Freitag, 9. Juni 1848
Mr. Gladstone führte mich heute zu einem Picknick aus.
Dolly muss ihm gesagt haben, wie sehr ich Pferde und das Reiten liebe, denn er holte mich zu Pferd ab und brachte mir eine prächtige Lichtfuchsstute deren Mähne und Schweif nahezu weiss waren, mit.
Sie hörte auf den schönen Namen White Widow.
Ich bereue es sehr, dass ich mein Skizzenbuch nicht dabei hatte, denn als wir nach Ravensden ritten, machte ich mir einige Gedanken um den schönen, aber ungewöhnlichen Namen meines Pferdes.
Ich versuchte, mir eine Witwe vorzustellen, mit Kleid und Haube und Trauerschleier, doch ganz in weiss. Da wurde mir klar, dass diese kleine, scheinbar unbedeutende Änderung der Farbe aus der Witwe eine Braut machte. Ich konnte nicht anders, als laut aufzulachen. Was Mr. Gladstone natürlich einigermassen verwirrte.
Auf seine Nachfrage hin kamen wir endlich ins Gespräch über die Malerei. Kaum zu glauben, dass es so lange gedauert hat, bis wir dazu kamen.
Mr. Gladstone hat eine gewisse Vorliebe für Rubens' Massenszenen wie den Kindermord in Bethlehem, obwohl er eigentlich nicht besonders religiös eingestellt ist. Er hatte bei einer Reise nach München Gelegenheit, einige Werke von Rubens in Natura zu sehen, worum ich ihn sehr beneide.
Er besitzt wohl auch eine kleine Sammlung kolorierter Kupferstich-Kopien von grossen Meistern, die er mir bei der nächsten Gelegenheit zeigen will. Ich kann es kaum erwarten! Ich hoffe, sie sind hochwertig.
Vater hat sich natürlich gefreut, dass die Unterhaltungen zwischen Mr. Gladstone und mir immer angeregter werden. Er scheint täglich darauf zu hoffen, dass Mr. Gladstone um seinen Segen bittet um mir einen Antrag machen zu können oder mich gleich bittet, ihn zu heiraten. Aber obwohl dieser - wie ich glaube - nicht abgeneigt ist, lässt er sich Zeit damit.
Ich selbst habe damit natürlich keine Probleme, aber ich merke, dass Vater zunehmend nervöser wird. Fast, als fürchtete er, innerhalb der nächsten zwei Monate das Zeitliche zu segnen und mich und Mutter mittellos zu hinterlassen. Dabei ist er bei ausnehmend guter Gesundheit. Und Dolly und Dean würden sich gewiss um Mutter kümmern, wenn sie erst verheiratet sind.
Dennoch besass Vater die Kühnheit, mir zu «mehr Offenheit» zu raten, als ich heute Abend nach Hause kam und schliesslich erzählte, dass Mr. Gladstone mir auch heute keinen Antrag gemacht hat und auch nichts derartiges hat verlauten lassen. Es müsse doch möglich sein, dass mein Kleid beim Reiten ein bisschen hochrutsche und den Blick auf meine Wade freigebe oder die obersten Knöpfe meiner Bluse «zufällig aufgingen».
Ich war so fassungslos, dass ich nicht einmal etwas erwidern konnte. Solche Dinge sagt er zu seiner Tochter, seinem eigenen Fleisch und Blut! Bin ich denn eine Hure, die sich jedem gleich für ein paar Pence an den Hals werfen muss?
Ich kann nicht glauben, dass er so etwas zu mir sagt und dann einfach weiter in seiner Zeitung liest, als wäre nichts gewesen.
Wie gut, dass Mutter das nicht gehört hat...
Vielleicht sollte ich mit Mr. Gladstone über die ganze Sache sprechen. Bestimmt wir er meine Situation verstehen, wenn ich sie ihm darlege.
Und Mutter sagte ja auch schon als ich und Dolly noch klein waren: «Ehrlich währt am längsten.»
Natürlich hat Vater mir auch nahegelegt, Mr. Gladstone als meine Begleitung zu Dollys Hochzeit einzuladen. Ich werde ihn also schon bald wiedersehen. Dann kann ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen. Ich muss nur sicher gehen, dass Vater nichts davon erfährt. Das wäre ihm wohl etwas zu viel «Offenheit»...
Vielleicht sollte ich Mr. Gladstone einfach unter der Woche an seinem Arbeitsplatz besuchen. Wir könnten zusammen zu Mittag essen. Alleine, ohne Mutter als Anstandsdame.
Sicher, es ist etwas forsch, aber das wird sicher zu verkraften sein. Schliesslich hat Vater mir doch selber dazu geraten und es dient es ja einem «guten Zweck»...
Leider hatte ich erst nach dem Abendessen Zeit, mich weiter mit der weissen Witwe zu beschäftigen.
Die Skizze gefällt mir noch nicht recht. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, welchen Gesichtsausdruck ich ihr geben will.
Natürlich, eine Witwe sollte nicht fröhlich aussehen, aber durch das weisse Kleid sieht sie ja aus wie eine Braut und Bräute sollten nicht traurig sein, auch wenn es wohl einige sind.
Wenn ich sie weinend male, werde ich erklären müssen, warum die Braut denn so traurig ist, male ich sie lachend...
Wem mache ich etwas vor? Egal wie ich es mache, das Bild wird nie für sich selber sprechen können.
Ich werde immer erklären müssen, dass es eben keine Braut, sondern eine Witwe ist, egal ob sie lächelt oder weint.
Vielleicht sollte ich das Bild nicht als Portrait auslegen, sondern als Szene. Die liegen mir ohnehin besser.
Ich könnte sie am Grab ihres verstorbenen Ehemannes trauern lassen und ihr zugleich den leibhaftigen Tod als neuen Bräutigam gegenüberstellen.
So könnte sie beides zugleich sein und ich müsste nichts mehr erklären.
Ich sollte das gleich skizzieren!
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