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Zum wiederholten Mal drückte ich auf das Klingelschild mit dem Namen Kaiser-Scholz. Ein Knacken erklang aus der Gegensprechanlage, dann eine männliche, aber doch recht hohe Stimme.
„Ja?"
„Äh", sagte ich. Ja, was wollte ich denn? Wem machten Leute mit illegalen Knarren und Schulden freiwillig die Tür auf?
„Wer ist denn da?" Er klang ungeduldig und irgendwie genervt.
„Jo, ich bring deine Bestellung", sagte ich und räusperte mich, um meine Stimme beim nächsten Mal tiefer klingen zu lassen.
„Welche Bestellung? Ich hab nichts bestellt."
„Doch, doch. Dieses ... Dings. Kann ich jetzt hier nicht so laut sagen." Er hatte doch bestimmt noch mehr Dreck am Stecken.
„Verpiss dich."
„Ey, warte!", rief ich, aber er sagte nichts mehr. „Mach mal auf!" Die Gegensprechanlage blieb still. „Scheiße!" Ich boxte kräftig gegen den Türrahmen und drehte mich von der Tür weg. Ich brauchte diese verfickte Kohle, mein scheiß Leben hing davon ab. Zumindest fast. Mein lebenswertes Leben.
Gab es hier Balkone? Aber ich wusste eh nicht, welcher seiner war.
Ich trat ein paar Mal kräftig gegen die Tür, aber das Schloss gab nicht nach. Fuck! Ein paar mehr Informationen wären schon geil gewesen. Zum Beispiel wie ich mir überhaupt erstmal Zutritt zu diesem verfluchten Haus verschaffen sollte. Wie machten andere Kriminelle das?
Ich lief vor der Tür auf und ab und starrte sie immer wieder an. In jedem Film würde jetzt zufällig jemand rauskommen und ich könnte reinschlüpfen, aber es kam niemand. Ich klingelte nochmal bei Kaiser-Scholz, aber die Gegensprechanlage blieb stumm. Wahrscheinlich war ihm schon klar, was ich wollte. Ich ließ meinen Blick über die übrigen Klingelschilder gleiten, über die gesichtslosen Namen, und drückte auf Schmitz.
„Ja?", meldete sich ein Mann.
„Die Tür ist zugefallen, mein Schlüssel ist noch oben", sagte ich und gleich darauf erklang der Summer. Schnell drückte ich die Haustür auf und trat in den dunklen Flur. Tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, fand ihn, und eine flimmernde Deckenlampe erwachte zum Leben. Mein Blick glitt über die hellen Holztüren, die den Flur besiedelten und genauso gesichtslos waren wie die Namensschilder draußen. Gesichtslos und Namenslos, denn auf den Klingeln waren nur Klingelsymbole abgebildet und keine Namen angeschrieben.
Fuck.
Sämtliche Filmproduzenten logen ebenfalls, denn dort klappten solche Aktionen immer problemlos. Hatte meine Deutschlehrerin vielleicht doch nicht ganz Unrecht gehabt, als sie gemeint hatte, aus Filmen würden wir nichts lernen.
Ich atmete meine Wut weg und hielt meine geballte Faust an meiner Seite. Hier drinnen zu randalieren würde mich wahrscheinlich eher weiter von meinem Ziel entfernen, als mich ihm näher zu bringen. Also tigerte ich durchs Haus, schaltete immer wieder das Flurlicht ein und fand doch nicht heraus in welcher der unzähligen Wohnungen Kaiser-Scholz mit der Waffe lebte. Leider hatte er kein kitschiges Schild an seiner Tür hängen, das er oder sein Kind im Kindergarten gebastelt hatte.
Mein Handy verriet mir, dass es inzwischen zwanzig vor Zehn war. Zu der Verabredung mit Tessa würde ich definitiv zu spät kommen, also öffnete ich Instagram und sagte Bescheid, dass ich noch was zu erledigen hatte, dann googelte ich erneut. Etwas Hilfreiches fand ich nicht, erinnerte mich aber an den Tipp vom ersten Mal, die Nachbarn zu fragen. Die wussten doch bestimmt in welcher Wohnung Kaiser-Scholz mit seiner Waffe lebte. Ich musste mir nur eine bessere Geschichte einfallen lassen, als bei meinem ersten Versuch.
Gefühlte zehn Minuten und vier Mal das Flurlicht wieder einschalten später klingelte ich an einer der unzähligen Türen im ersten Stock. Erneut war es ein Mann, der mir öffnete. Misstrauisch schaute er mir über die Schulter und dann wieder in mein Gesicht.
„Ja?", fragte er mürrisch. Sein Bizeps war so groß wie mein Oberschenkel und wurde von seinem schwarzen Tanktop ganz wunderbar in Szene gesetzt. Der Kopf war kahlrasiert.
„Entschuldigen Sie die späte Störung", murmelte ich mit gesenktem Blick und versuchte mich an das Gefühl zu erinnern, das ich verspürt hatte, als ich ins Heim gekommen war. Als ich das erste Mal vollkommen allein auf der Welt gewesen war.
