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Marek ging, um rechtzeitig zur Sperrstunde wieder im Heim zu sein. Für mich gab es keine Sperrstunde mehr. Ich konnte gehen, wohin ich wollte und machen, wonach mir war.

Und was wollte ich?

Mein Leben in den Griff kriegen wäre ein Anfang. Meine Eltern doch noch stolz machen und dafür sorgen, dass meine Mutter da oben über den Wolken nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlag. Ich warf einen kurzen Blick in den Himmel, während ich mit den Händen in den Hosentaschen die Straße runterlief. Dann zog ich mein Handy hervor.

Als ob Tessa kein Instagram hatte. Ich gab ihren Namen ein und tippte mich durch eine Menge Tessas, die sich alle ziemlich ähnlich sahen. #tessafilter oder so.

Den Blick fest auf den Bildschirm geheftet lief ich weiter und überquerte an der nächsten Kreuzung nach einem kurzen Blick die Straße, bog nach links ab.

Nicht meine Tessa, nirgends.

Ich rief Aurels Profil auf und tippte auf die Liste mit den Profilen, denen er folgte, statt mir seine Fitnessstudioselfies und die Bilder von seinem Vaporizer anzusehen. 811 Profile. Seufzend stieg ich bei der nächsten Möglichkeit in den Schacht zur U-Bahn runter, während ich scrollte. Und scrollte. Ich ließ mich auf der ersten Wartebank nieder, meine Augen klebten am Bildschirm. Ich scrollte immer noch, als die U-Bahn einfuhr, ich einstieg und mich auf einen Sitz in einem leeren Vierer fallen ließ.

nasevollkoks. Tessas verfickter Instagramname war nasevollkoks. Ihr scheiß Ernst?

Ich tippte ihr Profil an, aber es war auf privat gestellt. Ich sah nur ihr Profilbild, auf dem sie mit Jogginghose und Cappy wie ein echter Gangster breitbeinig auf einer Treppe saß. Was zum Fick. Aber ich war mir sicher, dass sie es war. Ich tippte auf Folgen und hob anschließend den Blick, um auf die Anzeigetafel zu schauen.


„Was geht?", fragte ich und schlug bei Vero ein.

„Nicht viel und bei dir?", erwiderte er und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Er lehnte an einem Straßenschild neben der U-Bahn, das Bein angewinkelt.

„Ich hab'n Anliegen."

„So?" Er hob fragend die Augenbrauen und schaute dann auf die Flamme des Feuerzeuges, das er an die Spitze seiner Zigarette hielt.

„Ich brauch Kohle."

„Und wie kann ich dir da helfen?"

„Kannst du mir 'nen Job besorgen, bitte?"

Er nahm die Kippe nach dem ersten Zug zwischen seinen Lippen weg und pustete den Rauch aus.

„Findest du nicht, du solltest erstmal deine Mutprobe bestehen und mir deine Loyalität unter Beweis stellen, bevor du mich um was bittest?"

„Dann sag mir was ich tun soll. Jetzt, ich bin bereit." Ich atmete tief ein und stieß die Luft ruckartig wieder aus. Nahm meine Schultern zurück. Jetzt war ein guter Moment, jetzt war ich nüchtern. Jeder Kran, der sich mir in den Weg stellte, würde bezwungen werden.

Vero schaute mich nachdenklich an und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Als er sie wieder sinken ließ, umspielte ein leichtes Lächeln seine Mundwinkel.

„Wie viel bist du bereit zu tun?"

„Ich tu alles."

„Ich hätte da was. Damit kannst du deine Mutprobe bestehen und dich gleichzeitig für einen Job qualifizieren. Nur eine Aktion für beides, aber es ist nicht ohne. Wie klingt das?"

Ich presste die Zähne aufeinander und nickte.

„Was immer es ist, ich mach's."

„Was immer es ist?", wiederholte er und grinste.

Ich nickte, mein Gesichtsausdruck blieb ernst.

„Okay." Er schaute sich um. „Komm mit."

Wenig später fand ich mich in Veros Wohnung wieder. Er bot mir ein Bier an, aber ich schüttelte den Kopf. Diesmal würde ich nicht denselben Fehler machen.

