Kapitel 1
James sieht mich besorgt an. Mittlerweile hat er mich ins Wohnzimmer geführt und mich auf unserem Sofa platziert. Ich kann von Glück reden, dass Alexander noch schläft, ich will ihm noch nicht von meiner Vergangenheit und meiner verkorksten Beziehung zu meinem Vater erzählen. Diese Geschichte würde unsere Beziehung nur unnötigen belasten. James hingegen kennt meine Vergangenheit, als wäre es seine eigene.
Der Brief meines Vaters wiegt schwer in meiner Hand und als ich den Umschlag öffne, enthülle ich mehrere Seiten Papier, die per Hand geschrieben wurden. Ich bin überrascht. So wie ich meinen Vater die letzten Jahre einzuschätzen gelernt habe, war ich davon überzeugt einen am Computer geschriebenen Brief zu erhalten. Im Umschlag befinden sich zusätzlich noch drei Bilder, die ich mir nun genauer ansehe.
Eine zeigt ihn und mich auf einem Spielplatz, in der Nähe unseres alten Zuhauses. Ich bin etwa vier oder fünf Jahre alt. Freudestrahlend sitze ich auf einer Schaukel und werde von meinem Vater immer höher geschubst. Ein weiteres Foto zeigt uns nochmals kurz vor seinem Verschwinden. Wir sind gemeinsam auf einer Veranstaltung seiner Firma zu sehen. Er hat seinen Arm auf meine Schulter gelegt und drückt mir einen Kuss auf die Stirn, den ich mit geschlossenen Augen und einem breiten Grinsen genieße.
Damals war er mir schon häufiger distanziert vorgekommen, doch an diesem Abend gab er mir wieder das Gefühl, seine kleine Prinzessin zu sein. Erst als James mich nun in seine Arme schließt, bemerke ich die Tränen auf meinen Wangen. Ich habe sie eine lange Zeit zurückgehalten, habe nichts nach außen dringen lassen. Das letzte Bild zeigt Alexander und mich auf den Stufen des Four Seasons. Es wurde wohl von einem der Paparazzos geschossen, zumindest lässt dies der Blickwinkel der Fotografie vermuten.
Man hatte die Szene festgehalten, die in mir dir schmerzhaftesten Erinnerungen wachrief. Meinen innerlichen Kampf bleiben zu wollen und doch Abstand nehmen zu müssen, von einem Mann, der nur mein bestes wollte. Trotz unseres distanzierten Verhaltens in diesen Minuten, strahlte das Geschehen Vertrautheit aus. Unsere Blicke zeugen von Respekt und tiefer Zuneigung füreinander. Auf der Rückseite hat mein Vater eine Anmerkung geschrieben.
„Zerstöre Dein eigenes Glück niemals. Nicht, so wie ich."
Ohne einen weiteren Gedanken an ihn verschwenden zu wollen packe ich den Brief ungelesen wieder in seine Hülle zurück. Die Fotos verschwinden auf dieselbe Weise. Wie Schraubzwingen winden sich James Arme um mich. Keine Berührung könnte für mich tröstlicher sein, denn kein Mensch auf dieser Erde kennt und sieht mich so wie er. Was auch immer mein Vater mit dieser Aktion bezweckt hat, es ist für mich egal.
Er hat uns vor Jahren ohne einen Grund verlassen. Am liebsten würde ich ihm nun das Gleiche antun. Er sollte sich ebenso hilflos fühlen, wie meine Mum, die nicht wusste, wie sie ohne ihn weitermachen sollte. Er sollte ebenso leiden müssen, wie sein eigenes Fleisch und Blut, das ihn Jahre lang vermisste, ohne einen Hinweis darauf zu haben, ob er überhaupt noch lebte. Ich wollte alle Brücken die ihn zu mir führen konnten niederreisen, alle Wegweiser zu uns verbrennen und jeden Pfad niederwalzen.