„Was willste?", fragte der Kerl barsch und ich verspannte meine Gesichtsmuskeln, um traurig auszusehen.
„Ich suche meinen leiblichen Vater und –"
„Na, ich bin's nich'", erwiderte der Kerl und knallte mir die Tür vor der Nase zu.
Da war noch Luft nach oben oder er war einfach das falsche Publikum gewesen. Ich klingelte an einer Tür ein paar Schritte weiter und diesmal öffnete eine Frau. Das war eine bessere Voraussetzung.
„Guten Abend", nuschelte ich und zog die Nase hoch. Senkte den Blick auf den Boden, ohne ihr in die Augen zu schauen. „Bitte entschuldigen Sie die späte Störung, ich ..." Ich brach ab und räusperte mich. Kramte in meinem Herzen nach all der Trauer, die ich darin eingeschlossen und begossen hatte. Für irgendwas musste es ja gut sein so viel davon zu haben, dachte ich, und spürte einen unerwartet heftigen Stich in meiner Brust.
Ich würde niemals hier stehen, wären Mama und Papa mir nicht genommen worden. Ich würde die verfluchte Rotte nicht brauchen wären sie noch da. Hätte ich diese verdammte, unfaire Scheiße nie erlebt, würde ich sie jetzt auch nicht brauchen.
„Was ist denn los?", fragte die Frau und klang von vornherein viel einfühlsamer als der Mann eben.
„Wissen Sie, ich bin vor kurzem achtzehn geworden", murmelte ich und schaute sie aus großen Augen an. „Und jetzt ... Darf ich endlich meinen leiblichen Vater kennenlernen. Es sollte ein ganz besonderer Tag werden, ich hab schon so lange darauf gewartet." Das Stechen in meinem Herzen wurde stärker. „Aber er hat mich nicht reingelassen." Erneut zog ich die Nase hoch, diesmal lief sie wirklich.
Die Frau fasste sich ans Herz und zog mitleidig die Augenbrauen zusammen.
„Oh nein, du armer Junge", sagte sie bedrückt.
Ich nickte.
„Ja und wissen Sie ... Ich möchte nur einmal mit ihm reden. Nur einmal sehen wer mein Vater ist, verstehen Sie?"
„Natürlich." Sie nickte heftig.
„Wenn Sie mir vielleicht verraten könnten in welcher Wohnung er wohnt. Dann könnte ich es ja nochmal versuchen. Vielleicht lässt er mich ja doch rein, wenn er merkt, dass sein Sohn direkt vor seiner Tür steht." Ich versuchte Hoffnung in meinen Blick zu legen, aber da war keine in mir. Ich würde meinen Vater nie wieder sehen.
Die Frau nickte wieder.
„Wie heißt er denn?", fragte sie mit einem Lächeln.
„Sein Nachname ist Kaiser-Scholz. Den habe ich auch draußen auf dem Klingelschild gefunden."
Mein Herz klopfte schneller, als sie lächelte, einen Schlüssel von innen abzog und zu mir in den Flur trat. Scheiße, jetzt galt's. Ich folgte ihr in den zweiten Stock, wo sie mich zu einer Tür nahe der Treppe führte.
„Hier, das ist sie. Ich kenne ihn nicht besonders gut. Soll ich noch mit dir warten?"
„Nein, vielen Dank. Sie haben mir schon so sehr geholfen", erwiderte ich und versuchte mich an einem Lächeln, doch es blieb in meinem Herzen stecken. Genau da, wo der Schmerz sich ausbreitete. Ich wartete bis sie die Treppe wieder runter war und ich ihr Schloss hörte, dann drehte ich mich zu Kaiser-Scholz' Tür und amtete tief durch. Ballte meine Faust. Ich klopfte, statt zu klingeln und als er tatsächlich die Tür öffnete, hieb ich ihm mit aller Kraft meine Faust ins Gesicht, noch bevor ich richtig wusste, wie er aussah. Wie ein Sack Kartoffeln kippte er nach hinten um und prallte dumpf auf dem Boden auf.
Mein Herz raste, meine Atmung beschleunigte sich. Schnell schob ich die Tür ganz auf, stieg über ihn hinweg und zog ihn in seine Wohnung, ehe ich die Tür zuwarf.
Kaiser-Scholz war ein schmächtiger Mann mit dürren Armen und Beinen. Ohne seine Knarre konnte er mir nicht gefährlich werden.
Ich trat nochmal zu, damit er nicht so schnell wieder zu sich kam, und durchsuchte seine Taschen nach seinem Portemonnaie. Fand es in der Jacke an der Garderobe und erhielt sagenhafte vierzig Euro.
Was, wenn er nicht genug Geld da hatte? Fuck, Mann, fuck, das durfte nicht scheitern. Das durfte nicht alles umsonst gewesen sein.
