Kapitel Vier - Narben

Zu behaupten, dass ich Till als unattraktiv empfand, wäre die größte Lüge in meinem gesamten Leben gewesen. Hierbei spielten nicht nur seine faszinierenden Augen eine Rolle. Es war irgendwie das Gesamtpaket.

„Also Till, sind Sie hier öfters?" Ein wenig grinste ich den Älteren an, bemerkte, wie der Alkohol durch meine Adern floss. Vermutlich machte ich mich gerade zum Affen, denn im Hintergrund konnte ich Kittie nach Luft schnappen hören. Später wurde mir auch klar, weshalb.

Erneut zog er die Augenbraue hoch, als ob er nicht glauben konnte, was ich gerade von mir gegeben habe. Dennoch zuckten seine Mundwinkel im selben Moment nach oben, was mich doch etwas beruhigte. Zudem sahen seine Grübchen ziemlich niedlich aus.

„Eigentlich nicht. Ich bin hier wegen meinen Freunden, vor allem wegen Richard und Paul. Aber sie sind eher ... mit sich selbst beschäftigt." Kurz sah Till über seine breite Schulter nach hinten. Ich folgte seinem Blick und konnte zwei Männer erkennen, welche an einem Tisch saßen.

Ihre Köpfe befanden sich dicht beieinander, während der Größere seinen muskulösen Arm um den Oberkörper des Kleineren geschlungen hat. Beide teilten sich ein Glas, tranken aus verschiedenen Strohhalmen. Es sah so süß aus, wie sie sich regelrecht Herzaugen zuwarfen. Vor allem der Größere schien darauf zu achten, seinen Partner so oft wie möglich zu berühren. Sei es, seine Hand zu drücken, oder sich von dem Cocktail zu lösen, um seinem Freund einen Wangenkuss zu geben.

„Niedlich", kommentierte ich mit einem Grinsen, bevor meine Augen sich wieder auf Till richteten. Auch er sah mich wieder an, rutschte sogar mit dem Hocker etwas näher. Seine Seelenspiegel schienen sich regelrecht in meine Haut zu bohren, was unweigerlich zu einer Gänsehaut auf meinen Armen führte. Dieser Mann hatte etwas anziehendes an sich. Nicht nur, dass ich ihn am liebsten ausziehen würde – allein schon bei dem Gedanken spürte ich die Schmerzen in meinem Hintern – sondern er hatte dieses gewisse Etwas. Etwas, was mich dazu verleitete, mich mehr mit ihm zu unterhalten.
In dieser Hinsicht war ich fast so wie Patrick. Ich war kein Mann für eine Nacht, sondern nur für ein, zwei Stunden. Seit meinem letzten Exfreund, mit dem ich vor drei Jahren Schluss gemacht habe, habe ich mich nicht mehr gedatet. Eine Tatsache, die mir erst jetzt bewusstwurde, als ich weiterhin Till betrachtete. Bis zu diesem Zeitpunkt hat mich das nicht wirklich gestört, aber nun empfand ich es doch als ... traurig.

„Finde ich auch." Seine Stimme riss mich aus den Gedanken. Sie erinnerte mich an die See. Besser gesagt, die Ostsee, an der mein Vater mit seiner Quater Horse – Zucht lebte. Der Klang war so ruhig, wie an einem sonnigen Tag die See, jedoch gleichzeitig so rau, als ob jede Sekunde die Flut kommen könnte. Nur, um alles zu verschlingen und in ihre Tiefen zu ziehen. Sowie seine Augen mich in ihren Bann zogen.

Ich legte den Kopf schief, musterte Till weiterhin. Vielleicht ist es ihm aufgefallen, dass ich ihn so eingängig betrachtete. Jedoch war er vermutlich zu höflich, um etwas zu sagen, oder war es einfach gewöhnt.
„Wo ist deine Begleitung?"
Mittlerweile war mir schon ganz heiß, was vermutlich weitere Nebenwirkungen waren. Oder es lag an dem Mann vor mir. Beides wäre gut möglich.