Es war die reinste Form von Abscheu, die ich meinem Erzeuger gegenüber empfand. Nichts und Niemand kann mich jemals vom Gegenteil überzeugen. Ich löse mich von James. Seine braunen Augen mustern mich durchdringend und ich kann die Sorge aus ihnen lesen. Um ihn etwas zu beschwichtigen, lächle ich ihm vorsichtig entgegen und versuche so auszusehen, als wäre alles in Ordnung. Ich werde das hier überstehen und wie die Jahre davor weitermachen, ohne einen weiteren Gedanken an meinen Vater zu verschwenden.
James drückt mir einen letzten Kuss auf die Wange, ehe er wieder in seinem Zimmer verschwindet. Ich trotte in die Küche, nach einem Weckkommando wie diesem brauche ich erst einmal meine übliche Dosis Kaffee. Trotz meines inneren Schwures, nicht mehr an meinen Vater zu denken, kann ich nicht anders, als jede seiner Aktionen noch einmal Revue passieren zu lassen.
Er hat uns die letzten Monate vor seinem Verschwinden wie den letzten Dreck behandelt. Warum kommt er nun wieder an? Immer wieder wandern meine Augen zu dem Umschlag neben mir auf der Theke. Ich habe Angst den Brief zu lesen. Wer weiß was er mir für Lügen auftischt, oder was genau er schreibt. Ich will ihm nicht die Möglichkeit geben, mich noch weiter zu verletzen.
Leise tritt Alexander hinter mich, legt seine Arme um meine Körpermitte und holt mich zurück in die Realität meiner Küche. Zuerst streift er meine langen Haare gebündelt über eine Seite meiner Schulter, dann verteilt er sanfte Küsse auf meinem Hals. Ich lege den Kopf zurück, genieße seine Zärtlichkeit. Ich fühle mich wertgeschätzt und kostbar in seinen Händen.
„Was ist los?" Seine tiefe Stimme klingt rau und sorgenvoll.
Wieder stehe ich zwischen den Stühlen, weiß nicht ob ich ihm schon von meinem Vater erzählen soll oder nicht. Ich will ihm alles erzählen, meine Geschichte mit ihm teilen, doch aus Angst ihn zu verlieren bleibe ich still. In seinen Armen drehe ich mich um, meinen Kaffee in den Händen, und gebe ihm einen kleinen Kuss auf den Mundwinkel.
„Es ist alles in Ordnung. Jemand von Früher war hier und hat einen Brief für mich abgegeben. Ich bin einfach nur froh, dass er wieder weg ist", gestehe ich die halbe Wahrheit.
Seine Hände gleiten meinen Rücken auf und ab. Wie so oft fühle ich mich bei ihm geborgen und sicher. Noch immer seine Arme um mich, greift er nun mit einer Hand nach meiner Tasse. Gespielt setze ich einen bösen Blick auf und will mir meinen Kaffee zurückholen.
Alexander hingegen ist viel zu schnell für mich und streckt die Tasse in Windeseile über meinen Kopf und somit aus meiner Reichweite. Zumal ich mich in seinem festen Griff sowieso nicht auf Zehenspitzen hätte stellen können, um nach meinem Becher zu greifen. Sein verspieltes Lächeln tritt auf seine Lippen. Einen solch unbekümmerten Moment teilen wir zum ersten Mal. Endlich fühle ich mich wirklich wie der Teil eines Ganzen.
Wir sind ein Paar und in diesem Augenblick fällt mir diese Erkenntnis wie Schuppen von den Augen. Nicht mehr jeder nur für sich, sondern wir Beide gemeinsam. Ich werde ihm von dem Brief erzählen müssen, doch nicht jetzt - nicht heute. Wir kichern wie kleine Kinder als ich mich zur Kaffeemaschine umdrehe und mir eine neue Tasse herauslasse. Das warme Empfinden in meiner Brust wird immer größer, ebenso wie die Vertrautheit sobald ich bei ihm bin.
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