„Also schön", sagte Vero, während er sich auf die Couch rechts von mir sinken ließ. Seine Wohnung war großzügig, aber dunkel. Edle Möbel füllten die Fläche und es war sauber und ordentlich. Kein Staub auf dem dunklen Holztisch, keine Flecken auf den schwarzen Ledercouches mit den weißen Schaffellen. „Es gibt da einen Kerl, der mir einen ganzen Haufen Geld schuldet. Vierhundertfünfzig Euro. Geh zu ihm und besorg mir das Geld."

„Wofür ist das Geld?"

„Ich hab ihm eine Waffe verkauft." Er sagte das, als spräche er von Gras. Von einer Kleinigkeit.

„Er hat also 'ne Waffe und möchte nicht dafür zahlen?"

Vero lehnte sich vor und nickte.

Großartige Voraussetzungen.

„Machst du's?"

Ich schluckte. Eine Chance für die Mutprobe hatte ich schon versaut, das hier war meine zweite und letzte. Vielleicht hätte ich den Mund nicht so voll nehmen sollen, denn wer ablehnte, war raus. Noch eine Chance würde ich nicht bekommen.

Veros Blick ruhte auf mir.

Ich schluckte nochmal, dann nickte ich.


Seit einer Stunde lehnte ich unauffällig an einer Mauer gegenüber des Plattenbaus, in dem der Kerl wohnte. Er war Zuhause, er war seit einer Stunde Zuhause. In einer Wohnung mit seiner Waffe.

Scheiße.

Was war die beste Strategie? Wie ging man vor, wenn man Geld von Menschen mit Waffen eintreiben wollte, die keins abdrücken wollten? Die wahrscheinlich lieber den Trigger abdrückten.

Mein Herz schlug zu schnell. Mir war nicht schlecht, immerhin etwas, aber ich musste pissen. Hatte schon versucht hinter die Mauer zu pissen, aber es hatte nicht geklappt. Nicht ein Tropfen war rausgekommen, obwohl der Druck auf meine Blase sich unangenehm in mein Bewusstsein drängte.

Scheiße.

Wie sollte ich mit zitternden Fingern und voller Blase Kohle von einem Kerl mit einer Waffe fordern und bekommen?

Ich holte mein Handy raus und googelte Geld eintreiben. Ein Haufen Inkassounternehmen wurden mir vorgeschlagen, dann kamen 12 ultimative Tipps um Schulden privat einzutreiben. Ich tippte den Link an. Das Internet riet mir die Person in sozialen Netzwerken zu suchen, bei dem Nachbarn zu klingeln, Arbeitgeber und –kollegen aufmerksam zu machen und lauter weiteren Scheiß, der mir nichts brachte. Außerdem riet es mir keine Schläger zu engagieren. Tja, das war dann wohl ich. Vielleicht hätte ich mal öfter mit Aurel ins Fitnessstudio gehen sollen.

nasevollkoks folgt dir jetzt, verkündete mein Handy mir. Ich tippte auf die Benachrichtigung und Tessas Profil wurde mir angezeigt, diesmal konnte ich ihre Bilder sehen. Bilder von Partys, von Drogen, von ihr. Von einem Leben das nichts mehr mit dem Mädchen gemein hatte, das sie mit dreizehn gewesen war.

Ich likte ein paar ihrer Bilder und schickte ihr eine private Nachricht.

Nase voll koks, ja?, schrieb ich und setzte einen lachenden Smiley dahinter, ehe ich abschickte, das Handy sperrte und mich wieder dem Plattenbau gegenüber sah. Tja. Tessa ausfindig zu machen war nicht halb so schwer gewesen wie das hier.

Mein Handy vibrierte und ich hob es vors Gesicht.

Immer, hatte Tessa mit einem ebenfalls lachenden Smiley geantwortet.

Wir wollten was trinken gehen, schrieb ich.

Ich hab zeit

Heute war gut. Wenn ich nachher noch lebte.

Wann und wo?, fragte ich.

Um 10 am bahnhof

Etwas mehr als eine Stunde sollte reichen, um diesem Wichser sein Geld abzunehmen. Oder?

Alles klar

Erneut sperrte ich mein Handy und diesmal steckte ich es weg. Ich hatte lange genug hier herumgestanden. Ich würde da jetzt reingehen, dem Kerl aufs Maul hauen und mir Veros Geld holen, bevor er überhaupt eine Chance hatte, seine Knarre zu ziehen.

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