„Ich habe keine. Wie schon gesagt, ich bin hier hauptsächlich wegen Paul und Richard. Richard wollte mich unbedingt mit jemanden verkuppeln, aber Gott sei Dank ist er mit Paul beschäftigt. Die anderen scheinen sich auch zu amüsieren", erklärte er.
Aufmerksam lauschte ich seiner faszinierenden Stimme. Wahrscheinlich könnte ich ihm stundenlang zuhören, so angenehm klang seine Stimme in meinen Ohren. Ich wünschte, er könnte mich einfach die ganze Zeit voll quatschen. Beinahe schon automatisch griff meine Hand nach einer Pommes, während Till sprach. Es war einfach so fesselnd, zog mich immer tiefer in seine persönliche Flut.

„Hört sich langweilig an. Aber sich verkuppeln lassen bringt eigentlich nie etwas." Lässig winkte ich ab, sprach immerhin aus Erfahrung. Die Chemie muss von Anfang an stimmen, dann wird sich auch eine Beziehung daraus entwickeln. Zudem war es immer unglaublich peinlich, wenn der Kumpel unerwartet mit einer völlig fremden Person ankam und man sich halb stotternd, halb betrunken vorstellen musste. Sehr peinliche Situationen.

Till legte den Kopf schief, rutschte wieder etwas näher, was mich aber nicht störte. Im Gegenteil. Er roch so gut. Vor allem gemischt mit dem schweren Essensduft war es beinahe schon eine Kunst, trotzdem so gut zu riechen. „Woher kommst du?", wollte er auf einmal wissen.

Kurz blinzelte ich, weil mich diese Sprache doch überraschte. Nachdenklich musterte ich ihn, versuchte irgendetwas in seinem Gesicht zu lesen, was mir helfen könnte, die Ambition dieser Frage zu verstehen. Bisher ist es mir nicht oft vorgekommen, dass sich jemand für mich interessierte. Besser gesagt, dass man auch so mit der Tür ins Haus fiel. Daher war ich sozusagen ... sprachlos. Ich, als völlig zugedröhnter Polizist brachte so gut wie kein Wort raus.

„Bayern", sagte ich schließlich irgendwann. „In der Nähe von Passau", fügte ich noch hinzu, da Bayern an sich oft ein missverstandener Begriff war. Sprach man von Bayern, mussten die Ostdeutschen an München, oder Nürnberg denken. Nicht an das eigentliche, richtige Bayern. Der Teil von Bayern, der aus mehr Kühe bestand als aus Menschen. Die Bäume dschungelmäßig ins ewige nichts führen konnten, falls man sich nicht auskannte.

„Durch Passau bin ich schon paar Mal durchgefahren. Bin öfters in Wien", merkte Till an. Sein Blick versuchte meinen Augen auszuweichen, was mich regelrecht verrückt machte. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn man mich nicht während einer Konversation ansah. Vermutlich lag dies an meine Erfahrungen während Verhörgespräche. Als ich jedoch Wien hörte, wurde ich hellhörig. Was würde ein gebürtiger Ostdeutscher wohl in Österreich wollen? Die Jahreskarte im Mozart-Haus abstempeln lassen? Einfach Ferien verbringen? Aber wäre die Ostsee nicht viel sinnvoller bei so einem Fall?
Nun, Wien war schön. Wien war vielfältig. Wien lebte, auch wenn die Altstadt teilweise beängstigend wirkte. Wien war die Stadt der toten Künstler.

„Wie schon gesagt, ich komme nicht direkt aus Passau. Eher aus einem kleinen Dorf, ziemlich in der Nähe. Mein Vater hatte viele Pferde", erklärte ich. Auch wenn ich nicht gerne über ihn sprach, es gab zumindest paar Kleinigkeiten, die ich an meinem alten Herrn schätzte. Ein furchtbarer Vater, wahrscheinlich ein noch beschissenerer Ehemann. Aber ein Pferdemensch durch und durch. Die Pferde sind ein Heiligtum für ihn gewesen. Das was für andere alte Männer die Sportwägen sind, waren für meinen Vater die Pferde.

Erneut riss mich Tills angenehme Stimme aus dem Gedankenfluss. „Pferde, hm? Schöne Tiere. Ich komme ursprünglich aus Leipzig."
„Ach, deshalb so schlecht gelaunt."
Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, weswegen ich leise lachte.
„Tut mir leid, musste sein."

