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Daniel schaute mich von der Seite an, als ich die Flasche an die Lippen setzte und ein paar Schlucke meine Kehle hinunterlaufen ließ. Nebeneinander liefen wir inmitten der Rotte, die Vero durchs verlassene Industriegebiet folgte.

„Was?", fragte ich. Plötzlich sah er doch irgendwie besorgt aus.

Er schüttelte den Kopf und schob die Hände in die Hosentaschen.

Ich wusste, was er dachte. Würde nicht besser werden, wenn ich nicht nur absolut abgedichtet sondern auch noch voll war, aber wie sollte ich das verfickte Flasche sonst auf den Kran hochkriegen ohne was zu verschütten?

Mit fünfzehn Leuten stiegen wir in die U-Bahn. Elf Kerle, vier Mädels. Auch Aram war dabei, der seit dem folgenschweren Tag vor drei Jahren an Krücken ging.

Als die Bahn losfuhr, zog sie mir den Boden unter den Füßen weg und legte mich beinahe im Gang auf die Fresse. Schwungvoll stolperte ich gegen Vero, der seine Hand an einer Stange verankert hatte und mich aufhielt wie eine Felswand.

„Na na", grinste er und schaute mir amüsiert in die Augen. Manchmal mochte ich seinen Blick, manchmal nicht. Er vermittelte einem das Gefühl von Heimat, während da gleichzeitig diese stählerne Härte war, die Schmerzen versprach.

Ich löste mich von ihm.

„Ich hoffe, du hast nichts verschüttet", sagte Vero und senkte den Blick auf die Flasche in meiner Hand.

Fuck, fuck, fuck. Schnell schaute ich ebenfalls an mir runter, schaute auf die Flasche, auf meine Klamotten, meine Hand. War irgendwo irgendwas Feuchtes?

„Wir werden's erst sicher wissen, wenn ich das Filmmaterial ausgewertet habe", meinte Vero und ich schluckte. Es konnte sein, dass ich auf diesen verfluchten Kran kletterte und mein Leben riskierte und jetzt schon verloren hatte.

Daniel packte mich und zog mich an sich heran. Er legte die Arme um mich und hielt mich fest, als die Bahn stoppte und wieder losfuhr, während die Lichter und Farben mal mehr und mal weniger verwischt waren.

„Er hat nur gesagt, du darfst nichts verschütten, oder?", sagte er, als wir die Treppen zur Innenstadt hochstiegen.

„Ja", meinte ich, eine Hand am Geländer. Mir war schon wieder so verdammt schlecht.

Daniel nahm mir die Wodkaflasche aus der Hand, setzte sie an die Lippen und kippte ein paar Schlucke runter. Holte Luft. Trank noch ein paar.

„Ey, was machs'n da?", murmelte ich und versuchte seine zitternde Silhouette mit meinem Blick zu fixieren.

„Wonach siehts'n aus?", fragte er und schaute mich an, ehe er die Flasche ein weiteres Mal ansetzte.

Irgendwas daran war nicht gut, aber keine Ahnung was. Ich stolperte über eine Stufe, die aus dem Nichts auftauchte und fand mich plötzlich mit den Händen auf den schmutzigen Steinen wieder. Mein Knie schmerzte.

Scheiße.

„Das wär's gewesen", meinte Daniel und drückte mir die Flasche wieder in die Hand, als ich mich aufgerichtet hatte. Ich hielt sie gegens Licht der Straßenlaternen. Sie war vielleicht noch halb voll.


An einem Bauzaun in einer Nebenstraße blieben wir stehen. In einem Halbkreis versammelten die anderen sich um mich, in meinem Rücken war die Baustelle mit dem Kran.

„Viel Glück", sagte Vero. Er nahm von Lilja einen Seitenschneider entgegen, durchtrennte eine Kette am Zaun und hob ihn aus seiner Verankerung.

Ich schaute zu Daniel, der in letzter Reihe stand und an einem Auto lehnte. Ich glaube er versuchte sich an einem Lächeln, aber so genau konnte ich das nicht erkennen. Ich senkte meinen Blick auf die Wodkaflasche in meiner Hand, die dank ihm noch einiges an Inhalt verloren hatte, dann drehte ich mich um und kletterte durch den Zaun.

Wo war der Kran nochmal?

Ich hob den Blick und schwankte zur Seite, während ich den Himmel absuchte. Da war er. Und er war verdammt hoch.

Scheiße.

Ich bahnte mir meinen Weg durch die düstere Baustelle, stolperte vorwärts und blieb am Fuße des Krans stehen. Legte erneut den Kopf in den Nacken und schaute die endlose Strecke an, die noch vor mir lag.

