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Wer auch immer behauptet hatte, dass man nur so tun bräuchte, als ob die Dinge einem gehörten, hatte gelogen. Als ich mit der Kiste Stiefmütterchen aus dem Blumenladen marschiert war, hatte die verdammte Kassiererin mich aufgehalten.
„Wollen Sie wirklich die Polizei holen? Wegen ein paar Blumen?", fragte ich und zog die Augenbrauen hoch.
„Wenn es nur ein paar Blumen sind, können Sie die auch einfach bezahlen", erwiderte sie, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie war kleiner als ich, aber stabiler.
„Kann ich nicht. Ich habe nämlich kein Geld."
„Wenn Sie kein Geld haben, bekommen Sie auch keine Blumen." Sie streckte die Hand nach der Kiste aus und umfasste die Kante auf der einen Seite, während ich sie auf der anderen weiter festhielt.
„Ich brauche die für ein Grab."
„Tut mir leid."
„Kommen Sie schon."
Sie schüttelte den Kopf, um ihre Lippen war dieser strenge Ausdruck, den ich von meiner Mutter kannte.
„Es ist für das Grab meiner Eltern."
„Das kann jeder sagen." Sie zog einmal kräftig und ich ließ die Kiste durch meine Finger gleiten. Meine Mutter würde bestimmt genauso schauen wie sie, wenn sie wüsste, dass ich mein letztes Geld versoffen hatte. Dass ich das Geld, das eigentlich ihr Geld hätte sein sollen, versoffen hatte und ihnen nicht mal verdammte Blumen für ihr Grab kaufen konnte. Armselig.
„Alles klar", sagte ich, schob die Hände in meine Hosentaschen und drehte mich um. Ich zog mir die Kapuze auf den Kopf und schlurfte die Straße runter.
Ich kam an einem Dönerladen vorbei, der eine Aushilfe suchte und schob die Tür auf. Ein Glöckchen klingelte, dann schlug mir der Geruch von Dönerfleisch und Fett entgegen.
„Almans brauchen wir hier nicht, komm wieder wenn du Döner essen willst", schickte der Inhaber mich davon.
Okay, cool.
Ich trat wieder auf die Straße und setzte meinen Weg fort. Lief zum Heim statt zum Friedhof, denn dort konnte ich auch ohne Blumen aufkreuzen. Ich fand Marek in seinem Zimmer.
„Ey, was geht", sagte ich und begrüßte ihn mit einem Handschlag, ehe ich mich auf das Bett seines Zimmernachbarn setzte, der ausgeflogen war.
„Nix, wie immer", sagte Marek und legte den Comic beiseite, in dem er gelesen hatte.
„Läuft", sagte ich und nickte. „Hast du Kohle übrig?"
„Sollte nicht eigentlich ich dich das fragen?", lachte Marek und setzte sich an die Bettkante. „Du bist jetzt der Erwachsene in der Familie."
„Ich bin alles, aber nicht erwachsen", lachte ich.
„Wofür brauchst du die Kohle denn? Ich geb dir nichts für Drogen."
„Nee." Ich schüttelte den Kopf. „Ich will Blumen kaufen. Für Mamas und Papas Grab."
„Und wieso hast du nichts?"
„Wieso wohl? Weil ich alles für Drogen ausgegeben habe, das war dir doch eh klar."
„Ja, aber ich will's eben aus deinem Mund hören. Vielleicht kommst du irgendwann mal auf die Idee, dass das dumm ist."
„Weiß ich schon", sagte ich und schaute ihn auffordernd an.
„Ich hab noch was", sagte er und dann verbrachten wir Quality time zusammen oder so. Wie andere Familien, die zusammen den zwanzig Uhr fünfzehn Film im Fernsehen schauten, gingen wir zurück in den Blumenladen, Marek legte der dummen Kuh das Geld hin und ich nahm die Kiste mit den Stiefmütterchen mit. Ich trug sie zum Grab unserer Eltern, wo wir eine kleine Schaufel hinter dem Grabstein hervorholten, die alten, von Schnecken zerfressenen Pflanzen ausbuddelten und die frischen in die Erde setzten. Mit den Fingern drückte ich die lockere Erde fest, während Marek eine leere Bierflasche, die wir ebenfalls hinter dem Stein aufbewahrten, mit Wasser auffüllte und anschließend die Blumen damit goss.
Wenn Marek dabei war, redete ich nicht mit meinen Eltern. Er auch nicht. Keine Ahnung, ob er es tat, wenn er alleine war.