Ach ja, das schöne Vorurteil des miesgelaunten Ostdeutschen begleitete mich schon seit Langem. Schon in meiner Kindheit hat sich mein Vater stets über die DDR'ler beschwert und seit Mauerfall erst recht. Daher wollte ich gar nicht wissen, was ihre Klischees gegenüber uns waren. Beneidenswert sind die Untertanen der Sowjets nicht gewesen. Als Jugendlicher haben meine Klassenkameraden und ich uns gegenseitig Schauergeschichten erzählt, was jenseits der Mauer wohl geschah. Auch wenn natürlich das meiste nur kindischer Schwachsinn gewesen ist, haben mich die Erzählungen eigentlich schön von der Mauer ferngehalten.

„Was machst du hier in Berlin? Ist doch ziemlich weit weg von Bayern." Nun war es Till, der mich mit einer Mischung aus Neugierde, sowie Verwirrung ansah.

„Ich wohne, sowie arbeite hier. Zwar fühle ich mich nicht wie ein Berliner, aber ein Bayer bin ich auch schon seit Langem nicht mehr", antwortete ich schulterzuckend, nahm einen Schluck meines Glases. Die Kopfschmerzen verbesserten sich langsam, weswegen ich nur noch ein schwaches Pochen vernahm. Also nichts großartig Dramatisches.

Anstelle eines dummen Kommentars nickte Till. „Du fühlst dich also so, als ob du nirgends dazugehörst, kann das sein?"

Automatisch verspannte ich mich. Es war unangenehm, so befremdlich für mich, darüber zu reden. Beinahe verstörender fand ich, wie er es so schnell herausfinden konnte. Oder besser gesagt, wie er so schnell auf diesen Rückschluss gekommen ist. Immerhin habe ich schon oft jemandem gesagt, dass ich mich weder als Bayer noch als Berliner fühle. Meistens wurde diese Aussage mit einem verwirrten „Hä?" kommentiert, bevor lautes Gelächter losgegangen ist. Natürlich habe ich immer mitgelacht. Einfach, damit es nicht seltsam rübergekommen wäre. Aber jetzt ... Ich war einfach sprachlos.

Seine blaugrünen Augen fokussierten mich, schienen sich durch meine Seele zu fressen. Er betrachtete mich so prüfend, als ob er nur darauf warten würde, sich auf meine Lüge zu stürzen und zu zerfleischen.

Schwer schluckte ich, sah schließlich wieder etwas sicherer in seine Augen. Unkontrolliert raste mein Herz, während die Hitze in meinen Kopf stieg. Wie mich eine eigentlich einfache Frage so sehr aus der Bahn werfen konnte ... Nun, seine schönen Seelenspiegel machten es mir auch nicht gerade leichter.

„Du scheinst dich damit ja auszukennen", gab ich daher als Antwort. Ich würde ihm bestimmt nicht mein Herz ausschütten, wahrscheinlich habe ich dies eh schon getan. Erneut bemerkte ich, wie sich meine Hände um das Glas verkrampften. Nur für eine Sekunde. Aber so intensiv, dass es sich anfühlte, als ob sich die Oberfläche in meine Hand brennen würde. Aber der Schmerz machte mir nichts aus. Es verzierten deutlich ältere, sowie tiefere Narben meinen Körper. Die meisten nicht sichtbar, tief in meiner Seele eingebrannt, wie eine Markierung, die mich immer wieder daran erinnerte, was in meinem Leben passiert ist. Man trug sie mit Stolz, wie ein Tiger seine Streifen, jedoch dachte man manchmal: Hat man sie wirklich verdient? Was hat man Falsches getan, um jene Wunden für immer in Erinnerung zu haben?

Seine Mundwinkel zuckten. Nun war es wieder, der dem Blick auswich. Wollte nicht angesehen, nicht beobachtet werden. Wollte nicht gelesen werden. Dabei war es für mich so einfach. Es war beinahe schon ein Kinderspiel, die Oberfläche seiner Psyche anzukratzen. Denn ich war nicht viel anders. Daher hat er mich also so schnell durchleuchten können. Netter Versuch, Till. Netter Versuch.