Fuck. Das war der beschissenste Geburtstag, den ich je gehabt hatte. Dabei hatte ich meinen sechzehnten damit verbracht Klos zu putzen und das war keine Freude gewesen. Nicht bei dem Essen, dass es im Heim gegeben hatte und dass jedem auf den Magen geschlagen war. Und trotzdem war das hier schlimmer als die Durchfallspritzer irgendwelcher Wichser vom Porzellan zu schrubben.

Ich atmete durch und nahm einen tiefen Schluck aus dem Wodka. Einfach durchziehen, ich würde das schaffen.

Mein Magen grummelte.

Keine Angst, Alter. Angst ist nur in deinem Kopf.

Ich nahm noch einen Schluck und das Grummeln wurde zu einem Schmerz. Krampfhaft zog mein Magen sich zusammen und ich konnte mich gerade noch vorbeugen, ehe ein Schwall Kotze aus meinem Mund schoss und sich zu meinen Füßen auf dem plattgewalzten Lehmboden verteilte. Schwankend tastete ich nach etwas, an dem ich mich festhalten konnte, und hielt schnell die Flasche aufrecht.

Ich musste es jetzt durchziehen. Keine Ahnung wie lange ich mich noch auf den Beinen halten konnte. Jetzt oder nie.

Ich richtete mich auf und umklammerte die Flasche mit festem Griff. Versuchte das Zittern meiner Finger zu unterdrücken, während ich zu der schmalen, gelben Leiter hinübertaumelte. Ich wünschte mir eine Jacke, irgendwas mit großen Innentaschen, in der ich die Flasche verstauen konnte. Aber ich hatte keine. Nichts dabei in dieser heißen Sommernacht.

Mit der linken Hand drückte ich die Flasche an meinen Körper, mit der rechten Griff ich an das Metall der Leiter. Ich musste es schaffen. Ich musste. Wer wäre ich ohne die Rotte?

Ich hielt mich fest und stellte den Fuß auf die erste Sprosse. Dann den zweiten. Mit meinem Arm zog ich mich nach oben und stieg höher, dann kam der schwierige Teil. Wie bekam ich meine Hand an die nächste Sprosse?

Die Leiter verschwamm vor meinen Augen und schwankte unter meinen Füßen. Oder schwankte ich? Scheiße, keine Ahnung.

Ich lehnte mich vor und griff mit der Linken an den Rahmen, drückte die Flasche fest gegen mich. Okay, so ging's. Jetzt hatte ich die Rechte frei, konnte weiter nach oben greifen und mich nachziehen. Erst die Hand, dann die Füße, dann die andere Hand.

Als mein Arm lahm wurde, schaute ich nach unten und blinzelte, damit mein Blick sich fokussierte.

Ohne Scheiß jetzt?

Der Boden war erst einen verfickten Meter oder was das war entfernt? Ich war ewig geklettert.

Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben, was Magen mir ziemlich übel nahm. Er krampfte sich zusammen und die Übelkeit kitzelte meine Speiseröhre.

Nicht kotzen. Bloß nicht kotzen. Der Kran erstreckte sich weiter in die Höhe, als ich erkennen konnte. Die Strecke wäre in meinem Zustand wahrscheinlich sogar zum Laufen zu weit, aber ich hatte keine Wahl. Ich musste es schaffen.

Linke Hand an die Leiter, Flasche sichern, Rechte lösen und weiter oben wieder zupacken. Meine Finger fühlten sich taub an, irgendwie wie Spaghetti, die niemals mein Gewicht halten könnten. Schweiß trat mir auf die Stirn und die Übelkeit schnürte meine Kehle zu.

Fuck, Mann.

Ich atmete tief durch, hörte meinen Atem in meinen Ohren zittern. Schmeckte säuerlichen Speichel an den Seiten meiner Zunge. Ich war noch nicht bereit zu sterben. Hätte mir Aurel nicht wie sonst auch seine minderwertige Rotze andrehen können, statt mir ausgerechnet heute gutes Gras zu geben? Mit dem üblichen Zeug hätte ich mich bestimmt nicht so weggeballert, das war nämlich gar nicht möglich.

Grelles Licht blendete mich und ich kniff die Augen zusammen. Die Flasche bewegte sich und mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich fester zugriff und sie am Fallen hinderte.

„Was machen Sie da?", erklang eine kräftige weibliche Stimme. Blinzelnd schaute ich in das helle Licht und die Frau senkte die Taschenlampe. Uniformen, blaue Uniformen. Ohne Scheiß, ich war noch nie so froh gewesen, die Bullen zu sehen.

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