Ich spürte die Tränen in meiner Nase und schmiss sein Portemonnaie in seine Fresse, ehe ich ins Wohnzimmer eilte und die Schubladen der Kommode herausriss. Ich schmiss alles auf den Boden und suchte in jedem Gefäß nach Geld, fand aber keines. Im Fernsehschrank war eine Playstation, aber keine Kohle.
Nein, das durfte nicht sein.
Ich stieß die nächste Tür auf und fand mich im Schlafzimmer wieder. Ein Schrank, ein Sekretär, ein Bett. Unterbettkommoden. Zuerst riss ich die Schranktüren auf und wischte sämtliche Klamotten zu Boden, zerwühlte den Haufen und fand kein Geld.
Der Sekretär war vollgestellt mit Stiftebechern und Stiften darin, jede Menge Papieren, Rechnungen und so'n Scheiß, unbenutzte Blöcke. Ein Tintenfass, ein Stempelkissen und Stempel. Alles auf den Boden, alles weg. Irgendwo hier musste Geld sein. Es musste einfach.
In der Schublade des Sekretärs fand ich ein Sparschwein aus Plastik. Man konnte es unten öffnen, aber ich legte es auf den Boden und zerschmetterte es mit einem gezielten Tritt. Mir fiel jede Menge Kleingeld entgegen, aber auch ein Haufen an Scheinen. Das waren zehn, zwanzig, vierzig, sechzig, fünfundsechzig, fünfundsiebzig. Hundertfünfundsiebzig. Damit hatte ich zweihundertfünfzehn. Ich steckte die Scheine ein und suchte die Ein- und Zwei-Euro Stücke zusammen. Kam auf zweiundsechzig und hatte damit zweihundertsiebenundsiebzig. Die Kupfermünzen und den Scheiß ließ ich liegen, da war eh nicht viel zu holen.
Der Kerl musste irgendwo noch zweihundert Euro haben. Irgendwo.
Ich schmiss die Matratze aus dem Bett und riss die Poster von der Wand, suchte in den Couchritzen und durchsuchte die Küchenschränke. Schaute sogar in die Töpfe und Pfannen, aber da war keine Kohle mehr. Kein bisschen.
Als ich die Küche wieder verlassen wollte, blickte ich in ein blutiges Gesicht. Das Adrenalin rauschte in meinen Ohren und Kaiser-Scholz' Stimme klang undeutlich.
„Was machen Sie hier?", murmelte er benommen und ich machte einen Satz auf ihn zu und packte ihn am Kragen.
„Ist hier noch mehr Kohle außer die in deinem verschissenen Sparschwein?", fuhr ich ihn an. Ich wollte nicht, dass Vero meine Fresse genauso zurichtete wie ich es mit seiner getan hatte. Ich wollte nicht versagen, wenigstens dieses Mal nicht. Wenn ich mein Leben in den Griff kriegen wollte, musste ich aufhören ständig nur zu versagen.
„Mehr hab ich nicht", murmelte er. Ein Pfropfen löste sich aus seiner Nase und das Blut blubberte daraus hervor. Ich verzog angewidert das Gesicht.
„Dann gib mir die Knarre zurück!", forderte ich und boxte ihm gegen die Schläfe, als er nicht sofort reagierte. „Wird's bald!", herrschte ich ihn an. Ich spürte meinen Herzschlag in meinen Fingern pulsieren.
„Sie ist im Bad! Im Bad!"
Wie in einem schlechten Film machte er sich daran die Abdeckung des Spülkastens abzunehmen, aber ich schubste ihn zur Seite. Nicht, dass er noch auf dumme Gedanken kam. Ich nahm das weiß-beige Plastikstück ab und sah die Pistole in einer Tüte im Wasser schwimmen.
„Das nächste Mal zahlst du sofort, klar?", blaffte ich, während ich meine Hand in das eklige Wasser steckte und die Tüte rauszog. „Ich war nie hier, verstanden?" Er nickte, aber ich packte ihn zur Sicherheit nochmal bei den Schultern und rammte ihm mein Knie so fest in den Magen, dass er sich zusammenkrümmte und zu Boden ging. Schnell befreite ich die Knarre aus der Tüte und hielt inne.
Wohin mit dem Teil? Ich schaute mich um, schaute an mir runter. Jetzt wäre 'ne Jacke mit Innentaschen geil, schon wieder. Ich sollte wirklich anfangen im Sommer Jacken zu tragen.
Ich schob mir die Knarre in den Hosenbund, zog mein T-Shirt drüber und warf Kaiser-Scholz einen letzten Blick zu, ehe ich aus der Wohnung rannte, die Wohnungstür hinter mir zuknallte und fast die Treppen runterfiel. Ich stieß die Haustür auf und rannte mit der Hand auf der Waffe den ganzen Weg bis zur nächsten U-Bahnstation, wo ich mein Handy rausholte und Veros Nummer wählte.
„Wir müssen und sofort treffen", hechelte ich, während der Schweiß mein T-Shirt durchnässte.
„Geschafft?", fragte er.
„Ja", sagte ich. Knarre zurück und Bonusgeld war genauso gut wie volle Bezahlung. Oder?
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