„Mag sein", antwortete er mit einem Schulterzucken nach einer Weile. Zu spät. Viel zu spät. Jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung von der menschlichen Psyche hatte, konnte ihn gerade lesen. Ich überlegte und entschloss mich, etwas in der aufgeplatzten Wunde zu stochern. Wie er auf den Schmerz wohl reagieren würde? Vielleicht war es unfair von mir, so auf ihn zuzugehen. Direkt mit einem Flammenwerfer auf seinen benzinübergossenen Körper. Vielleicht war dies die Polizisten-seite von mir. Die Seite, die einen Menschen mit all seinen Facetten durchleuchten wollte. Vor allem, wenn mich jemand interessierte. Vielleicht war dies aber auch meine menschliche Seite, die die Fähigkeiten nutzte, um mich selbst zu schützen. Zu schützen, erneut verletzt zu werden. Vielleicht war es daher nur menschlich, mich auf das verletzte Wesen zu stürzen.

„Es ist so. Ich bin Polizist, Lügen bringt nichts." Meine Stimme klang ungewollt kalt, als ob ich ihn am liebsten angeschnauzt hätte, aber doch zu höflich dafür war. Ich wusste nicht, weshalb. Ich war einfach nur müde und wollte schlafen. Das musste es bestimmt gewesen sein. Nicht die Tatsache, jemandem zu begegnen, dessen kaputte Seele – meine Seele - sich in ein paar meeresblauen Spiegel reflektierte. Ebenfalls etwas, das mich irritierte, aber gleichzeitig so anziehend für mich war: Ich konnte nicht genau sagen, was seine Augenfarbe war. Je nach Licht schienen sie entweder blau, grün, oder sogar manchmal grau sein. Allein das zeigte mir schon, was für ein interessanter Mann er doch war.

Er runzelte die Stirn, spannte seine massiven Muskeln an. „Bezeichne mich nicht so. Ich bin kein Lügner." Seine Stimme wurde immer leiser, bis er schließlich komplett verstummte. Dieses Mal sah er mich fest an, durchbohrte mich mit seinem Blick, als ob seine Augen Messer wären. „Ich bin alles, aber kein Lügner", fügte er hinzu, nahm einen Schluck seines Biers.

„Dennoch wolltest du mir nicht die Wahrheit sagen." Wieder griffen meine Finger nach einer Pommes, die schon kalt war, jedoch nicht weniger gut schmeckte. In Zeitlupe kaute ich auf dem frittierten Kartoffelstreifen, während ich Till nicht aus den Augen ließ.

„Ich schulde dir nicht die Wahrheit."

„Wo du Recht hast." Etwas zuckten meine Mundwinkel nach oben. Mittlerweile fühlte sich unser Gespräch eher wie ein Blickduell an. Wie bei Raubtieren: Wer zuerst den Kopf senkte, der gab seine Dominanz dem Gegenüber ab. Natürlich wollte ich hierbei nicht verlieren, fokussierte Till.

Irgendwann räusperte sich Till. „Höflichkeit liegt dir nicht sehr, nicht wahr?" Kurz entblößten sich seine Zähne dank des schiefen Grinsens, was ich nur zu gerne erwiderte. Die Grübchen auf seinem Gesicht machten ihn jedoch um einiges attraktiver, als ich je sein könnte.

Amüsiert wackelte ich mit den Augenbrauen. „Nein. Meine Spezialitäten verlagern sich eher auf andere Gebiete", summte ich gut gelaunt, während ich meine Cola endlich zu Ende trank.
„Mhm, welche denn?", wollte Till wissen, grinste dabei. Oh, er wusste, wovon ich sprach und schien darauf einzugehen. Das ließ mein kleines Herz doch gleich schneller in der Brust schlagen.

„Massieren zum Beispiel. Meine Finger können Wunder bewirken." Dabei zeigte ich meine Hand und tat mit den Fingern, als ob ich Klavier spielen würde, was ein raues Lachen dem Älteren entlockte.

„Dann solltest du ein Massagestudio eröffnen", meinte er grinsend, beugte sich etwas vor. Ich konnte seinen heißen Atem auf meinem Nacken fühlen, weswegen ich kurz nach Luft schnappte. Mein Herz raste auf einmal so schnell. Als ob etwas in mir gebröckelt ist und mein Organ wieder Platz zum Atmen hatte.

Kurze Frage: Wie stellt ihr euch eigentlich Anthony vor?
Habe eventuell vor, ihn mit Till mal zu malen. :)

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