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Kiffen war keine gute Idee gewesen. War mir vorher schlecht gewesen, war mir jetzt kotzübel.

Ich hing auf Jonahs Couch herum, einen Controller in der Hand und Need for Speed auf dem Fernseher vor uns. Ansonsten war es dunkel hier drinnen, obwohl es draußen schon lange hell oder vielleicht auch schon wieder dunkel war. Keine Ahnung wie spät es war, aber ich wollte es auch gar nicht wissen. Ich wusste nur, dass heute ein scheiß Tag war, das reichte schon.

Jonah baute sich noch einen, aber ich rauchte nicht mit. Aß nichts von der Pizza, die er bestellte und antwortete auf jede seiner Fragen nur mit „hm". Keinen Bock über die Mutprobe oder die Bullen zu reden. Oder über Aurel.

„Es war schon cool mit ihm", laberte Jonah einfach weiter, den Blick auf den Fernseher gerichtet.

„Hm."

„Hatte er eigentlich Schiss? Oder fand er das echt einfach bescheuert?"

„Hm."

„Würd mich ja echt mal interessieren."

Halt doch die Fresse.


Es war tatsächlich schon dunkel, als ich mich verpisste. Die verfluchte Einsamkeit in meinem Inneren auch auf meine Umgebung übertrug und durch die düsteren Straßen zog. Scheiß E's, scheiß Chemiekater. Mit Herzschmerz umgehen war so viel schwerer als mit Kopfschmerzen.

Die Hände in den Hosentaschen kickte ich eine leere Coladose zur Seite. Sah Menschen, die in ihr Auto stiegen, die Hand in Hand mit einem anderen Menschen die Straße hinunterliefen, die zusammen lachten, die Wohnungstüren aufschlossen. Menschen, die was hatten. Etwas oder jemanden. Sah Menschen, die noch weniger hatten als ich. Den Obdachlosen unter der Brücke, der auf einem Haufen ausgebreiteter Zeitungen schlief zum Beispiel. Er war seit Jahren fast jede Nacht hier. Ich ging an ihm vorüber und setzte meinen ziellosen Weg fort.

War das wirklich, was ich wollte? Mich auf die Gunst eines Kleindealers verlassen, dessen Freundschaft jede Menge Stress versprach? Meine Zeit mit einem Kerl verschwenden, der nicht weniger abgestürzt war als ich?

Und wenn ich das nicht wollte? Was wäre die Alternative? Gab es überhaupt eine?

Ich bog um eine Ecke und schob mich an einer Gruppe Kerle vorbei, die mir entgegenkamen.

Vielleicht war dieser Schulbesuch, den die vom Amt mir aufs Auge gedrückt hatten, doch irgendwie 'ne Chance. Irgendwas musste ich machen, wenn ich die Waisenrente weiter haben wollte, hatten die gesagt. Und weil ich nichts hatte, war Schulabschluss wohl das naheliegendste.


Die Haupttore des Friedhofs waren verschlossen, aber niemand machte sich die Mühe auch die Seiteneingänge zu schließen. Ich trat von den Laternen auf dem Parkplatz in die Dunkelheit und folgte den Abbiegungen, die ich in verdammt noch mal jedem Zustand richtig nehmen würde.

Es war zu dunkel, um die Inschrift auf dem Grabstein zu lesen. Um die bunten Blumen zu erkennen, die auf dem Grab wuchsen. Das wenige, das ich erkennen konnte, war grau und farblos, die ganze Welt war heute grau und farblos.

Es war total bescheuert mit Toten zu reden. Die konnten einen eh nicht mehr hören, immerhin hatten die entweder Erde in den Ohren oder besaßen überhaupt keine Ohren mehr, weil irgendwelche Würmer oder Maden sie aufgefressen hatten.

„Hey", sagte ich, schaute auf den Grabstein und richtete mein Blick dann in den wolkenverhangenen Himmel. Grau und farblos. „Was geht bei euch? Alles entspannt im Himmel?" Ich spürte Tränen in meinen Augenwinkeln brennen und schluckte sie runter. Schaute wieder auf den Grabstein. „War übrigens nicht nett, dass ich nichts zum achtzehnten bekommen habe. Andere Eltern schenken ihren Kindern ein Auto."

Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte mein Herz und die Tränen kamen wieder auf.