„Hast du Aleyna mal hier getroffen?", fragte ich.
„Nein", sagte er.
„Ich auch nicht."
Vielleicht gefiel ihr ihre neue Familie so gut, dass sie ihre alte einfach vergaß. Wenn's um mich ging, konnte ich das verstehen. Sogar bei Marek noch. Aber unsere Eltern waren gute Menschen gewesen, die verdienten das nicht. Die hatten nichts hiervon verdient.
Es gab ein Autokino am Rande unserer Stadt. Von einem Baum hinter dem abgenutzten Maschendrahtzaun aus konnte man den Großteil der Leinwand sehen und wenn man mit dem Handyradio die richtige Frequenz fand, auch den Ton hören. Mit Cola und Popcorn aus dem Discounter saßen Marek und ich auf zwei Ästen und lehnten an dem dicken Stamm in der Mitte. Was für einen Film wir gerade schauten hatte ich noch nicht feststellen könne, denn die tiefstehende Sonne schwächte die Farben auf der Leinwand und der Lärm der Straße nicht weit von uns übertönte fast den Sound aus den schwachen Handylautsprechern. Eigentlich war's echt nicht geil.
„Hast du 'ne Ahnung worum's da geht?", fragte ich.
„Ich glaub es geht um eine Frau."
Ging es nicht immer um eine Frau?
„Hm." Ich schob mir eine Hand voll Popcorn in den Mund und reichte Marek die Tüte, als er seine Hand danach ausstreckte. Ich nahm die Cola von ihm entgegen, trank ein paar Schlucke. Die Kohlensäure ließ mich aufstoßen.
Wenn unsere Eltern noch leben würden, hätte ich bestimmt schon meinen Führerschein gemacht. Hätte ein Auto zum achtzehnten bekommen, irgendso'ne gebrauchte Karre, Kleinwagen, scheiß egal. Und dann könnte ich jetzt da vorne parken, mehr als einzelne Silhouetten auf der Leinwand erkennen und hören, was die Schauspieler zu sagen hatten. Dann könnte ich jetzt auch irgendein Mädchen oder irgendeinen Kerl bei mir haben und Händchen halten. Könnte sie oder ihn mit nach Hause nehmen, wo wir uns ins Bett legen und hoffen konnten, dass meine Eltern nicht reinplatzten.
Stattdessen saß ich mit Marek auf diesem verdammt ungemütlichen Baum und würde heute Abend alleine zu Aurel gehen, zu dem ich niemals jemanden mit hinnehmen würde.
„Ey."
„Hm?" Marek wandte den Blick nicht von der Leinwand ab und steckte sich einzelne Popcorn in den Mund.
„Was glaubst du würden Mama und Papa zu uns sagen?"
„Wenn sie noch leben würden?"
„Wenn sie wüssten wie wir ohne sie leben."
Jetzt schaute er mich doch an, sein Blick war ernst.
„Sie würden dir sagen, dass du aufhören sollst Drogen zu nehmen. Mama würde sagen, dass dein Leben viel zu wertvoll ist, um es einfach wegzuwerfen und dass du alles erreichen kannst. Egal wie hart es erscheint."
„Denkst du, sie hätte Recht?"
Marek atmete tief ein und ließ die Luft aus seinen Nasenlöchern entweichen. Er schaute wieder nach vorne und kniff die Augen zusammen.
„Keine Ahnung. Aber du versuchst ja nicht mal sie stolz zu machen."
Die Enttäuschung klang nicht in seiner Stimme mit, sie vibrierte in meinem Herzen. Nein, ich versuchte es nicht. Kein bisschen. Hoffte, dass sie nicht mitbekamen, wie ich Antworten am Flaschenboden suchte, die längst ertrunken wären.
„Ich weiß nicht wie."
„Weißt du wohl."
Ich trank einen Schluck Cola.
„Vielleicht hätte ich auch angefangen Drogen zu nehmen, wenn sie nie gestorben wären. Viele Leute nehmen Drogen."
Marek schaute mich an und hob eine Augenbraue.
„Tessa nimmt Drogen."
„Deine ehemals beste Freundin Tessa?"
„Ja. Und ihre Eltern sind nicht gestorben."
Sein Blick ruhte einen Moment auf mir, dann schaute er wieder nach vorne und griff in die Tüte.
„Wenn du denkst, dass das gut so ist."
Nein. Aber was war besser?
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