die Haare. Ich kann diese Informationsflut nicht verarbeiten. Es raubt mir wortwörtlich den Verstand. Ich greife nach der Akte und verschwinde Richtung Loft. Dort angekommen, schnappe ich mir ein paar Kleidungsstücke von Alexander, schließlich kann ich nicht halbnackt auf die Straße treten. Er kann froh sein, dass er jetzt nicht hier ist, denn auch, wenn ich tausend Fragen an ihn habe, würde ich ihm jetzt Dinge an den Kopf werfen, die wir nie wieder vergessen könnten.

Ich kann nur an eine Person denken, die mir helfen kann. Die versteht, wie es mir geht. Als ich aus dem Gebäude des Clubs trete habe ich James Namen auf den Lippen. Ich brauche meinen besten Freund.

***

Ein paar Blocks weiter halte ich ein Taxi an. Zum Glück ist der Fahrer meiner Sprache so wenig mächtig, dass mir ein peinliches Gespräch erspart bleibt. Im Wagen läuft der Radio so laut, dass es beinahe in den Ohren schmerzt, aber es hilft, um die Gedanken zurückzudrängen. Am Eingang unseres Wohnkomplexes angekommen, zahle ich und steige aus.

Ich kann nur beten, dass James Zuhause ist. Der Fahrstuhl öffnet sich und ich wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, weil mir jetzt ein paar Sekunden nur mit mir selbst vergönnt sind. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit mir, denn schon als ich den Fahrstuhl betrete klingelt mein Handy. Ohne auf das Display zu blicken, antworte auf das dritte Läuten.

"Ja?"

"Wo bist du?"

Zwar kann ich die markante Stimme am Telefon sofort zuordnen, überprüfe jedoch die Anruferkennung zur Sicherheit. Alexander.

"Jetzt interessiert dich das?", höhne ich.

"Ich habe dich etwas gefragt. Wo bist du?"

Alexander ist kaum wiederzuerkennen. Er klingt dominant und herrschsüchtig und überhaupt nicht nach der Person, die ich jetzt brauche.

"Ich frage nicht noch einmal Marie. Ich weiß, dass du die Unterlagen deines Vaters bei dir hast. Bist du Zuhause?"

Ich sage nichts und die Stille steht zwischen uns. Bei dem Versuch die Situation abzuwägen, Alexanders Stimmung einzuschätzen und ihm beruhigen zu versichern, dass alles in Ordnung ist, scheitere ich. In diesem Moment will ich ihm nichts versichern, ich will nicht streiten, nicht einmal seine Stimme hören. Nicht jetzt, nicht in fünf Minuten und vielleicht auch nicht die ganze nächste Woche. Wir wandern auf dünnem Eis und es fühlt sich an, als wäre ich schon mit einem Fuß im eiskalten Wasser stehen.

"Verrate mir wenigstens ob es dir gut geht, Kätzchen", seine Stimme ist jetzt ruhiger.

Er versucht mir zu schmeicheln, mich umzustimmen, doch ich blocke ab.

"Ich will jetzt nicht mit dir reden, Alexander. Lass mir ein bisschen Zeit."

Mit dem letzten Wort drücke ich den roten Knopf, der das Gespräch beendet. Schon wenige Sekunden darauf öffnen sich die Fahrstuhltüren und ich trete resigniert an unsere Wohnungstüre. Seit ich Alexander kenne, sitze ich in einer Achterbahn der Gefühle. Sobald ich einen Anstieg geschafft habe, rase ich nach unten. Im Moment rase ich mit voller Geschwindigkeit dem Tal entgegen, ohne Aussicht auf einen erneuten Anstieg.

Mit dem Schlüssel im Schloss öffne ich die Türe, lausche in unser Appartement und es fällt mir ein Stein vom Herzen, als ich das monotone Gerede eines Radiosprechers höre. James ist Zuhause.

Er ist mein Zuhause.

Wie ein getretener Hund schleiche ich in die Richtung der Geräuschkulisse, um meinen besten Freund zu finden. Er liegt auf seinem Bett, eine Zeitschrift in der Hand, die er allerdings gar nicht ansieht. Er blickt zur Decke und scheint über irgendetwas nachzudenken. Seine Stirn liegt tief in Falten, sein Kiefer angespannt. Irgendetwas bedrückt ihn und ich könnte heulen vor Freunde, weil er wieder einmal dasselbe fühlt wie ich. Doch im nächsten Moment holt mich das schlechte Gewissen wegen meiner egoistischen Gedanken ein.

"Jimmy", flüstere ich.

Ich bin so erleichtert, dass erneut Tränen über meine Wangen laufen. Er sieht zu mir und seine Gesichtszüge entspannen sich erst, ehe sie sich zu einer sorgenvollen Miene verziehen. Ohne ein weiteres Wort laufe ich zu seinem Bett, lege mich neben ihn, warte auf seine Reaktion. Seine Arme schließen sich um mich und zum ersten Mal, seit ich aus dem Club geflohen bin, fühle ich mich wieder sicher. Das ist Zuhause. Das ist tiefe Verbundenheit. In diesem Moment, möchte ich bei niemand anderem sein. Zärtlich streicht er mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Ich spüre seine warmen Lippen auf meine Schläfe.

"Was ist los, Süße? Muss ich ein paar Knochen brechen oder reichen wüste Hasstiraden?"

Seine Stimme ist weich und lullt mich ein. Sie ist tröstlich vertraut. Seine Worte schaffen es, mich zum Lächeln zu bringen, obwohl ich tottraurig bin.

"Mein Dad", krächze ich zwischen den Tränen, die einfach nicht aufhören wollen zu laufen. „Alexander hat eine Akte über ihn."

James blickt mich traurig an. Es ist kein Mitleid, das sehe ich, aber er fühlt mit mir. Er weiß, wie es in mir aussieht, weil er es jahrelang mit mir durchgestanden hat. James weiß, dass ich gehofft habe, nie wieder etwas von meinem Erzeuger zu hören. Der nächste Kuss auf meine Stirn tröstet mich noch weiter.

"Es stehen so viele Sachen über ihn in dieser Mappe. Er ist verheiratet, Jimmy. Seit sechs Jahren."

Noch ein Kuss auf die Stirn. Mit jedem weiteren lindert er den Schmerz.

"Er hat uns einfach vergessen. Er hat sich eine neue Frau gesucht."

Er zieht mich fester an seine Brust.

„Und nicht einmal ihr kann er treu sein. Er betrügt sie."

In diesem Moment fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Er hat meine Mum betrogen. Er war bei dieser Frau, wenn er nicht bei uns war. Er hat meinen 15. Geburtstag verpasst, weil er dieser Frau Avancen gemacht hat. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, wie oft er mir beteuert hat, dass ich seine kleine Prinzessin bin und er mir dann einen Kuss auf die Stirn gegeben hat.

Und jetzt ist es James, der mich immer und immer wieder auf die Stirn küsst. Er tröstet mich, hält mich, gibt mir das Gefühl, der wichtigste Mensch zu sein. Nichts ist wichtig, solange wir einander haben. Als er mich das nächste Mal auf den Kopf küsst, drücke ich ihm meine Lippen auf die Brust.

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