„Sorry, das war bescheuert. War nicht so gemeint", murmelte ich und zog die Nase hoch. „Ich dachte nur ... Keine Ahnung, solltet ihr nicht noch da sein? Und mich von diesem ganzen Scheiß abhalten, den ich die ganze Zeit abziehe?"

Hausarrest fürs besoffen nach Hause kommen klang eigentlich ganz geil. Oder Spülmaschine ausräumen fürs Schule schwänzen.

„Ich hab Tessa getroffen. Ich frag mich was du heute von ihr denken würdest, Mama. Aber wahrscheinlich fändest du sie immer noch gut."

Was sie wohl von Daniel denken würde? Wahrscheinlich würde sie sich Sorgen machen, wenn ich mit ihm unterwegs war. Weil es oft genug mit dem absoluten Absturz endete.

Ich richtete den Blick wieder zum Himmel. Vielleicht stimmte es ja wirklich, dass die Toten über uns wachten und uns zusahen wie wir unser Leben führten. Hoffentlich aber nicht. Meine Mutter musste wirklich nicht mitansehen wie ich die Grenzen meiner Leber austestete, wenn's sonst schon keine Grenzen in meinem Leben gab.


Ich ließ meinen Blick über die beleuchteten und unbeleuchteten Fenster gleiten, während ich durch die Straßen lief und Aurels Wohnung ansteuerte. Könnte ich auch einfach eine von ihnen besichtigen? Einfach einen Termin ausmachen und einen Mitvertrag unterschreiben? Keine Ahnung wie dieser Scheiß funktionierte.

Als mich die Sozialarbeiterin ins Heim gebracht hatte, hatte sie gesagt man würde sich um mich kümmern. Aber erklärt hatten sie mir nichts und jetzt erwarteten sie, dass ich wusste wie das Leben funktionierte. Dass ich mit 18 plötzlich über die Fähigkeiten verfügte mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ihnen war ja sogar egal wo ich schlief. Bis zu meinem Geburtstag hatte ich mich bei jedem Ausgang abmelden müssen und jetzt setzten sie mich auf die Straße. Vielleicht hatte mein Mathelehrer doch recht gehabt und Zahlen hatten 'ne verdammt große Relevanz für unser Leben.


Aurel ließ mich rein, als ich gegen seine Wohnungstür klopfte.

„War 'ne scheiß Aktion gestern", sagte er und lief vor mir ins Wohnzimmer.

„Was?"

„Wir sind zusammen feiern gegangen und dann schießt du dich lieber mit Vero ab als mit mir."

Ich verdrehte die Augen und setzte mich neben ihm auf die Couch. Auf dem Fernseher lief eine Sitcom, auf dem Tisch lag ein leerer Pizzakarton.

„Weißt du, was 'ne viel beschissenere Aktion war?" Ich schaute ihn an und er hob die Augenbrauen. „Dass du ihm gesteckt hast, dass ich bei dir penne."

„Ach, komm schon."

„Nee, nichts komm schon. Mir ist die Rotte wichtig und ich mag mein Gesicht auch ganz gerne so wie es ist. Keinen Bock auf die Fresse zu kriegen, weil ich mich mit dem Feind verbünde oder sowas."

„Sieht Vero mich so? Als Feind?", grinste Aurel.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Glaub nicht, keine Ahnung. Aber trotzdem."

„Ich würde mich echt geehrt fühlen."

Ich seufzte.

„Ach komm, Janko, ich werde vor dem Hurensohn bestimmt nicht unsere Freundschaft verleugnen. Wenn der jemandem auf die Fresse haut bin ich das, mach dir mal keine Sorgen."

„Wie loyal von dir", murmelte ich sarkastisch.

Aurel stand auf und ließ mich allein mit der dämlichen Sitcom zurück. Er verschwand in der Küche, tat irgendwas, ein lautes Surren erklang. Kurz darauf kam er mit zwei Gläsern wieder, in denen gläserne Strohhalme in einer pinken Flüssigkeit steckten.

„Hier, trink, das hilft gegen den Kater", sagte er.

„Danke." Ich nahm den Smoothie entgegen und saugte ein wenig in meinen Mund, schmeckte die Süße von Früchten auf der Zunge. Wenn doch nur alle Lösungen so süß schmecken würden.

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